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THEORIE/034: Thermodynamik - Wie aus Chaos Ordnung entsteht (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 4/09 - April 2009

Wie aus Chaos Ordnung entsteht

Von J. Miguel Rubí


Obwohl der zweite Hauptsatz der Thermodynamik einen Trend zu wachsender Unordnung vorschreibt, vermag die Natur aus chaotischen Zuständen geordnete Strukturen hervorzubringen. Ein neuer Theorieansatz erklärt das scheinbare Paradox.



In Kürze

Verlust ist unvermeidlich - diese traurige Tatsache drückt der berühmte zweite Hauptsatz der Thermodynamik quantitativ aus. Doch wenn die Unordnung in der Welt fortwährend zunimmt, wie erklären wir uns dann die Selbstorganisation, die in der Natur häufig vorkommt?
Die klassische Thermodynamik unterstellt, Systeme befänden sich normalerweise im Gleichgewicht. Doch derart gemütliche Bedingungen herrschen in Wirklichkeit selten.
Ein neuer Ansatz schließt diese Lücke und zeigt, dass der zweite Hauptsatz auch fern vom Gleichgewicht gilt. Die Entwicklung von Ordnung zu Unordnung kann ungleichmäßig ablaufen und lässt Inseln der Selbstorganisation zu.

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Die Naturwissenschaft hat der Menschheit schon manche Enttäuschung bereitet. Sie setzt unserer Technik Grenzen, unter anderem mit der Lichtgeschwindigkeit als prinzipiell unüberbietbarem Tempo für Reisen und Signale; sie vermag unsere Anfälligkeit für Krebs und andere Leiden nicht zu überwinden; und sie konfrontiert uns mit unbequemen Wahrheiten wie dem globalen Klimawandel. Doch die wohl härteste Negativaussage enthält der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Er besagt: Wir leben in einem Universum, das zwangsläufig immer unordentlicher wird. Jede Lebensregung trägt unweigerlich zum Niedergang der Welt bei. Selbst wenn wir unsere Maschinen noch so weit entwickeln - niemals werden sie ganz ohne Energieverlust und Verschleiß funktionieren. Der zweite Hauptsatz zerstört nicht nur den Traum vom Perpetuum mobile, sondern scheint auch zu besagen, dass der Kosmos letzten Endes alle brauchbare Energie erschöpfen und in ewigen Stillstand verfallen wird, den so genannten Wärmetod des Weltalls.

Dabei entstand die Thermodynamik eigentlich in einer Ära der Technikeuphorie. Mitte des 19. Jahrhunderts trieben Dampfmaschinen die industrielle Revolution voran, und Physiker wie Rudolf Clausius, Nicolas Sadi Carnot, James Joule und Lord Kelvin schufen die Wärmelehre. Damit konnten sie verstehen, wie solche Maschinen funktionieren und was ihren Wirkungsgrad einschränkt. Aus diesen praktischen Anfängen entwickelte sich die Thermodynamik zu einem der wichtigsten Zweige der Physik. Sie ist eine allgemeine Theorie der kollektiven Eigenschaften komplexer Systeme, die längst nicht mehr nur Dampfmaschinen umfasst, sondern auch Bakterienkolonien, Computerspeicher und sogar Schwarze Löcher in den Tiefen des Alls. In gewisser Weise verhalten sich all diese Systeme gleich. Alle nutzen sich ab, wie es der zweite Hauptsatz vorschreibt.

Doch trotz seines empirischen Erfolgs mutet der zweite Hauptsatz oft paradox an. Die Aussage, Systeme müssten unweigerlich allmählich zu Grunde gehen, scheint den vielen Beispielen aus der Natur zu widersprechen, die nicht Desorganisation und Verfall vorführen, sondern Selbstorganisation und Wachstum. Außerdem weist die ursprüngliche Herleitung des zweiten Hauptsatzes ernste theoretische Mängel auf. Eigentlich dürfte das Gesetz gar nicht so allgemein gelten. Viele Begründer der Thermodynamik waren sich dieser Schwächen bewusst und suchten eine vollständigere Theorie aufzustellen; im 20. Jahrhundert setzten Lars Onsager, Ilya Prigogine, Sybren de Groot, Peter Mazur und andere diese Bemühungen fort. Doch auch ihr verfeinerter Ansatz ließ sich nur begrenzt anwenden. Erst kürzlich ist es meinen Kollegen und mir gelungen, die Grundlagen der Thermodynamik besser abzusichern und sie auf neue Bereiche auszudehnen. Wir konnten bestätigen, dass der zweite Hauptsatz universell gilt, haben aber auch gefunden, dass er lange nicht so schecht ist wie sein Ruf.


