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FORSCHUNG/847: Paläontologie - Der Untergang der Höhlenbären (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 7/08 - Juli 2008

PALÄONTOLOGIE
Der Untergang der Höhlenbären

Dass der moderne Mensch die gigantischen Bären in Europa vor 30.000 Jahren noch antraf, bezeugen Bilder in der Chauvet-Höhle in Südfrankreich. Dort hinterließen die Tiere auch direkte Spuren ihres Aufenthalts - einschließlich zahlreicher Skelette, die teils sogar noch DNA enthalten. Diese Funde geben heute Aufschluss über ihr Aussterben.

Von Jean-Marc Elalouf und Valérie Féruglio


AUF EINEN BLICK
Allmähliches Aussterben

1. Der Höhlenbär, Ursus spelaeus, war kein Vorfahr des Braunbären. Er entstand vor rund 300.000 Jahren, lebte in Europa und in angrenzenden Gebieten Asiens und starb vor spätestens 15.000 Jahren aus.

2. Die in den 1990er Jahren entdeckte Chauvet-Höhle in Südfrankreich bietet in vieler Hinsicht reiches Forschungsmaterial zu dem riesigen Pelztier. Einerseits überwinterten diese Bären darin, andererseits malten Menschen dort vor 30.000 Jahren von ihnen detailgetreue Bilder an die Wände.

3. Noch ist nicht klar, warum die Höhlenbären bald darauf verschwanden. Menschliches Zutun dürfte hierzu nur marginal beigetragen haben, denn schon damals war ihre genetische Vielfalt sehr gering. Vielleicht wurde ihnen schließlich ihre besondere Lebensweise zum Verhängnis.


Als der moderne Mensch vor 40.000 Jahren nach Europa kam, lagen weite Bereiche des Kontinents unter Eismassen begraben. In Südfrankreich reichten die Alpengletscher damals bis ins Gebiet von Lyon. Viele der großen eiszeitlichen Tierarten sind heute ausgestorben. Manche von ihnen gab es noch, als diese Kaltzeit vor gut 11.000 Jahren zu Ende ging. Die letzten Mammuts etwa lebten im Norden Sibiriens noch ein paar tausend Jahre lang. Auerochsen, von denen die Hausrinder abstammen, kamen hier zu Lande sogar noch im Mittelalter vor: Der letzte Ur verstarb im frühen 17. Jahrhundert in Osteuropa. Aber andere große Säugetiere verschwanden schon während oder vor dem Ende der letzten Vereisung - ebenfalls die Höhlenhyäne und der Höhlenbär.

Wohl jeder hat schon von dem riesigen Bären namens Ursus spelaeus (nach griechisch spelaion: "Höhle") gehört, hat vielleicht eine der auch in Deutschland und im Alpengebiet zahlreichen "Bärenhöhlen" besucht, eines seiner Skelette oder eine Nachbildung der Kolosse bestaunt. Wegen der großen Knochen sprach der Volksmund früher gern von Drachenhöhlen. Das spektakulärste, für Wissenschaftler wohl bisher aufschlussreichste solche Naturmuseum dürfte die erst 1994 entdeckte Grotte Chauvet im Tal der Ardèche in Südfrankreich darstellen, deren zahlreiche steinzeitliche Felsmalereien Aufsehen erregten. Prähistorische Künstler haben das Tier dort vor 30.000 Jahren an die Wände und Decken gezeichnet.

Als Teil einer Ansammlung von 420 Tierbildern haben sich 13 Darstellungen dieses Bären erhalten. Dass er sich auch selbst im Innern der verzweigten Höhle aufhielt, belegen zahlreiche Spuren und Hinterlassenschaften. Dazu zählen mindestens 4000 Knochen von ungefähr 200 Höhlenbären, die teils sogar noch DNA-Reste enthalten.

