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ARTIKEL/394: Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung - Gesprächsrunde (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 3/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Es ist an der Zeit
Ein Abend mit Stefan Weinmann und Elke Prestin

von Marie Schmetz


Im Rahmen des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung hatte die Stiftung für Soziale Psychiatrie gemeinsam mit der Mannheimer Initiative Psychiatrie-Erfahrener (MIPE) am 11. Mai 2019 in die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim eingeladen. Die Veranstaltung wurde ermöglicht durch eine Förderung der Aktion Mensch.

Nachdem wir uns vom Bahnhof durch die windige Planstadt bis zum Häuserblock C5 durchgeschlagen haben, erwartet uns ein imposantes Ambiente: Von der freundlichen Weltmusik des Akkordeonspielers Andreas Rathgeber begrüßt, treten wir ins beeindruckende Zeughaus ein und lassen uns mit Kaffee und Laugengebäck im Florian-Waldeck-Saal zwischen großformatigen Kurfürsten und Großherzögen nieder.

Jessica Reichstein, Mitglied des Stiftungsbeirates und des geschäftsführenden Vorstands der DGSP, begrüßt rund 100 Gäste und bedankt sich bei Christian Nieraese, der als Geschäftsführer der Stiftung für die Organisation der Veranstaltung hauptverantwortlich war. Dieser führt im Folgenden mit seiner unverwechselbaren und humorvollen Art durch den Abend.

Der Neuromythos

Das Bangen um die Pünktlichkeit von Stefan Weinmanns Zug stellt sich glücklicherweise als nicht berechtigt dar. Just in time kommt der Psychiater aus Berlin auf die Bühne, um sein gerade im Psychiatrie Verlag erschienenes Buch »Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets« vorzustellen. Hierin zeichnet er ein äußerst kritisches Bild der gegenwärtigen Psychiatrie und widerspricht dem nach wie vor vorherrschenden biologischen Paradigma der Disziplin: »Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und der psychischen Gesundheit.« Dies belegt er unter anderem mit Studienergebnissen eines Londoner Forschungsteams um James Kirkbride (2012), das den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Inzidenzraten (Neuerkrankung) psychotischer Erkrankungen untersucht hat. Innerhalb von London gebe es beispielsweise in solchen Vierteln eine höhere Neuerkrankungsrate, in denen die soziale Kohäsion geringer und die soziale Ungleichheit größer sei. Zudem zeigten umfangreiche kulturvergleichende WHO-Studien, dass der Verlauf psychotischer Erkrankungen in Ländern mit höherem Einkommen häufig ungünstiger sei als in Ländern mit niedrigerem Einkommen - wo weniger häufig stationär und mit Neuroleptika behandelt würde. Weinmann fährt fort: Das Gehirn sei ein soziales Organ, und Symptome gelte es insofern immer im sozialen Kontext zu verstehen und zu behandeln. Die Fokussierung auf das Individuum sei nicht zielführend, häufig blieben Behandlungen deshalb ja auch wenig erfolgreich. Warum machen aber so viele einfach weiter wie bisher? Dies liege an zahlreichen Selbsttäuschungen: »Die Art und Weise, wie wir Psychiatrie machen, ist Teil unserer Kultur. Auch wir sitzen bestimmten Mythen auf. ... Wir versuchen Nachweise zu finden für Thesen, die wir haben.« Von der Pharmaindustrie gesponserte Forschung und der verbreitete Einsatz von Psychopharmaka seien ein Beispiel. Obwohl die Medikamente trotz jahrelanger Weiterentwicklung nicht den Behandlungserfolg brächten, wie die Zulassungsstudien vor 20 oder 30 Jahren versprochen hätten, falle es den Psychiatern teilweise schwer umzudenken.

Psychiatrie muss sich grundlegend ändern

Mit Blick auf die Zukunft meint Weinmann dann vorsichtig optimistisch ein Revival des Sozialen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Psychiatrie beobachten zu können. Es werde immer klarer: »Psychische Erkrankungen sind immer Störungen in Beziehungen«, wobei sich soziale Erfahrungen natürlich biologisch-neuronal abbilden. Hier müsse auch die Behandlung stärker ansetzen, die therapeutische Beziehung spiele eine große Rolle. Es müsse sich ein Bewusstsein entwickeln für die teilweise chronifizierende Wirkung von Psychopharmaka, aber auch von Psychotherapie. Peer-Arbeit könne dazu beitragen, Stigmatisierung und Zwangsmaßnahmen zu reduzieren und ein verändertes Krankheitsverständnis zu entwickeln. Insgesamt sei mehr Wissen um psychische Gesundheit und Krankheit nötig (»mental health literacy«) und ein grundsätzlicher Diskurs über Psychiatrie und die Frage »Wie wollen wir leben?«. Bislang fehle noch ein gutes Konzept für die Zukunft der Psychiatrie.