Aus dem Gleichgewicht

Kaum ein Zweig der Physik wird oft so gründlich missverstanden wie die Thermodynamik. Regelmäßig gebrauchen sowohl Laien als auch Fachleute Begriffe wie Temperatur, Druck und Energie, ohne ihre exakte Bedeutung und ihre Feinheiten zu kennen. Doch wer die Tiefen der Theorie auslotet, merkt bald, wie sehr man auf der Hut sein muss. Die Achillesferse der Thermodynamik ist, dass sie streng genommen nur gilt, wenn das untersuchte System sich in einem Ruhezustand befindet, dem so genannten Gleichgewicht. In diesem Zustand haben Systemparameter wie Masse, Energie und Form aufgehört, sich zu ändern. Werden zwei Objekte mit unterschiedlicher Temperatur zusammengefügt, so fließt Wärme vom heißeren zum kälteren. Dieser Vorgang hört auf, sobald beide dieselbe Temperatur erreichen - das heißt, sobald beide Objekte im thermischen Gleichgewicht sind. Von diesem Punkt an ändert sich nichts mehr.

Ein gängiges Beispiel ist Eis in einem Glas Wasser. Das Eis schmilzt, und das Wasser im Glas erreicht eine gleichmäßig tiefere Temperatur. Unter einem Mikroskop mit molekularer Auflösung würde man jedoch lebhafte Aktivität beobachten: Moleküle, die hektisch umherschwirren und unablässig zusammenstoßen. Doch im Gleichgewicht organisiert sich das molekulare Hin und Her so, dass das System statistisch betrachtet ruht; wenn einige Moleküle sich beschleunigen, werden andere langsamer, und die Geschwindigkeitsverteilung bleibt insgesamt gleich. Die Temperatur beschreibt diese Verteilung; tatsächlich hat der Temperaturbegriff nur Sinn, wenn das System mehr oder weniger im Gleichgewicht ist.

Daher befasst sich die Thermodynamik zunächst nur mit Situationen der Ruhe. Die Zeit spielt darin keine Rolle. Selbstverständlich steht die Natur niemals still, und Zeit ist wichtig. Alles bleibt fortwährend im Fluss. Die Tatsache, dass die klassische Thermodynamik nur für Gleichgewichtssituationen gilt, mag überraschend anmuten. In Einführungskursen wenden Physikstudenten die Theorie auf dynamische Systeme wie Automotoren an, um Größen wie den Wirkungsgrad zu berechnen. Doch bei diesen Anwendungen wird stillschweigend angenommen, dass ein dynamischer Prozess angenähert als idealisierte Abfolge von Gleichgewichtszuständen beschrieben werden kann. Das heißt, wir stellen uns vor, das System sei immer im Gleichgewicht, selbst wenn es sich von einem Augenblick zum anderen verschiebt. Infolgedessen ist der so berechnete Wirkungsgrad nur eine obere Grenze. In der Praxis erreichen Maschinen einen etwas niedrigeren Wert, weil sie unter Nichtgleichgewichtsbedingungen operieren.

Der zweite Hauptsatz drückt aus, dass eine Abfolge von Gleichgewichtszuständen in der Regel irreversibel ist; das System vermag meist nicht in seinen Ausgangszustand zurückzukehren, ohne seiner Umgebung dafür einen Preis abzuverlangen. Ein geschmolzener Eiswürfel bildet sich nicht spontan zurück; man muss ihn in den Gefrierschrank sperren und Energie aufwenden. Um diese Irreversibilität zu quantifizieren, führt der zweite Hauptsatz als Grundgröße die Entropie ein. Diese Größe wird anschaulich gern als das Maß der Unordnung im System beschrieben, aber das kann, wie ich gleich ausführen werde, leicht missverstanden werden. Zahlenmäßig ist die Entropie die ausgetauschte Wärmemenge geteilt durch die Temperatur. In einem abgeschlossenen System bleibt die Entropie entweder immer gleich oder nimmt zu.