Kein anderer bekannter Ort hält so viel Forschungsmaterial zu dieser Art bereit, deren Geschichte ein wenig der des Neandertalers gleicht: Sie trat in Europa etwa zur selben Zeit wie der stämmige Frühmensch in Erscheinung und verschwand ebenfalls während der letzten Vereisung. Daher könnte man Ursus spelaeus den Neandertaler unter den Bären nennen. Er stand vermutlich schon kurz vor dem Aussterben, als Homo sapiens, der moderne Mensch, ihn in der Grotte Chauvet in Bildern verewigte.

Jene Künstler lebten als Jäger und Sammler in nomadischen oder halbnomadischen Gruppen. Von ihrem Alltag und ihrer materiellen Kultur zeugen diverse Hinterlassenschaften an ihren Lagerstätten, die sich oft geschützt unter Felsvorsprüngen befanden, teils aber auch im Freien. Wir wissen von daher, welche Tiere sie erlegten und welche Waffen und Geräte sie benutzten. Höhlen bewohnten diese Menschen nur gelegentlich. Doch gerade dort ist an den Bildern zu sehen, dass ihre Auffassung von Tieren schon damals über das reine Betrachten als Beute hinausging. Denn die künstlerischen Darstellungen repräsentieren nicht zwangsläufig gejagte Arten. Der Höhlenbär etwa gehörte kaum ins Beuteschema.

Die teils sehr deutlich ausgearbeiteten Tierbilder entstanden mit unterschiedlichsten Techniken. Sie lassen einiges von der spirituellen Welt ihrer Schöpfer erahnen. Manche Mythen mögen dort ihre Wurzeln haben und wurden von späteren Kulturen nur immer wieder abgewandelt. Die Darstellungen speziell des Höhlenbären sind aber auch für Biologen aufschlussreich, denn mit ihnen haben die prähistorischen Menschen eine heute ausgestorbene Art verewigt.

Johann Friedrich Esper (1732-1781) gilt als der erste moderne Naturforscher, der Knochen von Höhlenbären in einer wissenschaftlichen Abhandlung beschrieb. 1771 fand der Theologe Unmengen davon bei Burggaillenreuth in der fränkischen Schweiz in der Zoolithenhöhle, benannt nach dem damals gebräuchlichen Ausdruck für Tierfossilien. Er hielt sie für Skelettreste von Eisbären. Vor ihm glaubte man sogar an Menschenknochen. Die systematische Einordnung und wissenschaftliche Namengebung besorgte 1794 der Mediziner Johann Christian Rosenmüller (1771-1820), der ebenfalls die Gaillenreuther Höhle besuchte.

Der Höhlenbär unterschied sich wegen einiger charakteristischer anatomischer Besonderheiten eindeutig von heutigen Bären - selbst vom nahe verwandten Braunbären (Ursus arctos), der damals ebenfalls in Europa vorkam und heute in mehreren Unterarten, darunter dem Grizzly, in Eurasien und Nordamerika verbreitet ist.

Zunächst fällt die oft beachtliche Größe auf. Stand ein Höhlenbär auf allen vieren, betrug die Schulterhöhe vieler Tiere am Widerrist 1,20 Meter. Richtete er sich auf die Hinterbeine auf, reichte er mit seinen Pranken drei Meter hoch. Europäische Braunbären sind deutlich kleiner. Auch die Dicke der Beinknochen, die das Gewicht tragen mussten, beeindruckt. Demnach dürften die Kolosse fast dreimal so viel gewogen haben wie Braunbären. Männliche Tiere, die wie bei allen Großbären viel größer und massiger als die Weibchen waren, brachten es vermutlich auf 500 Kilogramm. Dabei gab es allerdings beträchtliche individuelle Unterschiede: An einigen Orten fand man vergleichsweise kleine Skelette.

Der Höhlenbär wich zudem vom Braunbären in seiner Kopf- und Körperform ab. Das haben die Steinzeitkünstler der Grotte Chauvet ziemlich naturgetreu festgehalten. Manchmal zeichneten sie nur den Kopf, an dem besonders auffällt, dass die Stirn eine markante Stufe bildet, während der Braunbär eine fliehende Stirn hat. Die obere Schnauzenpartie ist vorn im Profil sehr breit und leicht gerundet, was an Kufen eines Schaukelstuhls erinnert, und die Nasenlöcher weisen eher nach oben. Die Augenhöhlen im Schädel sind relativ kleiner als beim Braunbären. Somit besaß der Höhlenbär wahrscheinlich noch kleinere Augen als dieser. Im dichten Fell waren sie sicherlich kaum zu sehen. In der Tat haben die Menschen sie nicht mit abgebildet. Die Zeichnungen des ganzen Tiers geben zudem eine Vorstellung von der eindrucksvollen Gesamterscheinung des Höhlenbären mit den kräftigen Beinen und dem abfallenden Rücken, denn die hinteren Beine waren kürzer als die vorderen.

In Bärenhöhlen liegen gewöhnlich nur wenig Knochen von anderen Säugetieren, auch nicht von Braunbären. Demnach stießen die meisten Arten selten bis in solche Tiefen vor. Außerdem mieden die Höhlenbären und die Hyänen offenbar die unterirdischen Rückzugsorte der jeweils anderen Art, denn Bärenhöhlen enthalten kaum Hyänenspuren und umgekehrt. Dass fast alle entdeckten Überreste von Ursus spelaeus aus Höhlen stammen, bedeutet allerdings nicht, dass sich diese Bären das ganze Jahr über darin aufhielten. Aber sie überwinterten darin - im Gegensatz zu Braunbären, die sich lieber in Mulden oder Löcher unter toten oder umgefallenen Bäumen zurückziehen.


Typisch für Bärenhöhlen: Die Spuren vieler Generationen auf engem Raum

Ihre Verbreitung beschränkte sich weit gehend auf Europa einschließlich Großbritanniens, das in Kaltzeiten mit dem Kontinent verbunden war. Wo sich leicht Höhlen bildeten, also besonders in Karstgebieten, findet man vielerorts ihre Überreste. In warmen Phasen hinterließen diese Bären in den Alpen noch in über 2.000 Meter Höhe Skelette, waren dort aber kleinwüchsig. Vielerlei ganz verschiedenartige Funde und Indizien belegen ihre Anwesenheit in einer Höhle über viele Generationen, allem voran Knochen von nicht selten Hunderten, ja Tausenden von Tieren. Zudem kann der Untergrund versteinerte Abdrücke der Pranken aufweisen sowie hunderte Mulden, die sich die Bären zum Winter hin scharrten. Die Wände tragen unzählige Kratzer ihrer Klauen, und manche Stellen, an denen sich die Petze häufig vorbeischoben, hat ihr Fell glatt poliert. So wurden auch einige Bilder in der Grotte Chauvet teilweise regelrecht wegradiert.

Spuren irgendwelcher Beutetiere hinterließen die Höhlenbären im Winterquartier nicht. Die Giganten waren zwar Allesfresser, aber schon vom Gebiss her noch mehr als andere Bären an vegetarische Kost angepasst. Ihre Zähne und Kiefer eigneten sich weniger zum Zerschneiden von Fleisch als zum Malmen von Früchten und anderer Pflanzennahrung. Diese vorherrschende Ernährungsweise spiegelt sich auch in der Isotopenzusammensetzung ihres Knochenkollagens. Insbesondere gleicht der Gehalt des schweren Stickstoffisotops 15 mehr dem von Pflanzen- als dem von typischen Fleischfressern.

