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THEORIE/029: Grenzen der Quantentheorie (Junge Akademie Magazin)


Junge Akademie Magazin - Nr. 6/Juni 2007

"Der Mond ist doch auch da, wenn niemand guckt!
Grenzen der Quantentheorie

Von Cord Müller


Ein Plenum der Jungen Akademie im April 2007, ein Mitgliedervortrag zum Thema "Quantentheorie". Zunächst freundliche Aufmerksamkeit auf Seiten der Zuhörer, dann ungläubige Nachfragen, wenig später verhaltenes Kopfschütteln, schließlich Augenrollen. Wie bitte? Das Photon wird als einzelnes Teilchen durch einen Klick im Detektor registriert, soll aber beide Wege eines Interferometers durchlaufen und letztlich ein Interferenzmuster mit sich selbst erzeugt haben? Und zwei Photonen in einem seltsamen, "verschränkt" genannten Zustand werden zu weit voneinander entfernten Parteien geschickt, deren Messergebnisse dann Korrelationen zeigen, die stärker sind als klassisch erlaubt? Ein Verdacht steht im Raum: Sind die Quantenphysiker nur besonders begabt darin, einfache Zusammenhänge mit mathematischen Formeln und unklaren Begriffen zu verdunkeln?

Auf dem gleichen Plenum, kurz vor Mitternacht im längst verlassenen Speisesaal. Die Mitglieder der jüngst gegründeten AG "Grenzen der Quantentheorie" führen eine lebhafte Diskussion. Welche Eigenschaften eines Teilchens sind überhaupt lokal realistisch, das heißt ohne Bezug auf einen möglichen Beobachter bestimmt? Wie kann man die "mehr-als-klassischen" Korrelationen "verschränkter" Zustände verstehen? Welche Rolle spielt der Messprozess? Die hitzige Debatte lässt niemanden unbeteiligt:

"Du musst doch einsehen: Jedes abgeschlossene System hat eine unitäre Zeitentwicklung, und das Messproblem besteht, weil nicht klar ist, woher die postulierte Reduktion des Zustandsvektors und die Born'schen Wahrscheinlichkeiten kommen sollen!"

"Nein, durch die Dekohärenztheorie wird doch klar, dass die Nebendiagonalelemente auf einer so extrem kurzen Zeitskala verschwinden, dass man es nur noch mit einem klassischen Würfelproblem zu tun hat, und damit hast du doch auch keine Schwierigkeit!"

"Aber das ist keine Lösung! Konsequenterweise muss man behaupten, dass jede Verzweigungskomponente der Wellenfunktion des Sonnensystems oder sogar des Universums eine mögliche Realisierung darstellt und damit als gleichermaßen existent betrachtet werden muss!"

"Es ist skandalös, wie du eine quasi theologische 'Existenz' postulierst, ohne eine messbare Größe anzugeben, über die man deine Behauptung falsifizieren könnte!"

"Aber es muss doch gerade darum gehen, eine beobachterunabhängige Beschreibung der Dinge an sich zu finden. Ob ein Roboter die Messung macht, Schrödingers Katze oder eine Wissenschaftlerin mit selbstbewusster Kognition, das darf keine Rolle spielen. Die Reduktion der Wellenfunktion passiert ja schließlich nicht deswegen, weil ein Doktor der Physik das Messergebnis abliest. Der Mond ist doch auch da, wenn niemand guckt!"

Wie keine andere empirisch erfolgreiche Theorie vor ihr fordert die Quantentheorie dazu heraus, dass wir uns darüber Klarheit verschaffen, was überhaupt wissenschaftlich sagbar sein kann. Dabei ist die Quantentheorie seit ihrer Geburt vor mehr als hundert Jahren zu der schlechthin konkurrenzlosen Beschreibung der Welt der Atome und Moleküle geworden. Erst der Quantentheorie gelang es, den Aufbau der chemischen Elemente zu erklären und ihre Wechselwirkung mit elektromagnetischen Feldern zu beschreiben. Die Physik der Elementarteilchen ist ohne die Quantentheorie nicht denkbar, ebenso wenig die heutige Laser- und Chiptechnologie. Wir haben also keine Wahl: Wer die Welt verstehen will, muss die Quantentheorie kennen.


Grenzen des Verstehens

Aber wie kann man die Quantentheorie verstehen? Die AG "Grenzen der Quantentheorie" wird sich dieser Frage widmen, indem sie die Grenzen der Quantentheorie auslotet. Dabei geht es zunächst um Grenzen der Gültigkeit innerhalb der Physik, beispielsweise gegenüber der Allgemeinen Relativitätstheorie, die die Kosmologie regiert, aber auch gegenüber der klassischen Statistischen Physik. Darüber hinaus wird sich die AG auch mit den Grenzen der Verstehbarkeit der Quantentheorie beschäftigen, insbesondere aus Sicht einer gebildeten Öffentlichkeit.

Die Mitglieder der AG wollen deshalb herausfinden, welches Verständnis der modernen Quantentheorie ihre professionellen Anwender und Weiterentwickler heute haben. Vom 28.-30. April 2008 wird die AG einen Expertenworkshop zum Thema "Grenzen der Quantentheorie: Zufall und Realität" im Berliner Harnack-Haus ausrichten. Hier soll es vor allem um die faszinierende Frage gehen, welche Realität dem Quantenzustand und den messbaren Eigenschaften mikroskopischer Teilchen zugeschrieben werden kann. Mit anderen Worten: Ist der positive Spin in z-Richtung auch da, wenn niemand misst? Daran schließt die Frage, welche Rolle der Zufall in der Quantentheorie spielt. Ist der Zufall lediglich ein pragmatisches Konzept, das wie in der klassischen Physik zur ökonomischen Beschreibung von Vielteilchensystemen verwendet wird, oder ist der Zufall grundsätzlicherer Natur, vielleicht sogar notwendig durch Informationstheorie und die Forderung bedingt, dass theoretische Vorhersagen experimentell messbar sein müssen?

Die Gedankenexperimente Bohrs und Einsteins aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sind heute Routine in quantenoptischen Laboratorien. Die AG möchte deshalb ein Konzept entwickeln, das es erlaubt, speziell die nichtklassischen Vorhersagen der Quantentheorie allgemein verständlich zu demonstrieren. Dieses Projekt wird federführend von Christine Silberhorn, Nachwuchsgruppenleiterin in der Max-Planck-Forschungsgruppe an der Universität Erlangen-Nürnberg, betreut und im Rahmen einer gemeinsamen Dissertation mit der dortigen Physikdidaktik realisiert. Traum der AG-Mitglieder: mit einem Experiment beim JA-Plenum alle anwesenden Mitglieder in Echtzeit zu Zeugen der Verschränkung zu machen - ungläubiges Nachfragen, Kopfschütteln und Augenrollen garantiert!


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Quelle:
Die Junge Akademie Nr. 6/Juni 2007, Seite 16-17
Herausgeber:
Die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2007