Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

BERICHT/348: Wenn geistig behinderte Menschen ins Krankenhaus müssen ... (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2011

ELTERN
Wenn geistig behinderte Menschen ins Krankenhaus müssen ...

Von Hans Dieter Leiding


Hans Dieter Leiding begleitete 2009 seinen behinderten Sohn Hagen zu einer Herz-Operation in die Klinik. Hagen Leiding kann nicht sprechen und hat extrem autistische Züge. Über die Zeit im Krankenhaus mit kleineren und größeren Problemen führte der Vater Tagebuch. Er war damals 79, sein Sohn 50 Jahre alt.


Mittwoch:
Die Voruntersuchung mittels Herzkatheter musste unter Narkose erfolgen. Die Leiterin des Wohnheims, in dem Hagen seit sieben Jahren lebt, fährt uns zur Uni-Klinik Göttingen. Aufnahme - kaum haben wir das 2-Bettzimmer bezogen, schwirrt die volle Visite herein. Die Wohnheimleiterin bittet, in Zukunft nur einzeln oder höchstens zu zweit einzutreten, um Hagen nicht zu verstören. Ein Schild an der Tür weist zukünftig auf die Sache hin, wir haben Ruhe.

Donnerstag: Die Nachtschwester kommt früh und klebt Hagen auf jeden Handrücken ein Narkosepflaster. Ich drehe mich noch einmal um. Hagen steht auf, als ich aufblicke, liegen beide Pflaster zerknüllt auf dem Tisch. Ich rufe die Schwester und bitte um neue Pflaster - sie hat keine mehr, eine Besorgung dauert eine Stunde. Als nach dieser Zeit noch keine da sind, stehe ich auf, glätte die alten Pflaster und klebe sie Hagen mit entsprechender Mahnung wieder auf. Dann kommt das Frühstück. Hagen bekommt nichts wegen der Narkose. Legen einer Braunüle (einer speziellen Kanüle) mit "Urschrei", sie wird mit Pflaster am Arm verklebt. Es ist kurz vor Mittag, ich will mir eine Tasse Kaffee holen. Als ich zurück komme, liegen Braunüle und Pflaster auf dem Tisch. Die Prozedur beginnt aufs Neue. Der Anästhesist holt uns. Ich bin bei der Einleitung der Narkose dabei und beruhige Hagen.

Dann geht es auf die Intensivstation. Hagen ist fixiert und schläft. Gegen Abend gehe ich auf Station, gerade als ich mich hinlegen will, Telefonanruf: Hagen macht Randale, ich soll kommen. Er ist wach und will die Fixierung lösen - klappt aber nicht. Ich streichele ihn und singe, er wird ruhiger. Ich kann auf dem kleinen Hocker kaum noch sitzen, lege zur Entspannung meine Stirn auf das Bett und streichle ihn weiter. Gegen 22 Uhr stupst mich jemand an der Schulter - ich war eingeschlafen.

Freitag:
Schon vor dem Frühstück bin ich auf der Intensivstation. Hagen wird "befreit", der Pfleger hat ihm einen Fernseher hingestellt (hat Hagen aber kein Interesse dran). Er wäscht Hagen und fragt, ob er uns ein Frühstück machen soll. Hagen ist froh, soweit alles überstanden zu haben. Die Pfleger sind wohltuend nett. Dann geht es mit uns wieder auf die Station. In einem unbeachteten Augenblick ist die Braunüle wieder draußen. Sie wird neu gelegt, Blut wird abgenommen, für mich wieder voller Einsatz. Die Verklebung wird verstärkt. Das Mittagessen ist nicht nach Hagens Geschmack, aber mit viel Zureden isst er etwas. Ich führe ein Getränkemengenprotokoll. Abends gibt es Brot, Wurst, Käse. Die Wurstscheiben mag Hagen nicht. Ich schneide sie ganz klein, dann klappt es. Als er mit seinen Tönen wieder um etwas zu trinken bittet, gehe ich kurz nach draußen, um etwas zu holen. Schon hat er mich wieder ausgetrickst. Die Braunüle liegt daneben. Abends um 22 Uhr legt der Arzt eine neue. Sie wird auf meinen Wunsch so verklebt, dass sie für die Nacht nicht wieder demontiert werden kann.

Samstag, Sonntag:
Alles hat sich etwas eingespielt. Ich habe Hagens ganze Pflege auf der Station übernommen. Das war aber nur möglich, weil ich Hagens Eigenheiten kenne. Deshalb kann eine fremde Person, die Hagen nicht kennt, eine solche Pflege gar nicht leisten. Für Mitarbeiter aus der Wohnstätte halte ich dies allerdings für möglich. Am Sonntag geht es für uns endlich nach Hause, bzw. für Hagen wieder ins Wohnheim. Die Implantation einer Kombination aus Herzschrittmacher und Defibrillator wird bei einem zweiten Klinikaufenthalt vorgenommen.

Dienstag:
Erneute Aufnahme. Wir müssen noch warten, da das Zimmer für uns noch nicht frei ist. Hagen bekommt Elektroden auf die Brust geklebt und ein Dauer-EKG-Gerät um den Hals gehängt. Er lässt sich das ohne Widerstand gefallen. Ich hole nur kurz etwas aus meiner Tasche, die in einem Nebenraum liegt. Als ich wiederkomme, liegen EKG-Gerät und Elektroden auf dem Tisch. Alles wird wieder angelegt. Wieder wird Blut abgenommen, Blutdruck gemessen und eine Braunüle gelegt. Diesmal geht es mit meiner Assistenz etwas besser. Der Verband am Arm zum Schutz der Braunüle stört und schon liegt sie wieder auf dem Tisch. Es ist zum verrückt werden, sie wird wieder neu gelegt und gut verpflastert.

Mittwoch:
Wir haben ganz gut geschlafen. Ich bekomme Frühstück, Hagen nicht. Er macht wieder einen langen Hals, bleibt aber lieb in seinem Bett liegen. Pfleger rollen ihn mit seinem Bett in den OP-Saal. Er bekommt etwas zur Beruhigung, ich bleibe bei ihm und rede beruhigend auf ihn ein. Nachdem er "verkabelt" ist und die Narkose eingeleitet wird, kann ich mich vor die Tür setzen und lesen. Nach geraumer Zeit geht es in den Aufwachraum. Hagen hängt an vielen Geräten, er schlägt die Augen auf und sieht mich. Das scheint für ihn das Wichtigste zu sein! Er schließt die Augen und schläft wieder ein. Die OP-Wunde ist mit einem Pflaster und einem Sandsack abgedeckt.

Donnerstag:
Wir haben gut geschlafen, aber jedes Mal, wenn Hagen aufstehen wollte, um zur Toilette zu gehen, bin ich aufgestanden und habe ihm die Urin-Flasche gegeben. Das ging ganz gut. Beim Frühstück musste ich wieder tricksen, um es für ihn schmackhaft zu machen. Als ich noch etwas nachhole und wieder ins Zimmer komme, hat Hagen das Pflaster von der Wunde gezogen und sich den Sandsack unter den Kopf gelegt. Er strahlt mich an, als wollte er sagen: "So ist das viel besser." Das Pflaster wird erneuert, und ich versuche, ihm klar zu machen, wozu der Sandsack dient. So vergeht die Zeit, ich kann mich hinlegen und lesen, muss aber immer auf dem Sprung sein.

Freitag:
Der Tag beginnt wie immer. Hagen darf aber aufstehen. Die Elektroden werden entfernt, Hagen ist froh. Er geht schon alleine zur Toilette. Plötzlich gibt es einen ohrenbetäubenden Krach. Hagen liegt im Toilettenvorraum auf dem Boden und ist wohl gegen den Wandschrank gepoltert. Er hat sich nichts getan, ich helfe ihm zurück ins Zimmer. Als er das nächste Mal zur Toilette will, begleite ich ihn. An der gleichen Stelle sackt er wieder zusammen, ich will ihn stützen, aber Hagen reißt mich mit um. Ich falle mit ihm auf den Rücken und schlage mit dem Ellenbogen auf. Hagen liegt auf mir, ich komme Gott sei Dank an die Klingel und läute Alarm. Die Pfleger kommen aber nicht rein, da Hagen und ich hinter der Tür liegen. Ich muss mich erst einmal frei wälzen, dann geht die Tür auf und man hilft uns. Hagen wird sofort an einen Tropf gehängt und mein Ellenbogen verpflastert. Hagen bleibt erst einmal im Bett liegen. Es war wohl eine Kreislaufschwäche.

Samstag, Sonntag:
Die Tage und Nächte verlaufen jetzt einigermaßen normal. Montag werden wir entlassen und Hagen kehrt ins Wohnheim zurück. Er hat die Implantate ohne Schwierigkeiten akzeptiert und fühlt sich seither wohl.

Nachtrag:
Ich habe das alles so akribisch geschildert, weil man daraus sieht, was man als Begleiter in einer Klinik alles bedenken, wissen und erahnen muss. Das kann man nur, wenn ein entsprechendes Vertrauensverhältnis zum Patienten besteht und nicht, wenn eine völlig fremde Person an diese Stelle gesetzt wird. Erst später habe ich zwei Artikel in der LHZ gelesen. Sie zielen genau in die gleiche Richtung: "Assistenz im Krankenhaus nur für Patienten im Arbeitgebermodell" (LHZ 3/2009) und "Der vergessene Patient" (LHZ 1/2010).


Hans Dieter Leiding ist Ehrenvorsitzender der Lebenshilfe-Kreisvereinigung Osterode am Harz.


Schicken Sie uns Ihre Erfahrungsberichte

Ohne Gegenstimme wurde auf der Mitgliederversammlung der Bundesvereinigung Lebenshilfe Ende Oktober 2010 ein Antrag der Lebenshilfe Osterode angenommen (siehe LHZ 4/2010). Der Bundesvorstand wird darin aufgefordert, für die Dauer von Klinikaufenthalten geistig behinderter Menschen auf einen Rechtsanspruch der persönlichen Betreuung mit ständiger Präsenz hinzuwirken. Bundesgeschäftsführerin Prof. Dr. med. Jeanne Nicklas-Faust berichtete, was Vorstand und Geschäftsstelle in dieser Frage bereits unternommen haben. Sie bittet die Mitglieder darum, der Bundesvereinigung Beispiele zu schicken, in denen deutlich wird, wie problematisch ein Krankenhausaufenthalt ohne persönliche Betreuung für einen geistig behinderten Patienten werden kann. Mit zahlreichen eindrücklichen Schilderungen wie von Hans Dieter Leiding könne die Lebenshilfe den politischen Druck erhöhen.

Schicken Sie bitte Ihre Erfahrungsberichte an:
Bundesvereinigung Lebenshilfe
Stichwort "Krankenhaus"
Leipziger Platz 15, 10117 Berlin

oder per E-Mail an:
LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de


*


Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2011, 32. Jg., März 2011, S. 3
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2011