Allerdings präsentiert sich heute längst nicht jede einstige Bärenhöhle so eindrucksvoll mit all den verschiedenen Indizien vom Aufenthalt des mächtigen Tiers wie gerade beschrieben. Mancherorts, etwa in der Dordogne, hat der saure Boden die Knochen zersetzt. Ebenso haben Fußabdrücke und Schlafmulden nicht immer überdauert. Manchmal waren daran natürliche Ereignisse wie Überflutungen schuld, manchmal auch der Mensch. Wenn eine solche Höhle in späteren Phasen zugänglich blieb, haben sich dort natürlich Menschen immer wieder eingefunden und ihre eigenen Spuren hinterlassen - einschließlich Graffiti aus jüngerer Zeit, wie etwa in den Höhlen von Arcy-sur-Cure in Burgund, Niaux in den Pyrenäen oder Rouffignac in der Dordogne, die alle eindrucksvolle prähistorische Wandverzierungen aufweisen. Viel krasser hat der Mensch solche Stätten allerdings verändert, wenn er die phosphatreichen Ablagerungen abbaute, die auf die vielen Bärenkadaver zurückgehen. In Lascaux wiederum wurde der Untergrund umgestaltet, um Wege für die Besuchermassen anzulegen.

Ein so guter Erhalt der vielartigen Spuren und Hinterlassenschaften des Höhlenbären wie in der Chauvet-Höhle ist daher selten. Dass an den Wänden außerdem Bilder von ihm zu sehen sind, steigert den wissenschaftlichen Wert des Fundorts auch für biologische und Evolutionsstudien nochmals beträchtlich. Denn die modernen Menschen der oberen Altsteinzeit waren die ersten und letzten von uns, die diesen Tieren begegnet sind.

Bis vor Kurzem konnten Systematiker für die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte und die systematische Einordnung von Ursus spelaeus allein auf Zähne, Schädel- und Skelettmerkmale lebender und fossiler Bären zurückgreifen. Mittlerweile liegen auch verschiedene DNA-Sequenzen von Höhlenbären vor, die dieses Material ergänzen und einige neue Erkenntnisse brachten. Als Erstes gelang es mit einem Knochen aus der Grotte Chauvet, DNA der Mitochondrien zu gewinnen - der Organellen für die Zellatmung - und davon die komplette Sequenz zu bestimmen. Dieses Erbgut, das nur die Mutter weitergibt, wird für Evolutionsanalysen besonders gern herangezogen und lässt sich auch aus Fossilien vergleichsweise leicht extrahieren. Es ist viel weniger umfangreich als die DNA des Zellkerns und kommt in Zellen sehr viel häufiger vor. Manche Abschnitte verändern sich im Verlauf der Evolution rasch und mit einer bestimmten Rate, was Forscher für systematische Vergleiche nutzen.


Die Entstehung des Höhlenbären - ein evolutionsbiologisches Rätsel

Nach dem derzeitigen Kenntnisstand zweigten sich die Vorfahren der Echten Bären vor rund 30 Millionen Jahren von anderen Raubtieren ab. Anfangs waren das nur etwa waschbärgroße Arten - aber in den verschiedenen Linien, die sich bildeten, wurden die Tiere bald größer. Wann die Art Ursus spelaeus zuerst auftrat und wie sie mit den anderen Bärenspezies verwandt ist, war in der Forschung lange umstritten. Insbesondere die Beziehung zum Braunbären, dem der Höhlenbär verwandtschaftlich offenbar nahestand, war unklar. Frühere Paläontologen entwarfen dazu verschiedenste Szenarien. Mal hielten sie den Höhlenbären für einen Vorfahren des Braunbären, dann wieder glaubten sie, er sei ein Seitenzweig eines frühen Braunbären. Nach heutigem Wissen entstanden die beiden Arten getrennt voneinander und zu unterschiedlicher Zeit. Ihr letzter gemeinsamer Vorfahr war wahrscheinlich Ursus etruscus, eine einst bedeutende Spezies, die vor rund 3 bis vor 1,2 Million Jahren in Europa und Asien verbreitet war.

