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BERICHT/331: Vom Sehen, vom Blindsein und vom Wieder-Sehen (Selbsthilfe)



Selbsthilfe - 1/2010

BEISPIEL BERUFSFÖRDERUNGSWERK WÜRZBURG

Vom Sehen,
vom Blindsein
und vom Wieder-Sehen

Von Marcus Meier

Das schönste Geschenk kommt frühmorgens an einem Automaten in der Uni-Klinik Freiburg. Es ist Freitag, der 23. Januar 2009. Uwe Pflügers 50. Geburtstag. Als sich der Karlsruher wenige Stunden nach seiner Augenoperation einen Kaffee holt, sorgt seine frisch transplantierte Hornhaut für "ein verdammt gutes Gefühl". Beim Milch Zugeben bemerkt er, dass sich die schwarze Farbe des Kaffees in ein sanftes Braun verwandelt. "Nach einigen Monaten Blindheit ist es schon bewegend, wenn man plötzlich wieder Farben sehen kann", gibt der gelernte Personalfachkaufmann Einblick in sein Seelenleben. "Eine ordentliche Gänsehaut kann ich nicht verleugnen...", macht er klar. Der Wermutstropfen dabei: Niemand weiß, wie lange seine wiedererlangte Sehkraft von etwa vier Prozent anhalten wird. Am Berufsförderungswerk (BFW) Würzburg, einem Bildungszentrum für blinde und sehbehinderte Menschen, bereitet sich der Karlsruher zurzeit auf seine Rückkehr ins Berufsleben vor.


Die mentale Achterbahnfahrt begann für Uwe Pflüger vor rund 15 Jahren. Aufgrund seiner chronischen Bindehautentzündungen und der damit einhergehenden Eintrübung der Hornhaut erfolgte 1995 eine erste Transplantation auf dem linken Auge. Die Nachuntersuchung ergab, dass die entfernte Hornhaut mit Tumorzellen befallen war. Auf Bestreben von Uwe Pflüger wurde auch die Hornhaut des gesunden rechten Auges unter die Lupe genommen.


Tumorzellen auf der Hornhaut

Das niederschmetternde Ergebnis: auch dort wurden 1998 Krebszellen entdeckt und mit Bestrahlung und Chemotherapie behandelt. "Die Tumorzellen auf der Hornhaut waren danach weg, das Sehen auf dem rechten Auge aber auch", erzählt Pflüger. Seine Ärzte sagten ihm, sein Schicksal, nahezu zeitgleich auf beiden Augen an Horn- und Bindehautoberflächenkrebs erkrankt zu sein, sei deutschlandweit einmalig. Es folgten zwei Transplantationen auf dem geschädigten linken Auge. Beide endeten mit dem Abstoßen des neuen Organs.


Kurskollegen als Mutmacher

Durch die gleichzeitige Erkrankung mit dem Grauen Star kam es im November letzten Jahres zum Tiefpunkt. Uwe Pflüger konnte nur noch hell und dunkel unterscheiden, hatte weniger als zwei Prozent Sehrest und war damit per gesetzlicher Definition blind. Er war nun häufig auf fremde Hilfe angewiesen. Die Folge war, dass er sich mehr und mehr zurück zog und sich auch vom Freundeskreis isolierte. Pflüger fühlte sich wie ein künftiger Pflegefall. Dazu passt die frustrierende, wenn auch gut gemeinte Begegnung mit einem Passanten vor seiner heimischen Kirche: Uwe Pflüger suchte, mit dem Langstock noch nicht recht vertraut, den Eingang, als ihm ein fremder Mann ungefragt Geld zustecken wollte. "Wie hilfsbedürftig wirke ich, wenn mir so etwas widerfährt", fragt sich der 50-Jährige frustriert und ergänzt: "Eine ganz schwere Zeit, in der mir die Kurskollegen des BFW Würzburg sehr gut getan haben." Der Grund hierfür sei einfach: "Im Berufsförderungswerk Würzburg haben wir alle das gleiche Handicap; wir sind hier, weil wir wenig oder nichts sehen und beruflich noch mal angreifen möchten. Das schweißt zusammen", weiß er aus eigener Erfahrung. Zudem verliere man, so Pflüger, im BFW den "Exotenstatus", den man in der Familie aufgrund der starken Sehbehinderung einnehme. "Im Berufsförderungswerk muss man sich nicht erklären", bringt er die zwischenmenschliche Qualität seiner BFW-Zeit auf den Punkt.


Unterstützung durch das BFW Würzburg

Neben dem allmählichen Wiedererlangen seiner Selbstständigkeit durch das Lernen der Punktschrift und das Mobilitätstraining im BFW Würzburg ergab sich Mitte Januar dieses Jahres eine weitere Perspektive. Ein Arzt der Uni Freiburg teilte ihm mit, dass ein geeignetes Hornhaut-Transplantat vorhanden sei, das innerhalb von zwei Wochen eingesetzt werden könne. Ein Tag vor seinem 50. Geburtstag wurde der Eingriff vorgenommen. Schon am Tag danach kam das positive Erlebnis am Kaffeeautomaten. "Eigentlich konnte ich die Farbe braun nie besonders gut leiden. Das ist jetzt anders", beschreibt er seinen Kurskollegen bei einem Vortrag im BFW seine Emotionen. Das Referat nennt er treffend "Rückkehr in die Welt der Smarties". Als Mitbringsel gibt es für jeden Zuhörer eine Schachtel mit den bunten Schokoladenlinsen.


Rückkehr in die Welt der Smarties

"Man gewöhnt sich ehrlich gesagt sehr schnell daran, dass man wieder ein wenig sieht", gibt der BFW-Teilnehmer zu. Schon wenige Stunden nach der Operation konnte er Farben wahrnehmen. Nach einigen Tagen war die Sehleistung schon wieder so gut, dass er nicht mehr auf den Langstock angewiesen war. Was bleibt, sind bewegende Erinnerungen an die gut zweimonatige Zeit, in der er, medizinisch ausgedrückt, nur "Hbw" wahrnehmen konnte, also Handbewegungen unmittelbar vor dem linken Auge.

Da ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass er vor der OP als blinder Mensch als extrem hilfsbedürftig eingestuft und vom Klinikpersonal nach eigener Wahrnehmung zum Teil sogar "verhätschelt" wurde. Kaum war das positive Ergebnis der Transplantation bekannt, war die Unterstützung für den immer noch hochgradig Sehbehinderten gerade im privaten Umfeld merklich geringer und von mehr Nüchternheit bestimmt.


"Die Ekstase des ersten Sehens"

Beim Aufsperren der Wohnungstür zu den eigenen vier Wänden glaubte er, dass jemand zwischenzeitlich neu gestrichen habe, so grell weiß schien es ihm aus den Räumen entgegen. Auch die Farben der Teppiche kamen ihm wie frisch gereinigt vor. Seine Mutter wiederum bemerkte bei ihrem Besuch in der Wohnung des nun wieder sehenden Sohnes, dass die Fenster "ja auch mal wieder geputzt werden könnten". Skurril mutete auch der intensive Blick zum Bild an der Wand an: "Die Ekstase des ersten Sehens", konnte Pflüger wieder über dem Kunstwerk von Ernst Ludwig Kirchner lesen. "Den überaus treffenden Titel des Gemäldes hatte ich zwischenzeitlich ganz vergessen", erinnert er sich und schmunzelt still in sich hinein.

Auch seine Rückkehr ins BFW Würzburg war von vielen neuen Eindrücken bestimmt. Erstmals nahm er nun die Gesichter seiner Kurskollegen und der BFW-Mitarbeiter wahr. Wieder erkannt hatte er zuvor nur einen Teil der eigentlich guten Bekannten. Seine bis dahin ganz selbstverständliche Konzentration auf die Stimme wurde wieder vom optischen Eindruck überlagert. "Ich habe die Menschen in meiner Umgebung plötzlich wieder nach deren Aussehen beurteilt", gibt er selbstkritisch zu Bedenken. Dabei habe er in den Monaten ohne Sehen sehr deutlich gespürt, dass "die wahren Werte eines Freundes nicht die sind, die man optisch wahrnimmt".


Zurück in den erlernten Beruf

Noch heute plagt ihn gegenüber seinen Mitteilnehmern im BFW ein "leicht schlechtes Gewissen". Uwe Pflüger weiß, dass nicht alle die Chance haben, durch den medizinischen Fortschritt irgendwann einmal besser zu sehen. Doch auch er lebt mit der Ungewissheit. Niemand kann sagen, wie lange sein Körper die transplantierte Hornhaut annehmen wird. "Ich stelle mir jeden Morgen dieselbe Frage", betont Uwe Pflüger. "Würde ich heute unterschreiben, wenn mir jemand den heutigen Sehrest für die Zukunft garantieren könnte?" Tag für Tag macht er sich über kleine Veränderungen der Sehleistung Gedanken, deutet sie als erste Anzeichen für ein Abstoßen der Hornhaut.

Am BFW Würzburg erlernt er weiter die Punktschrift. "So bin ich auf der sicheren Seite", sagt der 50-Jährige und tastet mit seiner Fingerspitze nach den sechs erhabenen Punkten. In einigen Monaten, so die Planung, wird der Personalsachbearbeiter trotz der nach wie vor starken Seheinschränkung wieder seine Arbeit bei der Stadt Karlsruhe aufnehmen. Wie Uwe Pflüger an seinem PC arbeiten wird, ob mit sehbehindertengemäßer Vergrößerungssoftware oder blindheitsgemäßer Braillezeile und Punktschrift, ist offen.


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Quelle:
Selbsthilfe 1/2010, S. 34-35
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2010