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BERICHT/308: Leben wie es uns gefällt (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2009

Leben wie es uns gefällt
Die Viererbande aus Mülheim: selbstständig wohnen trotz hohen Hilfebedarfs

Von Ludwig Janssen


Viele trauen Menschen mit hohem Hilfebedarf nicht zu, außerhalb eines Heims zu leben. Eine Wohngemeinschaft in Mülheim an der Ruhr zeigt, dass es möglich ist. Vier Menschen haben dort ein Zuhause gefunden und sind sehr zufrieden.


Viele Gespräche in den Familien und mit den Mitarbeitern der Lebenshilfe, Verhandlungen mit der Stadt und dem Landschaftsverband Rheinland sowie die Renovierung eines Hauses waren notwendig, aber eines Tages war es dann soweit: Das Haus in der Meidericher Straße in Mülheim an der Ruhr konnte bezogen werden.

Es sieht aus wie alle anderen in der Reihe auch: zweigeschossig mit einem Vorgarten, Keller, Garage, Dachboden und einem kleinen Teich im handtuchgroßen Garten hinter dem Haus. Hier wohnt die Viererbande.

Das Türschild ist ein erstes Indiz dafür, dass es sich bei dem Haus mit der Nummer 67 nicht um ein "normales" Haus handelt. "Hier wohnt die Viererbande" ist darauf zu lesen. Das sind Kerstin Kübel, Tobias Galitzki, Christoph Sachse und Matthias Stadelhoff.

Eine weitere Besonderheit fällt auf, wenn man ihnen begegnet. Kerstin wiederholt beispielsweise permanent Wörter und verständigt sich mit einfachen Gebärden oder indem sie auf Bilder und Symbole zeigt. Oder Matthias: Er hat erst vor zwei Jahren Kontakt mit seiner Umwelt aufgenommen und kommuniziert seitdem mit Hilfe einer Erzähltafel.


Initiative der Eltern

Alle vier jedenfalls benötigen in allen Bereichen des täglichen Lebens Hilfestellung, Anleitung und sehr viel Ansprache. Sie sind darüber hinaus pflegebedürftig. Bei ihren Diagnosen, Krankheitsgeschichten und ihrem Hilfebedarf wundert man sich, dass sie nicht in einer stationären Einrichtung betreut werden, sondern selbstständig mit ambulanter Betreuung in einem eigenen Haus leben.

Dafür gesorgt haben ihre Eltern gemeinsam mit den Mitarbeitern der Lebenshilfe in Mülheim. Dass die vier selbstständig leben können, davon sind alle überzeugt. "Schließlich haben wir das 20 Jahre lang mit Unterstützung auch zu Hause geschafft", fasst Ulrike Stadelhoff, die Mutter von Matthias, die Zuversicht aller Beteiligten zusammen.

Sie wollten ein Stück Normalität für ihre Kinder. Normalität bedeutet für sie, dass alle Kinder ihr Elternhaus verlassen, wenn sie erwachsen werden. "Diese Normalität wollten wir auch für unsere Kinder", betont Bernhard Kübel, der Vater von Kerstin.


Hürden nehmen

Die erste Hürde war die Finanzierung des gemeinsamen Wohnprojektes. Der Landschaftsverband hat für das Projekt die Finanzierung als Persönliches Budget zugesagt. Das bedeutet, dass die Kosten für alle vier zusammen nicht über den Kosten für die Unterbringung in einer Wohnstätte liegen durften. Mit spitzer Feder gerechnet konnte die Lebenshilfe das zusichern. Dazu beigetragen hat auch, dass die Lebenshilfe nicht nur ambulante Betreuung zum selbstständigen Wohnen anbietet, sondern auch über einen anerkannten Pflegedienst verfügt. Die ambulante Wohnbetreuung konnte deswegen mit den Pflegeleistungen kombiniert werden.

Die zweite Hürde war zu nehmen, als eine geeignete Wohnung gesucht wurde. "Uns ist zwar nie offen gesagt worden, dass Behinderte unerwünscht sind, aber häufig mussten wir uns anhören, dass wir nicht in die Mieterstruktur passen", erzählt der Geschäftsführer der Lebenshilfe, Hermann Pförtner. Nach langem Suchen und vielen Besichtigungen wurde schließlich das Reihenhaus in der Meidericher Straße gefunden. "Die erste Besichtigung mit den zukünftigen Bewohnern und ihren Eltern war sehr emotional", erinnert er sich.

Bis auf die Elektro- und Sanitärarbeiten haben die Eltern die Renovierung des Hauses selber in die Hand genommen. Viele Gespräche zwischen kleistern, putzen und schrauben und eine durchgängig positive Stimmung bestimmten die vierwöchige Renovierungsphase. Auch die zukünftigen Bewohner waren in allen Phasen der Renovierung dabei und haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten geholfen. Am Tag des Einzugs war ihnen das Haus deswegen schon sehr vertraut. Bei einem gemeinsamen Kaffeetrinken von Bewohnern, Eltern und Betreuern wurde der Einzug gefeiert.