Der Braunbär, Ursus arctos, erschien wesentlich früher als der Höhlenbär. Die ältesten Fossilien von ihm sind 900.000 Jahre alt. Er stammt aus Asien, eroberte später aber viele Regionen der Alten Welt sowie Nordamerika und bildete dabei eine Reihe von recht verschiedenen regionalen Linien. Zu den größten Vertretern gehören der Grizzly und der Kodiakbär. Viel kleiner sind die Bären Südeuropas und Vorderasiens. Von Braunbären stammt der Eisbär (Ursus maritimus) ab, der einzige reine Fleischfresser unter den Bären. Laut einer neuen Studie erfolgte die Trennung nicht erst vor 150.000 Jahren, wie zuletzt angenommen, sondern schon vor etwa 600.000 Jahren. Noch immer können sich beide miteinander fortpflanzen, was anscheinend sogar in der Wildnis gelegentlich vorkommt.

Höhlenbären in einem weiten Sinn traten viel später auf als die Braunbären. Der eigentliche Höhlenbär erschien sogar erst vor etwa 300.000 Jahren. Sein unmittelbarer Vorfahr war die ausgestorbene Art Ursus deningeri. Nach den genetischen Analysen lebte der letzte gemeinsame Vorfahr mit dem Braunbären etwa 1 Million bis 2,1 Millionen Jahre vor unserer Zeit, am wahrscheinlichsten vor rund 1,6 Millionen Jahren.

Ursus spelaeus existierte demnach nur eine recht kurze Zeitspanne. Wann verschwand die Art - und vor allem warum? Nach bisheriger Auffassung waren Höhlenbären vor 30.000 Jahren noch zahlreich. Aber bald darauf nahm ihr Vorkommen anscheinend rapide ab. Die Meinungen, wann die Art dann tatsächlich ausstarb, klaffen allerdings teils weit auseinander: ob vor 24.000 oder vor 10.000 Jahren oder irgendwann dazwischen.

Um hier genauere Ergebnisse zu erhalten, haben wir anhand der Mitochondrien-DNA die genetische Vielfalt von einer Reihe Tieren aus zwei Höhlen im Ardèchetal ausgewertet: der Grotte Chauvet sowie der einige Kilometer entfernten Grotte des Deux-Ouvertures. Verblüfft stellten wir fest, dass die untersuchten Bären nur zwei mütterlichen Linien angehörten. Das ist umso bemerkenswerter, als das untersuchte Material die Zeitspanne von vor 27.000 bis 32.000 Jahren umfasst, also mehrere Jahrtausende. Die Grotte Chauvet birgt zwar auch noch ältere Höhlenbärfossilien, doch die enthalten keine DNA mehr.

Aufschlussreich sind Vergleiche mit anderen Regionen und älteren Zeitphasen. Forscher haben beispielsweise rund 45.000 Jahre alte Höhlenbärfossilien aus Südwestrumänien von der Pestera cu Oase untersucht - der "Knochenhöhle", in der sich auch die bisher ältesten Fossilien moderner Menschen in Europa fanden. Sie stellten dort für einen ebenfalls nur wenige Jahrtausende umfassenden Abschnitt eine wesentlich größere genetische Vielfalt der Bären fest als wir im Raum der Ardèche. Die rumänische Population muss zu jener Zeit sehr viel umfangreicher und somit "gesünder" gewesen sein als die spätere von uns untersuchte in Südfrankreich. Sie dürfte zehnmal so viele fortpflanzungsfähige Tiere umfasst haben. Verschiedene Studien zu Höhlenbären in anderen Gebieten lassen einen ähnlich großen Unterschied vermuten. Es sieht so aus, als ob die Art im Gebiet der Ardèche vor 30.000 Jahren bereits vom Aussterben bedroht war.


Die Unzahl von Skeletten täuscht

Die große Anzahl von Höhlenbären, die in der Grotte Chauvet verendet sind, darf nicht täuschen: 200 Tiere mögen viel erscheinen, aber damit sich während 4.000 Jahren so viele Skelette ansammelten, musste dort nur alle 20 Jahre ein überwinternder Bär sterben. Vielleicht lebten in dem Gebiet gar nicht mehr viele Exemplare, als Menschen des Aurignacien sie abbildeten - so bezeichnen Archäologen die Kulturstufe des modernen Homo sapiens vor rund 28.000 bis 35.000 Jahren. Schon bald danach könnte die Art in der Region verschwunden sein.

Auch vor 25.000 bis 27.000 Jahren, in einer Phase des nachfolgenden Gravettien, besuchten Menschen wieder die Chauvet-Höhle und hielten sich dort in denselben Abschnitten auf wie ihre Vorgänger. Vielleicht haben sie die merkwürdigen gezeichneten Geschöpfe bestaunt, die Braunbären nicht so richtig ähnelten. Denn aus eigener Anschauung kannten die Steinzeitkünstler dieser Zeit Ursus spelaeus oft wohl gar nicht mehr genau. Ob sie einfach nicht mehr naturgetreu malten oder ob sie nun Braunbären abbildeten, ist unklar. Zumindest haben sie die Charakteristika von Höhlenbären nicht mehr herausgearbeitet (siehe Abb. S. 42).

Ob der Mensch zum Aussterben der Höhlenbären beitrug, ist nicht sicher. Als Jagdbeute spielten sie anscheinend immer nur eine untergeordnete Rolle. Auch dürfte die Konkurrenz um Höhlen nicht besonders groß gewesen sein, zumal in einem Gebiet wie an der Ardèche, wo es reichlich derartige Unterschlüpfe gibt. Außerdem spricht einiges dafür, dass die Populationen schon schrumpften, bevor der moderne Homo sapiens in Europa erschien. Wenn eine Art in geografisch getrennte und genetisch verarmte kleine Bestände zerfällt, drohen Inzucht und damit schwache und missgebildete Tiere, was unter Umständen das Aussterben beschleunigt.

Möglicherweise fiel der Höhlenbär aber auch seiner eigenen Lebensweise zum Opfer. Der monatelange Rückzug ins Dunkle ohne jedes Sonnenlicht, wenn die Tiere nur von ihren Fettreserven zehrten, könnte Rachitis gefördert haben. In schlechten Jahren, also gerade in Kaltzeiten, hatten sie vor dem Winter womöglich nicht immer genügend Nahrung gefunden. Im Spätherbst mussten sie wahrscheinlich auch Fleisch fressen, und das glückte ihnen vielleicht mitunter nicht in ausreichendem Maß. Um diese offenen Fragen zur Ernährungssituation der Höhlenbären zu klären, untersuchen Paläontologen nun DNA-Spuren in Koprolithen: den versteinerten Exkrementen anderer Fleischfresser, darunter Wölfe und Höhlenhyänen. Dies könnte zeigen, ob Nahrungsmangel zum Aussterben des Riesenbären beitrug.


DIE AUTOREN

Jean-Marc Elalouf ist Genetiker und Paläogenetiker am Institut de biologie et de technologies de Saclay südwestlich von Paris.

Valérie Féruglio ist Prähistorikerin. Sie arbeitet an der Université Paris Ouest Nanterre La Defénse.


QUELLEN
Bon, C. et al.: Low Regional Diversity of Late Cave Bears Mitochondrial DNA at the Time of Chauvet Aurignacian Paintings. in: Journal of Archaeological Science 38, S. 1886-1895, 2011

Bon, C. et al.: Deciphering the Complete Mitochondrial Genome and Phylogeny of the Extinct Cave Bear in the Paleolithic Painted Cave of Chauvet. in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 105, S. 17447-17452, 2008

Clottes, J.: Pourquoi l'art préhistorique? Gallimard, Paris 2011

Stiller, M. et al.: Withering away - 25.000 Years of Genetic Decline Preceded Cave Bear Extinction. in: Molecular Biology and Evolution 27, S. 975-978, 2010