Zum Beispiel leistet eine typische Maschine Arbeit, indem sie den Wärmefluss von einem heißen zu einem kalten Reservoir ausnutzt; das sind zwei große Massen außerhalb der eigentlichen Mechanik. Nur wenn die Reservoirs eine konstante Temperatur beibehalten und wenn die Geräteteile keinerlei Reibung aufweisen, durchläuft die Maschine ihren Zyklus in völlig reversibler Weise, und die Gesamtentropie bleibt konstant. Da derart ideale Bedingungen in Wirklichkeit nie gelten, ist der Zyklus stets irreversibel, und die Entropie wächst. Irgendwann hat die Maschine die nutzbare Energie verbraucht, der Wärmefluss erlahmt, und die Entropie erreicht einen Maximalwert. Erst an diesem Punkt sind Reservoirs und Maschine miteinander im Gleichgewicht - und dabei bleibt es von nun an.

Die Tatsache, dass die klassische Thermodynamik Gleichgewichtssituationen voraussetzt, schränkt die Anwendbarkeit des zweiten Hauptsatzes ein. Begriffe wie Entropie und Temperatur lassen sich nicht einmal definieren, wenn das System aus dem Gleichgewicht ist. Außerdem können viele Systeme nicht wie eine Wärmekraftmaschine behandelt werden. Ein Beispiel ist der Kosmos: Wenn der Raum expandiert, kann die Entropie unbegrenzt wachsen, so dass das Universum sich zwar dem Gleichgewicht nähert, es aber niemals erreicht (siehe »Der kosmische Ursprung des Zeitpfeils« von Sean M. Carroll, Spektrum der Wissenschaft 8/2008, S. 26). All diese Systeme haben gemeinsam, dass sie nicht einmal annähernd im Gleichgewicht sind.


Spiegelbildliche Prozesse

Nichtgleichgewichtssysteme zeigen manchmal faszinierende Verhaltensweisen, die von der klassischen Theorie nicht erfasst werden und die der Vorstellung, die Natur werde von selbst immer unordentlicher, glatt widersprechen. Betrachten wir ein alltägliches Gerät, den elektrischen Toaster. Der Draht in seinem Innern erhitzt sich, weil das Drahtmaterial dem Stromfluss elektrischen Widerstand entgegensetzt. Dem zweiten Hauptsatz zufolge ist dieser Vorgang irreversibel: Ein Toaster lässt sich nicht verwenden, um ein Stück Brot zu »enttoasten« und auf diese Weise Strom zu produzieren.

Man kann allerdings etwas Ähnliches erreichen. Indem man zwischen den Enden des Toasterdrahts eine Temperaturdifferenz erzeugt, sorgt man dafür, dass das System dauerhaft aus dem Gleichgewicht ist. Dann wird es in der Tat Strom erzeugen. Diese Umkehrung ist die Grundlage des Thermoelements, eines Geräts, das zur Temperaturmessung oder als Energiequelle verwendet wird.

Ein verwandtes Phänomen ist die Umkehrosmose zur Meerwasserentsalzung. Bei der gewöhnlichen Osmose erzeugt unterschiedliche Salzkonzentration zu beiden Seiten einer Membran einen Druckunterschied, wodurch Wasser zur salzigeren Seite strömt und sie verdünnt.

Dadurch nähert sich das System dem Gleichgewicht. Bei der Umkehrosmose hält ein äußerer Druck das System vom Gleichgewicht fern und zwingt Wasser, zur weniger salzigen Seite zu strömen und trinkbar zu werden.

