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POLITIK/006: Teilhabe ist keine Verhandlungssache (spw)


spw - Ausgabe 2/2016 - Heft 213
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Teilhabe ist keine Verhandlungssache

von Verena Bentele


Wenn wir heute über Inklusion sprechen, so sehen wir alle einen kleinen Film vor dem inneren Auge, eine Schlagzeile, die auf unserer Netzhaut blinkt oder wir glauben zu hören, wie jemand laut und eindringlich die Wahrung seiner Rechte als Bürger dieses Landes einfordert.

Dennoch ist für viele Menschen das Wort sehr abstrakt und weit weg von der eigenen Lebensrealität. Die Stufe vor dem Bäcker behindert den unbekannten Mann im Rollstuhl, es ist die unbekannte blinde Frau auf dem Bahnhof, die nicht sieht, dass ihr der Zug wegen einer Gleisänderung vor der Nase wegfährt.

Deshalb möchte ich in diesem Beitrag das Wort "Inklusion" durch das Wort "Teilhabe" ersetzen. Der Begrifflichkeit Teilhabe gebe ich im Folgenden unterschiedliche Bedeutungen, die am Ende eine Ebene erzeugen: Eine Ebene, auf der sich alle Menschen begegnen können, egal wie alt sie sind, egal welcher Herkunft, egal, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Auf der ersten Ebene meint Teilhabe die Gestaltung einer Gesellschaft durch gesetzliche Rahmenbedingungen, die garantieren, dass Menschen mit und ohne Behinderung ohne Hindernisse gemeinsam alle Lebensbereiche teilen können - von der Arbeit, über die Gestaltung der Freizeit, von der Nutzung der Gesundheitsversorgung bis hin zu politischem Engagement.

Ein aktuelles Gesetzesvorhaben, das diesem Ziel verpflichtet ist, ist beispielsweise die Reform des Behindertengleichstellungsrechts (BGG). In dieser Reform soll unter anderem geregelt werden, dass zukünftig alle Menschen einen amtlichen Bescheid einer Bundesbehörde als Erläuterung in leichter Sprache erhalten können. Leichte Sprache meint, dass wesentliche Inhalte in kurzen Sätzen, ohne Fremdwörter, leicht verständlich dargestellt werden. Mit dieser Erläuterung halten zukünftig viele Menschen einen neuen Schlüssel in der Hand: Sie werden so in die Lage versetzt, selbst zu entscheiden wann sie von wem Hilfe erhalten wollen, um mit staatlichen Stellen in Kontakt zu treten.

Dieses vom Gesetzgeber geplante Verfahren hilft sicher vielen Menschen. Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen, die gerade die deutsche Sprache lernen; ja, vielleicht hilft es auch jedem von uns wenn Sätze nicht dazu gemacht sind, uns zu irritieren.

Im Moment sind auf der Ebene der Gesetzgebung tiefgreifende Reformen angedacht: So steht derzeit ein neues Gesetz zur Regelung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung kurz vor der Zustimmung durch das Kabinett. In diesem Gesetz soll unter anderem neu geregelt werden, dass Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können, wo sie wann und von wem Hilfe und Unterstützung erhalten.

Und dies durch einen gesetzlichen Rahmen zu klären, ist zwingend notwendig. Denn von einer echten Selbstbestimmung sind wir in Deutschland noch immer weit entfernt. Das klingt abstrakt, ist es aber für viele Menschen im Alltag nicht.

Nehmen wir einmal ein konkretes Beispiel: Ein 25-jähriger Mann hat mitten im Studium einen schweren Unfall. Nach dem Unfall ist er so eingeschränkt, dass er im Alltag Unterstützung beim Aufstehen am Morgen braucht. Er benötigt Hilfe beim Waschen, beim Anziehen der Kleidung und beim Einnehmen des Frühstücks.

Der Weg zur Universität kann mit Hilfe eines Fahrdienstes zurückgelegt werden. An der Universität kann der junge Mann mit Hilfe des Assistenten alle Bücher aus der Tasche holen, in der Mensa am Mittagessen teilnehmen oder auch Räume erreichen, vor denen eine Stufe ist, die ein Rollstuhl nicht ohne Hilfe überwinden kann.

So weit so fiktiv.

In der Realität könnte das Leben unseres Studenten mit Hilfe von persönlichen Assistenten trotz der Einschränkungen noch sehr selbstbestimmt und vielfältig gestaltet werden.

Allzu oft jedoch werden die Lebensentwürfe von Menschen mit Behinderungen von Regelungen bestimmt, die ein solches Modell nicht fördern. Wie weit das im konkreten Fall so ist, wird wesentlich von dem Zufall abhängen, ob sein Unfall auf dem Weg zur Universität oder Arbeit geschah oder in der Freizeit. Im ersten Fall ist er durch die gesetzliche Unfallversicherung gut gesichert, im zweiten Fall auf Sozialhilfe angewiesen.

Allzu oft höre ich von Fällen junger Menschen, die in Pflegeeinrichtungen für Senioren leben, die dort nicht mit Gleichaltrigen sprechen, lernen, arbeiten oder auch feiern gehen können.