LITERATURTIPPS
Chauvet, J.-M. et al.: Grotte Chauvet bei Vallon-Pont-d'Arc. Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche. Jan Thorbecke, Stuttgart 1995, 3. Auflage 2001
Bildband der Entdecker zu den grandiosen Höhlenmalereien

Rabeder, G. et al.: Der Höhlenbär. Jan Thorbecke, Stuttgart 2000
Ein Fachmann gibt einen Überblick über die Forschung zum Thema.


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Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1152345


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen bzw. Grafiken der Originalpublikation:

Abb. S. 38, I+II:
Chauvet-Höhle
I Die auf über 500 Metern gut zugängliche Höhle weist rund 400 Bilder aus der Altsteinzeit - aus dem frühen Jungpaläolithikum - auf, darunter 13 von Höhlenbären. Auf der Karte sind die Orte markiert, wo Bären Abdrücke hinterließen (kleine rote Kugeln), sowie die Stellen der hier gezeigten Darstellungen (a bis f)
II Auf einem der beiden mit Kohle gezeichneten "schwarzen" Bären (a und b) sieht man Kratzer von Bärenklauen (a). Die "roten" Bären (c und d) wurden mit Ocker gemalt. Auf einer Wand aus bröckelndem Material findet sich ein undeutlicheres Profil (e). Das Fell eines neugierigen Bären (f) wurde mit Flecken markiert.

Abb. S. 39:
Abstammung des Höhlenbären
DNA-Vergleiche halfen, die Abstammung des Höhlenbären und insbesondere seine Beziehung zum Braunbären zu klären. Knochen aus der ChauvetHöhle lieferten sequenzierbares Erbgut. Es gelang, daraus die komplette DNA von Mitochondrien genannten Zellorganellen zu erschließen. Demnach trennten sich die Abstammungslinien von Braun- und Höhlenbär vor etwa 1,6 Millionen Jahren.

Abb. S. 40, I+II:
I Diese über 30.000 Jahre alte Zeichnung lässt gut erkennen, dass Höhlenbären eine andere Kopf- und Körperform hatten als Braunbären. Ihre Schnauze war im Profil sehr hoch, sie besaßen eine stufenförmige Stirn, und der Rücken fiel nach hinten stark ab. Sie hatten sehr kleine Ohren und Augen - Letztere wurden nicht gemalt. Auf den Schultern saß ein Fetthöcker für Winterspeck.
II Abdrücke zweier "Sohlengänger" in der Grotte Chauvet: von einem Menschen (links) und von einem Bären. Wahrscheinlich suchte Homo sapiens diese Höhle nur im Sommer auf - wenn er keine Bären antraf.

Abb. S. 41:
In vielen Bärenhöhlen liegen Unmengen an Schädeln und Skeletten von Ursus spelaeus wie hier in der Grotte Chauvet. Die Tiere müssen dort im Winter gestorben sein - alters- oder krankheitsbedingt, aber manchmal wohl auch, weil sie sich nicht genügend Reserven hatten zulegen können. Skelette von Neugeborenen zusammen mit Bärinnen zeigen, dass die Geburten während der Winterruhe stattfanden.

Abb. S. 42:
Die letzten Zeugen
Spätestens nach der Gravettien-Kultur haben altsteinzeitliche Künstler anscheinend keine Höhlenbären mehr gemalt - zumindest deren charakteristische Züge nicht mehr deutlich herausgearbeitet. Die Bilder in den Höhlen erinnern nun an Braunbären. Ursus spelaeus war damals vermutlich bereits ausgestorben. Die Darstellung von Dolní Vestonice ist allerdings schwer zuzuordnen.

© 2012 Jean-Marc Elalouf und Valérie Féruglio, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 7/12 - Juli 2012, Seite 36-42
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2012