Toaster und Thermoelement sowie normale und Umkehrosmose liefern Beispiele für spiegelbildliche Prozesse. Sie sind durch die so genannte Reziprozitätsrelation verbunden, für deren Formulierung der norwegische Physiker Lars Onsager 1986 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Diese Symmetrie folgt aus der Reversibilität der Gesetze, denen die Bewegung der einzelnen Teilchen im System gehorcht. Diese Gesetze bleiben unverändert, wenn man die Zeitrichtung umkehrt. Die Irreversibilität, die wir auf makroskopischem Niveau beobachten, entsteht erst, wenn wir große Teilchenmengen statistisch betrachten.

Die Entdeckung der Reziprozitätsrelation veränderte die Vorstellung der Physiker vom Gleichgewicht. Sie waren gewohnt, darin den am höchsten geordneten Zustand zu sehen: Zwar mögen die Moleküle maximal ungeordnet umherjagen, aber das gesamte System verhält sich ruhig, symmetrisch und geordnet. Doch wie die Reziprozitätsrelation beispielhaft zeigt, kann auch ein Nichtgleichgewichtssystem hochgradig geordnet sein. Fern vom Gleichgewicht können spontan Gleichmaß, Symmetrie oder Inseln der Ruhe entstehen.

Ein weiteres klassisches Beispiel ist eine dünne Flüssigkeitsschicht, die von unten erhitzt wird. Wärme fließt von unten nach oben, und in der Schicht bildet sich ein vertikaler Temperaturgradient. Durch Verstärken des Gradienten lässt sich die Abweichung vom Gleichgewicht erhöhen. Bei sehr kleinen Gradienten bleibt die Flüssigkeit insgesamt in Ruhe. Doch bei genügend großem Temperaturgefälle beginnt sie sich zu bewegen. Diese Konvektion ist keineswegs chaotisch, sondern erstaunlich regelmäßig strukturiert. Kleine sechseckige Zellen bilden sich, als wäre die Flüssigkeit ein Kristall. Erst bei noch größeren Gradienten wird die Bewegung turbulent. Dieses so genannte Bénard-Phänomen demonstriert, dass ein System, während es sich vom Gleichgewicht entfernt, zwischen Ordnung und Chaos oszillieren kann.

Ein anderes Experiment beginnt mit einer ruhenden Flüssigkeit. Sie ist isotrop, das heißt, sie sieht in jeder Richtung gleich aus. Dann wird die Flüssigkeit gezwungen, ein Metallgitter mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu passieren. Obgleich hinter dem Gitter Turbulenz entsteht, strömt die Flüssigkeit immer noch in einer Richtung. Somit ist die Flüssigkeit nicht mehr isotrop. Wenn man die Geschwindigkeit erhöht, wird die Turbulenz schließlich so groß, dass die Flüssigkeit nicht mehr in eine Richtung strömt. Jetzt ist sie wiederum isotrop. Das System ist von isotrop zu anisotrop und wieder zurück zu isotrop übergegangen - ein Wechsel von Ordnung zu Unordnung zu Ordnung.

Dass die übliche Theorie solche Phänomene nicht zu erfassen vermag, hat sich in den letzten Jahren als immer größeres Hemmnis erwiesen. Molekularbiologen und Forscher auf dem neuen Gebiet der Nanotechnik haben in physikalischen, chemischen und biologischen Systemen eine große Vielfalt von organisierten, aber immerfort wandelbaren Strukturen entdeckt. Deren Erklärung erfordert eine Theorie der Nichtgleichgewichtsthermodynamik.


Lokale Gleichgewichtszustände

Frühere Versuche, eine solche Theorie zu entwickeln, gingen vom Begriff des lokalen Gleichgewichts aus. In einem insgesamt nicht ausbalancierten System können einzelne Teile durchaus im Gleichgewicht sein. Angenommen, wir rühren einen Cocktail mit einem Stäbchen um. Durch die Bewegung des Quirls wird das Gleichgewicht gestört, kann aber in kleinen Nischen, die ihren inneren Zusammenhalt nicht verlieren, dennoch weiter herrschen. Diese kleinen Gebiete können im Gleichgewicht bleiben, wenn die auf das System wirkenden Kräfte nicht allzu groß werden und wenn seine Eigenschaften sich über kleine Distanzen nicht allzu sehr ändern. Für solche Inseln der Ruhe gelten Begriffe wie Temperatur und Entropie, obwohl deren Zahlenwerte von einer Insel zur anderen durchaus variieren können.

