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BERICHT/332: "Von da an konnte ich alles sagen" (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 51/Frühjahr 2010

"Von da an konnte ich alles sagen"

Von Andrea Erdélyi


Unterstützte Kommunikation steht für die Ersetzung bzw. Ergänzung von Lautsprache von Menschen, die nicht oder kaum sprechen können. Das Netz an Beratungsstellen in Deutschland wächst seit einigen Jahren, dennoch gibt es einen erheblichen Bedarf. Der Artikel analysiert die Situation im Weser-Ems-Gebiet und formuliert Schlussfolgerungen für die Wissenschaft und die Versorgung der Region.


Als meine Mutter sah, dass ich in der Schule am Computer ein Wort abschrieb, übertrug sie die Buchstabenanordnung und machte daraus meine Buchstabentafel. Von da an konnte ich zu Hause alles 'sagen'." In der Schule allerdings weigerte sich die Lehrerin, die Buchstabentafel zu benutzen. Sie meinte nur: "Ich verstehe Marion auch so." Erst als sie ein mithilfe der Tafel aufgezeichnetes Gedicht in die Schule mitbrachte, das sie im "Morgenkreis" gelernt hatte, erkannten und unterstützten die Lehrer ihr Potenzial. Was Marion Tapken aus Garrel - heute 29 Jahre alt - schildert, ist exemplarisch für viele Schülerinnen und Schüler, die aufgrund einer motorischen Beeinträchtigung nicht sprechen können. Sie gehört zu den Pionieren in der Nutzung von Sprachcomputern. 1992 erhielt sie ihr erstes Gerät. Heute hält sie als autorisierte Co-Referentin der International Society for Augmentative and Alternative Communication (ISAAC) Vorträge, um fachlich zu informieren und Vorurteile abzubauen. Dabei benutzt sie den "Power-Talker", den sie über eine Taste mit dem Knie bedient.

Obwohl die Unterstützte Kommunikation (UK) seit 1983 in ISAAC organisiert ist und das Netz an Beratungsstellen in Deutschland bundesweit wuchs, müssen noch viele Menschen mit lautsprachlichen Behinderungen auf die Hilfen, die Marion erhält, verzichten. Es gibt immer noch viele "weiße Flecken" auf der Landkarte, etwa im Nordwesten Deutschlands. So registrierte ISAAC im Jahr 2007 nicht eine einzige Beratungsstelle im gesamten Weser-Ems-Gebiet. Im übrigen Niedersachsen sah es kaum besser aus. Es war daher höchste Zeit, den genauen Bedarf im Weser-Ems-Gebiet zu erheben und ein entsprechendes Angebot an der Universität Oldenburg zu entwickeln.


Unterstützte Kommunikation

Die Bezeichnung Unterstützte Kommunikation leitet sich her vom amerikanischen Fachausdruck "Augmentative and Alternative Communication", was wörtlich "ergänzende und alternative Kommunikation" bedeutet. Die Unterstützte Kommunikation richtet sich an Menschen aller Altersgruppen, die ganz unterschiedliche Probleme haben. Sie wendet sich an Menschen mit angeborenen Beeinträchtigungen (z.B. Cerebralparese, geistige Beeinträchtigung), Menschen mit einer fortschreitenden Krankheit (z.B. Muskeldystrophie, MS, ALS), Menschen mit Schädigungen durch Unfälle oder Schlaganfälle sowie Menschen mit vorübergehend eingeschränkten lautsprachlichen Möglichkeiten (z.B. Tracheotomie, Gesichtsverletzungen u.a.).

Bei der Unterstützten Kommunikation wird die Lautsprache ergänzt oder ersetzt. Die Hilfen, die dafür zur Verfügung stehen, sind vielseitig. Man unterscheidet drei Arten: körpereigene, graphische und elektronische Kommunikationshilfen. Zu den körpereigenen Hilfen zählen beispielsweise Gebärden. Die graphischen Hilfen bestehen aus Darstellungen verschiedener Abstraktionsgrade: von konkreten Gegenständen über konkret-bildhafte Symbole bis hin zu abstrakten Ideogrammen. Bei den elektronischen Hilfen hat sich in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung vollzogen. Sie reichen von einfachsten Anbahnungshilfen bis hin zu komplexen Geräten mit Symbolen und Schrift. Entscheidend bei der Auswahl der Hilfen ist, dass immer beide Dialogpartner berücksichtigt werden. Nur wenn alle Beteiligten den Sprachersatz als hilfreich wahrnehmen, kann er effektiv und nachhaltig genutzt werden und zu einer befriedigenden Kommunikation beitragen. Dies ist ohne eine fachlich fundierte Diagnostik und Beratung nicht möglich.


Die Lage im Weser-Ems-Gebiet

Im Weser-Ems-Gebiet gab es ISAAC zufolge 2007 keine UK-Beratungsstellen. Zu vermuten war daher eine hohe Unterversorgung der Betroffenen mit den Angeboten und Mitteln der Unterstützten Kommunikation. Um eindeutige und aussagekräftige Fakten zu erhalten, wurde 2008 von der Universität Oldenburg eine breit angelegte Fragebogenerhebung durchgeführt. Dabei ging es um die Verbreitung der Unterstützten Kommunikation, die angewandten Methoden und die Fachkenntnisse der Unterstützer im Einzugsgebiet der Universität. Das Ziel war, den tatsächlichen Bedarf an Versorgung, fachlicher Hilfe und Vernetzung zu ermitteln. Die Ergebnisse sollten auch helfen, die Gründung und Ausrichtung der universitären Beratungsstelle zu untermauern sowie das Studium der Sonder- und Rehabilitationspädagogik weiter zu profilieren und die Forschung auf dem Gebiet der Unterstützten Kommunikation insgesamt voranzutreiben.

Im Rahmen einer Querschnittserhebung wurden alle potenziell in Frage kommenden Einrichtungen und Fachleute für alle Altersgruppen im Postleitzahlbereich 26..., 27... und 49... ermittelt (N=1070). Die Fragebögen wurden Anfang 2008 versandt. Aus den 214 zurückgesandten und auswertbaren Fragebögen konnten eine Reihe wichtiger Ergebnisse und Folgerungen gewonnen werden.

Als wohl wichtigstes Ergebnis der Erhebung kann gelten, dass von den über 20.000 erfassten Personen, die in Einrichtungen der Weser-Ems-Region versorgt werden, rund 17 Prozent in ihrer Lautsprache erheblich beeinträchtigt sind. Von diesen 3.679 Personen erhält lediglich jeder vierte die notwendige und mögliche Unterstützung. Das bedeutet, dass rund 76 Prozent der Menschen mit lautsprachlichen Behinderungen nicht adäquat versorgt sind.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis betrifft die Art der Versorgung. Durch die Erhebung stellte sich heraus, dass die neuen technischen Mittel deutlich seltener eingesetzt werden als Gebärden oder Bildsymbole, obwohl die elektronischen Hilfen grundsätzlich von den Krankenkassen finanziert werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es in der Region an Kenntnissen über die Möglichkeiten der neuen Technologien mangelt und dass ihnen gegenüber Berührungsängste bestehen. Dass vorrangig einfache und kostengünstige Hilfsmittel eingesetzt werden, ist grundsätzlich nicht zu verwerfen. Es bleibt aber die Frage, ob mit ihnen in jedem Fall die optimale Anpassung an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der beeinträchtigten Personen erfolgen kann.

Wie groß die Gefahr ist, dass Nicht-Sprechen-Können mit Nicht-Denken-Können verwechselt wird, belegt eine empirische Untersuchung, die kürzlich der Kölner Pädagoge Jens Boenisch durchführte. Danach können bundesweit rund 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen an Förderschulen mit dem Schwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung nicht oder kaum sprechen. In Niedersachsen dagegen beträgt ihr Anteil sechs Prozent. Die übrigen Kinder gehen vermutlich an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung oder besuchen eine so genannte Tagesbildungsstätte. Das bedeutet, dass nicht sprechende Kinder in Niedersachsen offenbar überwiegend als geistig behindert eingestuft werden - mit der Folge, dass ihnen der Umgang mit elektronischen Hilfen nicht zugetraut wird und ihnen diese Hilfen vorenthalten werden. Damit bleiben die geistigen Fähigkeiten dieser Kinder aufgrund ihrer Mehrfachbehinderung unerkannt und werden nicht weiter gefördert.

Ein verwirrendes Bild ergibt die Oldenburger Erhebung, sobald es um die differenzierte Betrachtung der eingesetzten Hilfsmittel geht. Sie werden in der Praxis ausgesprochen uneinheitlich verwendet und zudem teilweise falsch benannt oder zugeordnet. Das hat Folgen. Denn bei der Verwendung von Gebärden beispielsweise ist es wichtig, dass in den benachbarten Einrichtungen das identische System verwendet wird. Die Untersuchung offenbarte außerdem ein Methoden- und Begriffswirrwarr, das auf einen hohen Bedarf an Aufklärung schließen lässt. Dies alles lässt vermuten, dass es in den Einrichtungen sowohl an Fachkenntnissen und Konzepten als auch an Kooperationen und Absprachen fehlt - eine Vermutung, die durch weitere Ergebnisse der Untersuchung bestätigt wird.

Soweit die befragten Mitarbeiter über Fachkenntnisse verfügen, haben sie sich diese zum großen Teil autodidaktisch oder über Fortbildungen angeeignet. Lediglich ein Viertel hat die Kenntnisse über Unterstützte Kommunikation im Rahmen der Ausbildung erworben. Die Frage nach der Existenz von didaktischen und methodischen Konzepten wurde überwiegend verneint. Ähnlich sehen die Ergebnisse aus, wenn man nach Kooperationen mit Kollegen in Arbeitskreisen oder mit Beratungsstellen gefragt wurde. So überraschen auch nicht die Antworten auf die Frage nach dem Bedarf. Aus Sicht der Fachleute besteht für die betroffenen Menschen ein hoher Bedarf an Förderung und Beratung, an Hilfsmitteln und Assistenz bei deren Einsatz. Außerdem bekunden 88 Prozent der befragten Fachleute Interesse an einer Vernetzung.


Konsequenzen

Die Datenerhebung machte deutlich, dass es im Nordwesten einen großen Handlungsbedarf gibt. Doch es gibt erste Ansätze, um diese Missstände zu beheben: Anfang Mai 2009 wurde am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der Universität Oldenburg das Ambulatorium für ReHabilitation eröffnet. Einer von sechs Bereichen widmet sich der Unterstützten Kommunikation. Hinter diesem Ambulatorium steht der "Gemeinnützige Verein zur Förderung der pädagogischen Re-Habilitation und sozialen Integration von Menschen in Risikolagen". Konzeptuell steht die Arbeit auf drei Beinen.

Unterstützte Kommunikation ist zum festen Bestandteil des Studienangebots im Fach Sonderpädagogik der Universität Oldenburg geworden, damit bereits während der Ausbildung theoretisch fundierte und praktisch angewandte Kenntnisse vermittelt werden können. Neue Forschungsprojekte, an denen auch Studierende mitwirken, wurden auf den Weg gebracht, beispielsweise zur genauen Erhebung der Situation an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, zur Entwicklung von Förderkonzepten für deren Schüler oder zur Klärung der Auswahl angemessener Gebärdensysteme. Fortbildungen und regionale Veranstaltungen, die für Lehrer und Studierende offen sind, gehören zum Jahresprogramm.

Außerdem wurde 2008 das "UK-Netzwerk Weser-Ems" gegründet, das vor dem Abschluss einer Konzeptentwicklung steht, die mit Unterstützung der zuständigen Ministerien eine flächendeckende Versorgung mit Unterstützter Kommunikation in Niedersachsen sicherstellen soll.


Die Autorin

Prof. Dr. Andrea Erdélyi ist Hochschullehrerin für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der Universität Oldenburg. Sie studierte an der Universität Würzburg und absolvierte ihr Referendariat in Würzburg und Schweinfurt. 2001 promovierte Erdélyi in Leipzig. 2006 habilitierte sie sich in an der Universität Pécs (Ungarn). Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben der international vergleichenden Heilpädagogik die Ursachen, Folgen sowie der Behandlung von Sprachverlust mit Hilfe der Unterstützten Kommunikation.


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Quelle:
Einblicke Nr. 51, 25. Jahrgang, Frühjahr 2010, Seite 16-19
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
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Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2010