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FRAGEN/160: Von der Komplexeinrichtung zum Wohnen in der Gemeinde (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3 - September 2009

Von der Komplexeinrichtung zum Wohnen in der Gemeinde

DAS INTERVIEW


34 Jahre war Klaus Kräling für die Bundesvereinigung Lebenshilfe tätig, zuletzt als Referent für "Wohnen, Freizeit und Sport" in der Abteilung Konzepte. Am 27. Juli feierte er seinen 65. Geburtstag und ist seit August im Ruhestand. Von 2006 bis zu seinem Abschied war der Diplom-Politologe und Sozialarbeiter auch Mitglied der LHZ-Redaktion. Wie alles begann, und wie es weitergeht, darüber sprachen wir mit Klaus Kräling und Ulrich Niehoff, seinem Nachfolger im neu benannten Referat "Wohnen und Leben in der Gemeinde". Niehoff ist Diplom-Pädagoge und seit 1990 bei der Bundesvereinigung beschäftigt.

Die Fragen stellte Kerstin Heidecke.


FRAGE: Herr Kräling, wie lebten Menschen mit geistiger Behinderung im Jahr 1975 in der Bundesrepublik?

KLAUS KRÄLING: Überwiegend zu Hause oder in großen Komplexeinrichtungen. Nur eine verschwindend geringe Anzahl von ihnen wohnte "in kleinen, pädagogisch betreuten und gemeindenahen Wohneinrichtungen", wie es in ersten Empfehlungen und Konzeptpapieren der Lebenshilfe damals hieß. Lebenshilfeinterne Zahlen gingen dabei von etwa 130 Wohneinrichtungen mit zirka 3350 Wohnplätzen aus.

FRAGE: Welche Ziele hatten Sie damals bei Ihrer Tätigkeit?

KLAUS KRÄLING: Ausgehend vom sogenannten Normalisierungsprinzip wurden Konzepte und Empfehlungen für das Wohnen erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung erarbeitet, örtliche Lebenshilfe-Vereinigungen mit Blick auf Errichtung und Führung entsprechender Wohneinrichtungen beraten und gegenüber Politik und Sozialverwaltung für eine gute finanzielle Ausgestaltung und Sicherung der Wohnstätten gekämpft.

FRAGE: Welche Rolle spielten stationäre Einrichtungen?

KLAUS KRÄLING: Erste Wohneinrichtungen - wie beschrieben - wurden innerhalb der Lebenshilfe seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts errichtet. Die siebziger und achtziger Jahre waren damals für die Lebenshilfe Jahre eines stürmischen Aufbaus solcher Wohnstätten, wobei in dieser Ausbauphase fast ausschließlich stationäre Wohneinrichtungen errichtet wurden. Ambulant betreute Wohnformen waren damals die absolute Ausnahme. Dies hatte in erster Linie finanzielle Gründe, war aber auch Ausdruck einer noch weit verbreiteten Orientierung an "beschützenden" Wohnformen mit einem Service "rund um die Uhr". Eine wichtige Aufgabe war wie bereits erwähnt - die Beratung örtlicher Lebenshilfe-Vereinigungen bei der Errichtung und Führung solcher Wohneinrichtungen.

Viele der stationären Wohneinrichtungen waren 36-er/40-er Wohnstätten. Die Kostenträger der Sozialhilfe gingen damals davon aus, dass Wohnstätten erst ab einer Größe von 40 Plätzen und mehr wirtschaftlich zu führen seien.

FRAGE: Herr Niehoff, was hat sich seither verändert?

ULRICH NIEHOFF: Heute kommen mit den Leitbildern der Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion neue Herausforderungen auf die Lebenshilfe zu. Wir sprechen allgemein in Deutschland von einer Multioptionsgesellschaft.

Bürger haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts weit mehr Chancen, ihren unverwechselbaren Lebensstil und Lebensentwurf auch zu realisieren, bei allen Einschränkungen, die es natürlich gibt. Es gibt aber aktuell sicher mehr Chancen und Wahlmöglichkeiten für den eigenen Lebensstil als vor 50 Jahren.

Da ist es nicht hinzunehmen, dass Menschen mit Behinderung froh sein müssen, wenn sie überhaupt einen Platz zum Arbeiten und Wohnen bekommen. Planungen in der Behindertenhilfe sind immer weniger an Institutionen gebunden, sondern mehr und mehr an die Bedarfe einzelner Personen. Aus diesen ergeben sich dann Anhaltspunkte für Planungen. Das verstehe ich unter personenzentrierter Planung und eben nicht institutionenzentrierter Planung. Das Referat von Herrn Kräling hieß "Wohnen". Mein neues Arbeitsfeld heißt "Wohnen und Leben in der Gemeinde".

FRAGE: Wo sehen Sie künftig die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

ULRICH NIEHOFF: Ich habe die ersten Jahre meiner beruflichen Tätigkeit im Psychiatrischen Krankenhaus mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet. Dem hier vorfindbaren besonders negativen Menschenbild hat die Lebenshilfe von Anfang an ein positiv-optimstisches Menschenbild entgegen gesetzt. Dies ist ein historisches Verdienst. Diese Einstellung und den heute erreichten Lebensstandard gilt es auch zu verteidigen, gerade in Anbetracht zu erwartender Restriktionen aufgrund finanzieller sozialpolitischer Engpässe.

Fachlich glaube ich, dass mit den Begriffen "Sozialraumorientierung, Gemeinwesenarbeit, Community-Care", die alle ziemlich deckungsgleich in ihrer Bedeutung sind, eine Orientierung auf das soziale Umfeld, auf den Lebensraum angezeigt ist. Die "Sozialpsychiatrie" denkt schon viele Jahrzehnte in diese Richtung. Da hat die Behindertenhilfe aus meiner Sicht Nachholbedarf, wenn es auch schon einige bemerkenswerte "Leuchtturmprojekte" gibt. Neben der Integrationsperspektive, die nach Begegnungsmöglichkeiten mit nicht behinderten Menschen sucht, wünsche ich mir eine Inklusionsperspektive, die eine Besonderung behinderter Menschen von vorn herein vermeiden will.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 3/2009, 30. Jg., September 2009, S. 14
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009