Wenn man beispielsweise einen Metallstab an einem Ende erhitzt, fließt Wärme durch das Metall zum anderen Ende. Der Temperaturunterschied zwischen den Enden wirkt als treibende Kraft für den Wärmefluss durch den Stab. Das gleiche Phänomen tritt bei einem Tintentropfen in Wasser auf. Hier ist der Unterschied der Tintenkonzentration die treibende Kraft, die dafür sorgt, dass die Tinte in die umgebende Flüssigkeit eindringt, bis eine gleichmäßige Färbung entsteht. Diese Kräfte sind linear: Der Wärmefluss ist proportional zur Temperaturdifferenz und der Teilchenfluss proportional zum Konzentrationsunterschied. Dies gilt sogar dann, wenn die auf das System einwirkenden Kräfte stark sind. Selbst in vielen turbulenten Strömungen sind die internen Drücke und Spannungen proportional zu den Geschwindigkeitsgradienten. Für solche Fälle formulierten Onsager und andere eine Nichtgleichgewichtstheorie und zeigten, dass der zweite Hauptsatz weiterhin gilt.

Doch wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, bricht die Theorie zusammen. Bei einer chemischen Reaktion verwandelt sich eine Substanz plötzlich in eine andere - ein abrupter Wechsel, den eine nichtlineare Gleichung beschreibt. Die Theorie versagt auch, wenn das System so klein ist, dass chaotische Molekülbewegungen sein Verhalten prägen, wodurch die Systemeigenschaften über kurze Distanzen extrem variieren. Solche Fluktuationen dominieren, sobald Prozesse in mikroskopischen Systemen stattfinden, etwa beim Kondensieren von Wasserdampf und dem Transport von Ionen durch einen Proteinkanal in einer Zellmembran. In solchen Fällen sind Temperatur und Entropie keine wohl definierten Größen mehr. Was wird dann aus dem zweiten Hauptsatz?

In den letzten Jahren haben David Reguera von der Universidad de Barcelona, José M. G. Vilar vom Sloan-Kettering Institute in New York und ich die Thermodynamik für diese Bereiche erweitert. Wie wir zeigten, lösen sich viele Probleme durch einen Wechsel der Perspektive von selbst. Was wir als abrupt wahrnehmen, hängt vom Zeitmaßstab ab. Könnten wir einen der scheinbar augenblicklichen Prozesse in Zeitlupe beobachten, nähmen wir eine allmähliche Umwandlung wahr, als sähen wir einem Stück Butter zu, wie es in der Sonne schmilzt.

Der Trick besteht darin, die Zwischenstufen der Reaktion mit Hilfe neuer Variablen zu verfolgen. Ohne diesen erweiterten Rahmen bleibt das System während des gesamten Vorgangs im lokalen thermodynamischen Gleichgewicht. Die zusätzlichen Variablen bereichern das Systemverhalten. Sie definieren eine Energielandschaft, durch die sich das System bewegt wie ein Bergsteiger im Gebirge. Täler entsprechen einem Bereich niedriger Energie, in dem einmal molekulares Chaos herrscht, ein andermal Ordnung. Das System kann sich in einem Tal niederlassen und dann durch äußere Kräfte in ein anderes geschubst werden. Wenn es von Chaos beherrscht wird, kann es aus der Unordnung ausbrechen und Ordnung finden, oder umgekehrt.

Betrachten wir als Nächstes das Problem der Fluktuationen. Versagt die Thermodynamik, wenn Systeme extrem klein sind? Ein einfaches Beispiel zeigt, dass die Antwort Nein lautet. Wenn wir eine Münze nur wenige Male werfen, könnten wir zufällig einmal eine Serie von Kopf statt Zahl bekommen. Doch je öfter wir den Münzwurf wiederholen, desto zuverlässiger nähert sich das Resultat dem statistischen Erwartungswert an. Die Natur ist ein unermüdlicher Münzwerfer. Wenige Partikel, die sich in einem Behälter umherbewegen, kollidieren nur gelegentlich und können höchst unterschiedliche Geschwindigkeiten lange beibehalten. Doch selbst in einem scheinbar »kleinen« System ist die Anzahl der Teilchen viel größer, Kollisionen sind viel häufiger, und das Tempo der Teilchen wird zu einem gemeinsamen Wert ausgeglichen, der höchstens ein wenig fluktuiert. Zwar können ein paar isolierte Ereignisse völlig unvorhersehbar verlaufen, aber die allermeisten Vorgänge lassen eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen. Darum können Größen wie der Druck fluktuieren und dennoch vorhersagbar bleiben. Aus diesem Grund herrscht der zweite Hauptsatz auch über die Welt des mikroskopisch Kleinen.


Von der Dampfmaschine zum Molekülmotor

Ursprünglich wurde die Entwicklung der Thermodynamik durch die Dampfmaschine angeregt, doch heutzutage entwickelt sich das Gebiet angesichts der winzigen molekularen Maschinen in der lebenden Zelle weiter. So extrem unterschiedlich groß diese Maschinen sind, haben sie doch eine Funktion gemeinsam: Sie wandeln Energie in Bewegung um. Zum Beispiel liefern ATP-Moleküle den Treibstoff für die Myosinmoleküle im Muskelgewebe, die sich an Aktinfilamenten entlanghangeln und die Muskelfasern, an denen sie befestigt sind, mitziehen. Andere Motoren werden von Licht angetrieben, von Unterschieden der Protonenkonzentration oder von Temperaturdifferenzen (siehe »Molekulare Motoren« von R. Dean Astumian, Spektrum der Wissenschaft 1/2002, S. 36). Chemische Energie vermag Ionen durch Kanäle in einer Zellmembran von einer Region niedriger Konzentration in ein Gebiet hoher Konzentration zu befördern - genau entgegen der Richtung, die sie ohne einen aktiven Transportmechanismus einschlagen würden.

Die Ähnlichkeit zwischen großen und kleinen Maschinen geht sehr weit. Fluktuationen der chemischen Energie beeinflussen einen molekularen Motor genau so, wie eine zufällig variierende Treibstoffmenge den Kolben eines Automotors beeinflusst. Darum lässt sich der lange geübte Brauch, die Thermodynamik auf große Motoren anzuwenden, auf winzig kleine Geräte ausdehnen. Zwar verfügen Physiker auch über andere mathematische Werkzeuge für die Analyse solcher Systeme, aber diese Methoden machen in der Praxis oft enorme Schwierigkeiten. Beispielsweise erfordern die Strömungsgleichungen exakte Angaben für die Randbedingungen eines Systems - bei extrem unregelmäßigem Rand eine fast unlösbare Aufgabe. Die Thermodynamik bietet eine rechnerische Abkürzung, und sie hat bereits überraschende Erkenntnisse geliefert. So haben Signe Kjelstrup und Dick Bedeaux von der Norwegischen Universität für Naturwissenschaft und Technik in Trondheim zusammen mit mir herausgefunden, dass die Wärme eine wichtige, bislang unterschätzte Rolle für die Funktion von Ionenkanälen spielt.

Alles in allem ergeben unsere Forschungen, dass die Entwicklung von Ordnung aus Chaos dem zweiten Hauptsatz nicht nur nicht zuwiderläuft, sondern in einen erweiterten thermodynamischen Rahmen bestens hineinpasst. Wir sind kurz davor, diese neue Einsicht für praktische Anwendungen zu nutzen. Das Perpetuum mobile bleibt ein Ding der Unmöglichkeit, und weiterhin gilt, dass wir im Kampf gegen Abnutzung und Verfall letztlich unterliegen müssen. Aber der zweite Hauptsatz verlangt keinen gleichförmigen Niedergang. Er lässt sich ohne Weiteres mit der spontanen Entwicklung von Ordnung und Komplexität vereinbaren.


J. Miguel Rubí ist Physikprofessor an der Universidad de Barcelona (Spanien). Im Jahr 2003 erhielt er die Onsager-Medaille der Norwegischen Universität für Naturwissenschaft und Technik in Trondheim sowie den Alexandervon-Humboldt-Preis der gleichnamigen Stiftung für seine Beiträge zur Nichtgleichgewichtsthermodynamik und zur Theorie stochastischer Prozesse.


Wunschartikel: Thermodynamik - Hören Sie dazu auch unseren Podcast Spektrum Talk unter
www.spektrum.de/talk


Literatur:

Kjelstrup, S. et al.: Active Transport: A Kinetic Description Based on Thermodynamic Grounds. In: Journal of Theoretical Biology 234(1), S. 7 - 12, 2005.

Reguera, D. et al.: The Mesoscopic Dynamics of Thermodynamical Systems. In: Journal of Physical Chemistry B 109(46), S. 21502 - 21515, 2005.

Röpke, G.: Statistische Mechanik für das Nichtgleichgewicht. Wiley-VCH, Weinheim 1987.

Vilar, José M. G., Rubí, J. M.: Thermodynamics »Beyond« Local Equilibrium. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 98(20), S. 11081 - 11084, 2001.

Weblinks zu diesem Thema
finden Sie unter www.spektrum.de/artikel/983266.


ZUSATZINFORMATIONEN:

Lebende Organismen sind offene Systeme fern vom Gleichgewicht. Solche Gebilde sind nicht zu raschem Zerfall verurteilt, sondern können spontan neue Ordnungsstrukturen bilden.


Normalerweise dominiert der Trend zur Unordnung: Verschüttetes Wasser sammelt sich nicht spontan wieder im Glas.


Der zweite Hauptsatz

Die Thermodynamik untersucht Vorgänge, bei denen Energie und Wärme ausgetauscht werden. Während der erste Hauptsatz die prinzipielle Erhaltung der Energie ausdrückt, besagt der zweite Hauptsatz: Bei fast allen Prozessen entweicht Energie als Wärme in die Umgebung. Solche Prozesse sind irreversibel; um sie umzukehren, muss man zusätzlich Energie aufwenden. Daraus folgt:

Der Wirkungsgrad von Maschinen ist grundsätzlich begrenzt.
Wärmepumpen sind effizienter als Öfen, weil sie Wärme bewegen, statt sie zu erzeugen.
Das Löschen eines Computerspeichers ist ein irreversibler Vorgang und erzeugt deshalb Wärme.


Anwendungen I

Viele wichtige physikalische und biochemische Prozesse laufen so fern von einem Gleichgewicht ab, dass die übliche Thermodynamik sie nicht erfasst. Der Autor und seine Kollegen haben diese Beschränkung überwunden.

Mikrofluide
Durch mikroskopische Kanäle strömende Flüssigkeiten neigen zu Effekten, die bei größeren Kanälen vernachlässigbar sind, etwa zur Moleküldiffusion. Zudem sind die üblichen Strömungsgleichungen oft unlösbar. Die neue Nichtgleichgewichtstheorie der Thermodynamik umgeht diese Schwierigkeiten und vermag die grundlegenden Strömungseigenschaften einfach zu berechnen.


Anwendungen II

Chemische Reaktionen und andere Prozesse wie die Kristallisation sind prinzipiell nichtlinear: Sie treten nur auf, wenn die Energie eine bestimmte Schwelle überschreitet. Noch komplexer werden sie in einem Medium, bei dem Dichte und andere Eigenschaften variieren. Die Nichtgleichgewichtstheorie vermag dennoch die Reaktionsraten vorherzusagen.

Molekülfaltung
Fäden von Aminosäuren lagern sich zu dreidimensionalen Proteinen zusammen, deren Form über ihre biologische Funktion Aufschluss gibt. Der Vorgang ist ungeheuer schwer zu erklären. Die Nichtgleichgewichtstheorie erzielte kürzlich gewisse Erfolge bei dem umgekehrten Problem, wie RNA-Moleküle sich auffalten.


Anwendungen III

Zellmembranen
Um durch Zellmembranen zu schlüpfen, nutzen Moleküle verschiedene biochemische Hilfsmittel wie Ionenkanäle und Proteine, die wie eine Ratsche eine Bewegungsrichtung auszeichnen. Das Tempo dieses Vorgangs hat die Theoretiker lange verblüfft. Wie die neue Theorie zeigt, fördern gerade vermeintliche Komplikationen - große und anhaltende Abweichung vom Gleichgewicht sowie Nichtlinearitäten und Dichtefluktuationen - den Molekültransport.


Heiß oder kalt: die Tücken des Temperaturbegriffs

Auf den ersten Blick erscheint die Temperatur als einfacher, universeller Begriff. Dinge können heiß oder kalt sein, aber haben sie nicht immer eine bestimmte Temperatur? Nicht ganz. Eine Temperatur lässt sich nur Systemen zuweisen - etwa den unzähligen Molekülen in einem Glas Wasser -, die einen mehr oder weniger stabilen Gleichgewichtszustand erreicht haben. Je weiter ein System sich vom Gleichgewicht entfernt, desto verschwommener wird der Temperaturbegriff.

Gleichgewicht
Ein Glas Wasser nimmt die Umgebungstemperatur an. Die Wassermoleküle kollidieren und verteilen ihre Energie so um, dass ein stabiles Geschwindigkeitsmuster entsteht. Eine einzige Zahl - die Temperatur - genügt, um dieses Muster zu beschreiben. Hier gilt die klassische Thermodynamik.

Leichtes Ungleichgewicht
Erwärmen stört das Gleichgewicht. Doch bei mäßiger Wärmezufuhr bleiben einzelne Schichten im lokalen Gleichgewicht, und das Wasser lässt sich durch einen nach unten zunehmenden Temperaturwert beschreiben. Hier gilt die im 20. Jahrhundert entwickelte Nichtgleichgewichtsthermodynamik.

Starkes Ungleichgewicht
Bei kräftigem Erhitzen geraten die Moleküle völlig durcheinander; der Temperaturbegriff versagt. Um das System zu beschreiben, müsste man viele neue Variablen einführen und im Extremfall sogar die Molekülgeschwindigkeiten einzeln spezifizieren. Diese Situation verlangt nach einer neuen Theorie.

Molekülgeschwindigkeiten
Temperatur ist eigentlich das Maß einer ganzen Geschwindigkeitsverteilung. Bei leichter Abweichung vom Gleichgewicht ist diese Verteilung nur verschoben, doch bei starker Abweichung wird sie verzerrt und macht den Temperaturbegriff bedeutungslos.


Ordnung und Unordnung fern vom Gleichgewicht

Obwohl die Moleküle in einem System, das aus dem Gleichgewicht gerät, ein Bild hoffnungslosen Durcheinanders bieten, vermag das System gewisse Ordnungszustände zu bilden. In der klassischen Thermodynamik sind solche Übergänge nicht vorgesehen, doch die neue Nichtgleichgewichtstheorie erklärt, wie sie zu Stande kommen.

Gleichgewicht
Ein Wasservolumen bei Zimmertemperatur sieht in jeder Richtung gleich aus; diese Symmetrie heißt Isotropie.

Leichte Abweichung
Bei Erwärmung von unten entwickelt sich im Wasser ein Temperaturgradient, doch solange der Gradient zu schwach ist, den viskösen Bewegungswiderstand zu überwinden, bleibt die Flüssigkeit in Ruhe.

Stärkere Abweichung
Bei größerem Temperaturgefälle beginnt das Wasser sich umzuwälzen und ein geordnetes Muster von Konvektionszellen zu bilden.

Starke Abweichung
Bei zunehmender Erhitzung bricht das regelmäßige Konvektionsmuster schließlich zusammen. Turbulentes Chaos entsteht.

Extreme Abweichung
Bei noch stärkerer Wärmezufuhr beginnt sich das Chaos gleichmäßig zu verteilen, und die Flüssigkeit gewinnt die verlorene Isotropie zurück.


© 2009 J. Miguel Rubí, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 4/09 - April 2009, Seite 30 - 35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2009