Stigma und Würde

Die promovierte Sprachwissenschaftlerin Elke Prestin mit eigener Psychiatrie-Erfahrung setzt in ihrem rhetorisch starken Vortrag Weinmanns Gedanken fort und ergänzt und unterstützt sie mit einer Analyse der aktuellen Psychiatrie, philosophischen Ausführungen und persönlichen Erfahrungen. Den eigenen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik habe sie als »massiven biografischen Bruch« erlebt; sie sei aus allem herausgefallen: aus der wissenschaftlichen Karriere, der gesellschaftlichen Rolle und sozialen Beziehungen. Die Erfahrung von Stigmatisierung sowohl im Gesundheitssystem als auch durch das gesellschaftliche Umfeld in einer Phase der besonderen Verletzlichkeit habe die Selbststigmatisierung und ihre Schamgefühle noch befördert.

Ausgehend vom Würde-Begriff spannt Prestin einen Bogen über die UN-BRK hin zum »capabilities approach« von Martha Nussbaum: In Zeiten der Inklusion gelte es, Verwirklichungschancen für alle Menschen zu schaffen - und in der Psychiatrie solche Behandlungsansätze weiterzuentwickeln, die die Würde der Patienten achten und ihre Selbstachtung fördern. Trotz positiver Entwicklungen seit der Psychiatrie-Enquete gebe es heute weiterhin grundsätzliche Probleme. Unter anderem erschwere die »Versäulung« des Hilfesystems eine Vernetzung der Hilfsangebote und führe immer wieder zu Beziehungsabbrüchen, obwohl eine vertrauensvolle Beziehung wesentlich zum Erfolg einer therapeutischen Intervention beitrage. Als aktuelle Lösungsansätze bezeichnet Prestin die Modelle Integrierte Versorgung und Stationsäquivalente Leistungen (StäB). Auch das Bundesteilhabegesetz sei eine wichtige Errungenschaft hin zu mehr Selbstbestimmung mit Assistenzleistungen.

Psychiatrie als Ort der Fürsorge und Zuwendung

Als riskant betrachtet Prestin die gesundheitsökonomische Denkweise, die Patienten als Nutzer oder Kunden und die Psychiatrie als System des Tauschhandels begreife: Den Patienten als Kunden zu sehen, sei zynisch mit Blick auf Zwangsmaßnahmen, die Prestin unter gewissen Umständen als Ultima Ratio für zulässig hält. Auch die oftmals geforderte Verhandlung auf Augenhöhe sieht die Referentin kritisch. Aus eigener Erfahrung berichtet sie: »Es gibt Momente des Angewiesenseins«, in denen der bedürftige Mensch keine Dienstleistung erwarte, sondern Fürsorge brauche. Menschlichkeit gerate im ökonomischen Denken aus dem Blickfeld; diese zu erfahren, sei aber für sie und ihren weiteren Lebensweg von zentraler Bedeutung gewesen. Sie sei glücklicherweise Menschen begegnet, die sich mit Verständnis und Zuwendung für sie als ganzen Menschen interessiert, sich nach ihren Wünschen erkundigt und ihr etwas zugetraut hätten. Ohne diese Erfahrung würde sie heute nicht hier stehen.

Lebensumwege als Chance

Prestin rät ab von Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Vielmehr erkennt sie die ständige Gratwanderung zwischen Fürsorge und Autonomie im psychiatrischen Arbeiten an. Die Selbstachtung und Würde des Patienten müsse dabei immer handlungsleitend sein. Dafür brauche es Rahmenbedingungen, die Beziehungskontinuität ermöglichen und sich flexibel an die Bedürfnisse der Patienten anpassen. Vor allem brauche es mehr Zeit im System - für Beziehungsaufbau und Beziehungspflege, aber auch, um Gefühle zulassen und zeigen zu dürfen. Dies sei wichtig, damit Menschen wieder neue Wünsche und Ziele entwickeln und die Krankheitserfahrung in die eigene Lebensgeschichte integrieren könnten.

Zum Schluss befürchtet Prestin angesichts des gesamtgesellschaftlichen Trends zur Selbstoptimierung und mit Blick auf hohe psychische Anforderungen im Privat- und Berufsleben sowie die Beurteilung von Beziehungen nach Kosten-Nutzen-Relationen, die Gesellschaft laufe insgesamt Gefahr, die Menschenwürde aus den Augen zu verlieren. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen könnten hier auch eine Chance bieten, wichtige Werte neu zu entdecken: einen leistungsunabhängigen Wert des Lebens etwa oder einen Wert des persönlichen Wachstums, der gerade auch durch Krisen und Brüche im Leben ermöglicht wird.

Es geht ums Wesentliche. Das Publikum ist begeistert und hat noch viele Anmerkungen und Fragen, die Referent und Referentin auf dem Podium gemeinsam beantworten - bevor Stefan Weinmann wieder rasch zum Zug muss. Q.e.d.: Es braucht mehr Zeit im System. Das üppige Büffet tröstet, hier findet ein sehr kurzweiliger und inspirierender Abend sein Ende.


Hinweis:
Die Vortragsfolien von Elke Prestin sind online abrufbar unter: www.dgsp-ev.de/stiftung/veranstaltungen. Stefan Weinmanns Ausführungen finden sich in seinem Buch »Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets«, erschienen im Psychiatrie Verlag (2019), erhältlich für 25 Euro.

Marie Schmetz, SP-Redaktionsmitglied und Mitarbeiterin im Bereich Öffentlichkeitsarbeit in der DGSP-Geschäftsstelle

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 3/19, Juli 2019, Seite 49-50
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2020

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