Betreuung rund um die Uhr

Betreut werden müssen Kerstin und ihre Mitbewohner - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - rund um die Uhr. Sobald einer von ihnen nach Hause kommt, ist mindestens ein Betreuer im Haus. Freitags wird eingekauft, am Sonntag die nächste Woche geplant, der Spätdienst bringt die Bewohner ins Bett.

Nachts ist jemand für Notfälle im Haus. "Bei Christoph muss man nachschauen, ob er den Fernseher ausgemacht hat. Kerstin muss versorgt werden, wenn sie nachts auf die Toilette geht, und Matthias geistert schon mal durchs Haus", erzählt Christoph Zumbrink. Er koordiniert die Betreuung, an der insgesamt fünf Fachkräfte und Aushilfen mit unterschiedlichen Zeitbudgets beteiligt sind.

"Die Anfänge waren sehr holprig", gesteht die Sozialarbeiterin Christiane Schmidt. "Aber das ist ja immer so: Wenn man zu Hause auszieht, muss man schauen, wie man alleine zurechtkommt."

Die alltäglichen Probleme und Veränderungen beschreibt Christoph Zumbrink an einem Beispiel: "Die Eltern von Kerstin haben erzählt, dass sie seit Jahren jeden Morgen Quark mit Obst essen würde. Weil sie kein stabiles Immunsystem aufbauen kann und unter anderem auf Nüsse, Hühnereier und Glutamat hoch allergisch reagiert, gab und gibt es strenge Regelen für ihre Ernährung. In ihrem neuen Zuhause wollte sie jedoch unbedingt Brot mit Käse."


Richtige Entscheidung

Als Zumbrink das Kerstins Mutter erzählte, war diese erschrocken, dass ihre Tochter all die Jahre Quark mit Obst essen musste. Mit etwas Abstand war das für sie jedoch eine Bestätigung für ihre Entscheidung, die Tochter ausziehen zu lassen: "Wir waren doch sehr eingefahren und Kerstin von uns abhängig. Ich habe das Gefühl, dass sie jetzt selbstständig und langsam erwachsen wird."

Solche kleinen Veränderungen registrieren Bewohner, Eltern und Betreuer sehr aufmerksam. Kerstin räumt ihre Wäsche selber in den Schrank, Matthias wurde von einem Cousin per E-Mail zum Geburtstag eingeladen und hat ihm mit der Hilfe von Betreuer Zumbrink geantwortet.

Christoph ist stolz darauf, dass er einen Schlüssel für das Haus hat. An seinem Geburtstag wurde das erste große Fest im Haus gefeiert. Er hat Freunde, Hausbewohner und Nachbarn eingeladen und wünschte sich Pizza für die Party.


Nicht ins Elternhaus zurück

Nach und nach wurden die vier in die Organisation des Alltags einbezogen: Tisch decken und abräumen, Wäsche waschen oder einkaufen. Zurück in das Elternhaus möchte niemand. "Ganz im Gegenteil", meint Christoph Zumbrink. "Alle wollen möglichst viel selbstständig machen und lehnen Hilfe eher erst mal ab." Nach und nach haben sie das Haus als ihr neues Zuhause angenommen.

Die Lebenshilfe in Mülheim hat bisher etliche Menschen mit einer Behinderung in Wohnungen mit ambulanter Betreuung vermittelt, die Mehrzahl wird noch in einer Wohnstätte betreut. "Davon können einige ebenfalls selbstständig wohnen", ist Hermann Pförtner überzeugt. Das sei selbst bei allen schwerer behinderten Menschen möglich, soweit keine medizinische Pflege notwendig sei.

Das größte Hindernis sieht er bei den Eltern, die ihren Kindern das nicht zutrauen. "Einer 80-jährigen Frau kann ich nur schwer vermitteln, dass ihr 55-jähriger Sohn zu Hause ausziehen soll, selbst wenn er das möchte", meint Christiane Schmidt. "Dann fehlt plötzlich der Alleinunterhalter", ergänzt Hermann Pförtner schmunzelnd.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Lebenshilfe setzen darauf, dass das Beispiel "Viererbande" Schule macht und sie damit viele Eltern überzeugen können, dass das selbstständige Wohnen mit ambulanter Betreuung für Kinder und Eltern möglich und sinnvoll ist.


Der Text ist gekürzt der Broschüre "Leben wie es uns gefällt. Selbstständiges Wohnen mit ambulanter Unterstützung" des Landschaftsverbandes Rheinland entnommen. (Statt Tobias Galitzki wohnt mittlerweile Nicole Clemens in der WG.)

Die Borschüre kann im Internet bestellt werden unter:
www.lvr.de → Publikationen


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2009, 30. Jg., März 2009, S. 3
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2009