Selbstbestimmung, und das muss ganz eindeutig der Gesetzgeber regeln, bedeutet also, dass jeder Mensch seinen Bedürfnissen angemessen unterstützt wird und nicht wegen Behinderung in Armut fällt.

Eine weitere Ebene der Teilhabe ist neben der Gesetzgebung die der Ressourcen.

Viele größere Firmen leisten sich inzwischen in ihrer Personalabteilung den Posten des Diversity Managers. Dieser hat vor allem die Aufgabe zu gewährleisten, dass die Unterschiedlichkeit der Beschäftigten dem Unternehmen ein Mehr an Effektivität, Kreativität und Innovationskraft verleiht. Dieses Potential sollte, so die Anforderung aus gängigen Stellenprofilen, am besten unaufgefordert zur Verfügung gestellt werden.

Will jedoch ein Unternehmen wirklich Produkte und Dienstleistungen anbieten, die sich von anderen unterscheiden, die aber auch einer Gesellschaft Rechnung tragen die immer älter, immer multikultureller und immer individueller wird, so bedarf es wohl doch mehr einer aktiven Förderung von gelebter Vielfalt.

Teilhabe bedeutet hier also, dass wir dringend Ressourcen benötigen, die das Arbeiten für alle Menschen zu einem Raum der Sinngebung und Wertschöpfung werden lassen.

Immer mehr Menschen scheiden heute aus dem Arbeitsleben aus, teils wegen körperlicher Beeinträchtigungen, viel häufiger jedoch ist die Ursache eine psychische Erkrankung. Wenn wir all diese Menschen dauerhaft in der Mitte der Gesellschaft behalten wollen, so bedarf es hier sicher mehr als nur des guten Willens eines Diversity-Managements, das zwischen Vortragsreihen und Erlebnispädagogik wenige Ansätze findet.

Wer jedoch Teilhabe als Aufgabe aller versteht, der Unternehmen ebenso wie der Rehabilitationsträger, der muss dringend Möglichkeiten entwickeln um Menschen mit besonderen Voraussetzungen Unterstützung zu geben.

Der Einsatz von Ressourcen kann also bedeuten, dass für Menschen mit Behinderungen eine notwendige Arbeitsassistenz finanziert wird, der Arbeitsplatz barrierefrei umgestaltet wird, dass aber auch alle Möglichkeiten der Rehabilitation genutzt werden, bevor eine Verrentung das Mittel der Wahl ist. "Rehabilitation vor Rente" ist im besten Sinne aktivierende Sozialpolitik und ökonomisch effektiv. In der Praxis scheitert der Grundsatz viel zu oft, weil es für Unternehmen oder Krankenkassen ganz kurzfristig rationaler ist, auf Verrentung zu setzen.

Teilhabe, und das ist eine dritte Ebene, bedeutet auch die aktive Gestaltung einer Gesellschaft.

Wir alle argumentieren aus unserem Erleben, nutzen eigene Erfahrungen und haben Werte, die unser Handeln beeinflussen.

Dass unsere Erlebnisse und Erfahrungen unterschiedlich sind, ist in der Biografie jedes Einzelnen begründet. Deshalb ist es eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabe, dass möglichst viele Perspektiven in gesellschaftliche Prozesse und politisches Handeln eingebracht werden.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich eine Frau kennengelernt, die sich politisch engagieren wollte. So weit so gut. Die Frau ist jedoch gehörlos und benötigt für ihre Kommunikation einen Gebärdensprach-Dolmetscher.

Da die Kosten für Dolmetscher nicht unerheblich sind, ist das politische Engagement in ihrem Fall sehr schnell keine Frage der persönlichen Fähigkeiten und des eigenen Wollens mehr. Vielmehr wurden die Möglichkeiten der Teilhabe von Sozialhilfeträger und Partei verhandelt.

In der Realität entscheiden oft Barrieren wie Stufen vor dem Veranstaltungsraum, keine Informationen in leichter Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder auch die fehlende Begleitung zu einem Kongress von blinden Menschen darüber, ob eine individuelle Perspektive eingebracht werden kann oder nicht.

Verhandelbar sind auf allen Ebenen die Gelingensbedingungen für Teilhabe. Denn diese Wege sind sehr individuell und sehen für alle Menschen mit besonderen Bedürfnissen unterschiedlich aus.

Nur etwa 4 Prozent aller Menschen mit Behinderungen haben diese von Geburt an, 96 Prozent jedoch erwerben ihre Behinderung im Lauf ihres Lebens. In einer Gesellschaft, die immer älter wird, in der jeder von uns in seinem Umfeld Kontakt zu Menschen mit Behinderungen hat, in der das Morgen auch für uns anders aussehen kann als das Heute, muss eines klar sein: Zum Recht auf Teilhabe muss sich eine Gesellschaft eindeutig und kompromisslos bekennen. Dieses Bekenntnis formuliert unser Grundgesetz im ersten Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Und dieser erste Satz wird konkretisiert durch Artikel 3, Absatz 3, Satz 2: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden".

Teilhabe braucht also alle Menschen, denn eine Gesellschaft ohne Hindernisse ist auf Weitsicht, Verständnis und Mitbestimmung gegründet.


Verena Bentele ist die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2016, Heft 213, Seite 17-19
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2016

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