Max-Planck-Gesellschaft - 24. Mai 2016
Neandertaler waren von Geburt an stämmig
Unsere nächsten Verwandten wurden schon mit kräftigeren Knochen geboren
Würde ein Neandertaler neben uns in der U-Bahn sitzen - wir würden es womöglich nicht einmal bemerken. Nur bei genauerem Hinsehen fielen der gedrungenere und kräftigere Körperbau auf. Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun untersucht, ob die Unterschiede im Körperbau zwischen Neandertalern und modernen Menschen genetisch bedingt sind oder durch unterschiedliche Lebensweisen entstanden sind. Ihre Analysen zweier gut erhaltener Skelette von Neandertaler-Neugeborenen zeigen, dass die robusten Knochen bereits vor der Geburt angelegt sind.
Die Überreste des bei Le Moustier in Frankreich gefundenen
Neandertaler-Babys sind eines der bislang am vollständigsten
erhaltenen Skelette dieser Frühmenschen. Das Kind war zum Zeitpunkt
seines Todes maximal vier Monate alt. Warum es starb, lässt sich
heute nicht mehr rekonstruieren.
© Musée national de Préhistoire, Les Eyzies-de-Tayac Sireuil / Ph. Jugie
Die Linien des modernen Menschen und des Neandertalers haben
sich vor rund 600.000 Jahren getrennt. Knochenfunde verraten den
Wissenschaftlern, dass die Neandertaler nicht nur ein fliehendes
Kinn, prominente Oberaugenwülste und eine größere Nase besaßen. Sie
besaßen auch einen anderen Körperbau: Die Knochen der Neandertaler
waren kräftiger, die Becken breiter und die Gliedmaßen kürzer. Dabei
könnte es sich um eine evolutionäre Anpassung an das kältere Klima
Europas und Asiens handeln, da ein kompakterer Körper weniger Wärme
an die Umwelt verliert. Die Skelettunterschiede könnten jedoch auch
durch unterschiedliche Lebensweisen und Bewegungsmuster entstanden
sein, denn mechanische Belastungen verändern die Ausbildung von
Knochen.
Die Max-Planck-Wissenschaftler haben dies anhand zweier Skelette von Neandertaler-Babys untersucht. Einer der Funde stammt aus der Mezmaiskaya-Höhle im Kaukasus. Archäologen hatten dort 1993 auf einer Fläche von lediglich etwas mehr als einer DIN A4 Seite eines der bislang besterhaltenen Neandertalerskelette entdeckt. Wie sich herausstellte, hatten Neandertaler vor 70.000 Jahren in der Höhle ein zwei Wochen altes Neugeborenes bestattet. Der zweite Fund ist ein maximal vier Monate alter Säugling aus einer Höhle nahe dem Ort Le Moustier in der französischen Dordogne. "Beide Skelette waren außerordentlich gut erhalten. Außerdem stammen sie aus weit auseinanderliegenden Regionen - für unsere Analyse war das ideal, denn damit umfasst sie einen großen geografischen Bereich", sagt Tim Weaver vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Die Forscher bestimmten die Länge und Dicke von Becken-, Arm- und Beinknochen und verglichen diese mit Daten von insgesamt 68 Neugeborenen moderner Menschen aus einer Sammlung des Nationalmuseums für Naturgeschichte in Washington. Die Ergebnisse zeigen, dass die Neandertaler-Babys schon mit einem anderen Knochenbau geboren wurden als ein heutiges Kind. Die Unterschiede im Körperbau müssen also genetischer Natur sein, denn abweichende Gewohnheiten wie Jagd, Werkzeuggebrauch oder Gang können sich in diesem Alter noch nicht auf das Skelett auswirken. "Egal in welchem Alter: Neandertaler sahen immer aus wie Neandertaler", sagt Jean-Jacques Hublin, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut.
Zwar könnten auch die mütterliche Ernährungsweise und Aktivität die Entwicklung des kindlichen Skeletts beeinflusst haben. Unterschiede im Erbgut sind den Forschern zufolge jedoch als Ursache wahrscheinlicher. So passen einige Befunde wie die kürzeren Gliedmaßen zur Klima-Hypothese, der zufolge der Körperbau der Neandertaler an Kälte angepasst war. Andere, wie etwa ein verlängertes Schambein, passen nicht dazu. Die Forscher vermuten, dass dieses für die Fortbewegung und den Geburtsprozess der Neandertaler vorteilhaft gewesen sein könnte. MT/H
Originalpublikation:
Timothy D. Weaver, Hélène Coqueugniot, Liubov V. Golovanova, Vladimir
B. Doronichev, Bruno Maureille, and Jean-Jacques Hublin
Neonatal postcrania from Mezmaiskaya, Russia, and Le Moustier,
France, and the development of Neandertal body form.
PNAS; 23 May, 2016 (DOI: 10.1073/pnas.1523677113)
*
Quelle:
MPG - Presseinformation vom 24. Mai 2016
Herausgeber:
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Hofgartenstraße 8, 80539 München
Telefon: 089/21 08-0, Fax: 089/21 08-12 76
E-Mail: presse@gv.mpg.de
Internet: www.mpg.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2016
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang