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BERICHT/355: Heilsame Auslandserfahrung gegen das Kopfchaos (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juni 2012

Eine neue Chance - in der Türkei oder in Bulgarien
Heilsame Auslandserfahrung gegen das Kopfchaos

Von Robert Burg



Was passiert, wenn selbst professionelle Kräfte aus der Jugendhilfe ratlos sind? Wenn Kinder und Jugendliche aufgrund massiver psychischer und sozialer Probleme die berüchtigte "Maßnahmenkarriere" sehr früh hinter sich haben? Um den Herausforderungen solcher "Härtefälle" zu begegnen, entwickelte die Betheler Jugendhilfe vor zehn Jahren ein ungewöhnliches Angebot: die so genannten Auslandsmaßnahmen in der Türkei.


Viele dieser jungen Menschen haben auf ihrem noch kurzen Lebensweg Gewalt, Demütigung, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch erfahren, waren Opfer und auch Täter. "Wenn nichts mehr hilft, weder ambulante Betreuung, Leben in Pflegefamilien noch stationäre Unterbringung, dann gibt es einfach keine Angebote mehr für diese Jugendlichen", sagt Michael Eskau von der Jugendhilfe Bethel. Deshalb ist eine ganz anders geartete Option nötig, die, wie Michael Eskau betont, absolut freiwillig ist: "In der Türkei erhält jeder eine neue Chance und kann wieder bei Null anfangen." Jede Aufnahme eines Jugendlichen in die Maßnahme richtet sich nach dem individuellen Bedarf und erfolgt zeitnah. Aus einer akuten Krisensituation heraus können das zwei Wochen sein, im Notfall dauert es sogar nur zwei Tage.

Derzeit gibt es 22 Plätze in Ost-Anatolien sowie im Großraum Antalya. Jeder Aufenthalt wird umfassend begleitet. Für die meisten Jugendlichen beginnt die Auslandserfahrung in der Abgeschiedenheit Anatoliens. "Das ist eine sehr ländliche Gegend, in der man in Gemeinschaften lebt", sagt Murat Türkei. Der Bethel-Mitarbeiter verbrachte ein Jahr überwiegend in der Türkei und baute die nötige Infrastruktur auf. Auch heute noch ist er regelmäßig vor Ort. "In den Dörfern wohnen oft vorwiegend ältere Menschen. Die sind einfach neugierig auf die Exoten und haben keine Vorurteile", sagt Murat Türkei. Für Jugendliche, in deren Köpfen Chaos herrscht, tut das schlichte Leben auf dem Land gut. "Da werden grundlegende Zusammenhänge wieder nachvollziehbar: Wenn ich im Winter keinen Bock auf Holz hacken habe, muss ich eben frieren."


Vertrauen aufbauen

In der reizreduzierten Umgebung können die Jugendlichen zur Ruhe kommen. Verloren gegangenes Vertrauen - in andere und in sich selbst kann jetzt behutsam wieder aufgebaut werden. In dieser Phase stehen Wahrnehmungsübungen, Anti-Aggressionstraining und das Einüben basaler Fertigkeiten, etwa in der Körperpflege oder im Haushaltsalltag, im Vordergrund. Jeder Jugendliche lebt in einer eigenen Wohnung. Entsprechend hoch ist der Betreuungsschlüssel: Drei Betreuer kümmern sich rund um die Uhr um einen Klienten. Die 65 Mitarbeiter sprechen fast alle deutsch, auch ein deutschsprachiger Psychiater sowie ein Neurologe sind immer vor Ort. Zum Team gehören außerdem Sozialpädagogen, Lehrer, Therapeuten und Handwerker. Wegen des hohen Personalaufwands sind die Maßnahmen in der Türkei wirksamer und aufgrund der lokalen Gegebenheiten nicht teurer als Jugendhilfe-Angebote in Deutschland.


Soziales Miteinander

Nach der ersten Station in Anatolien kommen die Jugendlichen in die Region Antalya, im dichter besiedelten, städtisch geprägten Südwesten der Türkei gelegen. Hier werden sie an das soziale Miteinander herangeführt und treffen andere Jugendliche. "In dieser Zeit müssen wir ihre Rückkehr und Reintegration vorbereiten", sagt Michael Eskau. Ein wichtiger Baustein kann ein Schulabschluss sein, den die Jugendlichen direkt vor Ort, in einer eigenen kleinen Schule, ablegen können. Alle Schulabschlüsse außer dem Abitur sind hier möglich. Auch Berufspraktika können gemacht werden, etwa als Maler, Maurer oder Friseur. Weil jeder Jugendliche regelmäßig einzeln von Mitarbeitern aus Bethel aufgesucht wird, können nicht mehr als 22 Teilnehmende in der Türkei gleichzeitig versorgt werden. Die aufwändigen Dienstreisen müssen gut geplant werden, denn auch innerhalb der Türkei liegen die Standorte bis zu 1.400 Kilometer auseinander.

In der "Zentrale" in Gütersloh pflegt die pädagogische Mitarbeiterin Birgit Timmerhans Kontakte zu den Eltern und organisiert die Rückkehr der Jugendlichen. Sie kümmert sich um geeignete Anschlussmaßnahmen und unterstützt den Start in eine schulische oder berufliche Laufbahn. Oftmals muss eine umfassende Lebensperspektive entwickelt werden, denn die Rückkehr ins Elternhaus ist nicht immer erwünscht.


Auch in Bulgarien

Seit drei Jahren gibt es auch Angebote in Bulgarien. In dem EU-Land lässt sich vieles einfacher regeln, etwa bei den Krankenversicherungen oder der Aufenthaltsgenehmigung. Mittlerweile werden in Bulgarien Plätze für 15 Jugendliche bereitgestellt, die von 37 Mitarbeitenden betreut werden. Das Angebot richtet sich vornehmlich an Mädchen, die oftmals stark sexualisiert sind und die in dem anatolischen Gesellschaftsgefüge anecken würden. Bethel arbeitet in Bulgarien eng mit einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen. Es gibt Überlegungen, in einem dritten Land aktiv zu werden. "Aber es muss alles passen", sagt Michael Eskau.

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Quelle:
DER RING, Juni 2012, S. 18-19
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2012