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FRAGEN/167: Wolfgang Niemeyer - Kinderrehabilitation als Investition in die Zukunft (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2010

EINBLICK
Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen

Kinderrehabilitation ist eine Investition in die Zukunft


Die "Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen - Bundesrepublik Deutschland e.V." ist ein Zusammenschluss von Ärzten und anderen Fachleuten verschiedener Disziplinen aus Kliniken der Kinder- und Jugendreahabilitation in der Bundesrepublik Deutschland. Das Ziel der Arbeitsgemeinschaft ist es, die stationäre Kinderrehabilition im Gesundheitssystem in Deutschland zu etablieren.
Wolfgang Niemeyer ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation von Kindern und Jungendlichen. Er beantwortete die Fragen der Selbsthilfe.


SELBSTHILFE: Herr Niemeyer, welche Aufgaben nimmt die Arbeitsgemeinschaft wahr? Was ist Ihr Anliegen?

WOLFGANG NIEMEYER: Es gibt 96 Rehabilitations-Kliniken für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft sind Kliniken, die bundesweit circa 17 Prozent der Betten in den Kinder-Rehabilitations-Einrichtungen abdecken. Es gibt bisher kaum eine Lobby für Kinder-Rehabilitation. Dabei ist es wichtig, junge Menschen mit chronischen Krankheiten richtig zu behandeln. Das Ziel ist vor allem die soziale Teilhabe, das heißt, dass chronisch kranke Kinder aufgrund der fachlich qualitativen Betreuung in den Kliniken wieder Zugang zur Gesellschaft finden - und zwar je früher, desto besser. Die Arbeitsgemeinschaft setzt sich dafür ein, die Kinder-Rehabilitation in Deutschland stärker zu fördern. Dies ist auch wichtig, um Folgekosten zu reduzieren. Nehmen wir beispielsweise ein Kind mit Adipositas: Als Komplikation einer Adipositas kann sich ein Diabetes entwickeln - wenn für das Kind also nicht frühzeitig eine Rehabilitationsmaßnahme erfolgt, werden die Kosten für die Gesellschaft immens, wenn das Kind erwachsen ist. Von daher ist die Kinder-Rehabilitation auch eine Investition in die Zukunft.

SELBSTHILFE: Bei welchem Leistungsträger müssen Eltern eines behinderten oder kranken Kindes einen Antrag auf stationäre Rehabilitation stellen? Was müssen sie bei der Antragsstellung beachten?

WOLFGANG NIEMEYER: Für die Entscheidung über die Bewilligung einer stationären Kinder-Rehabilitations-Maßnahme sind die Krankenkassen und die Rentenversicherungsträger gleichermaßen zuständig. Eltern können den Antrag bei einem dieser beiden Leistungsträger einreichen. Der Träger, bei dem sie den Antrag einreichen, ist dann auch dafür zuständig. Ganz wichtig ist zu wissen, dass ein Rechtsanspruch auf eine stationäre Kinder- und Jugendrehabilitation besteht: Dieser ist bei den Krankenkassen im § 40 SGB V und bei den Rentenversicherungsträgern im § 31 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI festgelegt.

Für die Antragsstellung gilt Folgendes: Der behandelnde Arzt muss gemeinsam mit den Erziehungsberechtigen begründen, warum ein stationärer Aufenthalt für das betroffene Kind notwendig ist. Der Antrag geht anschließend an den Leistungsträger. Dieser muss dann innerhalb von drei bis fünf Wochen darüber entscheiden, ob er den Antrag bewilligt oder ablehnt.

SELBSTHILFE: Ist es schwierig, eine Kinder-Rehabilitations-Maßnahme bewilligt zu bekommen?

WOLFGANG NIEMEYER: Bei den Anträgen auf stationäre Kinder-Rehabilitation gibt es leider eine sehr hohe Ablehnungsquote sie beträgt rund 50 Prozent, und zwar bei beiden Leistungsträgern, den Krankenkassen wie den Rentenversicherungsträgern. Ein Argument für die Ablehnung des Antrages kann sein, dass der Bereich der ambulanten Behandlung noch nicht ausgeschöpft wurde. Denn in unserem Gesundheitssystem gilt der Grundsatz: Ambulante Behandlung vor stationärer Maßnahme. Gegen einen solchen Bescheid können die Erziehungsberechtigten Widerspruch einlegen. Ein weiterer Ablehnungsgrund kann sein, dass der Leistungsträger, bei dem der Antrag eingereicht wurde, nicht zuständig

SELBSTHILFE: Was ist beim Widerspruch gegen einen Ablehnungsbescheid zu beachten?

WOLFGANG NIEMEYER: Ganz wichtig ist, dass der Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid fristgerecht eingereicht werden muss - und zwar nicht nur von den Eltern. Der Widerspruch muss auch vom Arzt medizinisch begründet werden. Die gute Nachricht ist: Ein Widerspruch wird vom Medizinischen Dienst des jeweiligen Leistungsträgers sehr intensiv gelesen und geprüft. Die Erfahrung zeigt, dass 90 Prozent der Widersprüche positiv beschieden werden. Darum raten wir den Eltern, in berechtigtem Falle Widerspruch einzulegen.

SELBSTHILFE: Welche Krankheitsbilder werden bei Kindern in den Rehabilitationskliniken behandelt? An welche Altersgruppe richten sich die Rehabilitationsmaßnahmen und wie lange dauert der Aufenthalt in einer stationären Klinik?

WOLFGANG NIEMEYER: Die Aufenthaltsdauer in einer stationären Rehabilitationsklinik beträgt bei Kindern und Jugendlichen vier bis sechs Wochen. Die Patienten sind zwischen vier bis zwanzig Jahre alt. Was die Indikationen betrifft: Glücklicherweise stellen die von Krebs betroffenen Kinder nur einen kleinen Bereich dar. Weit häufiger finden sich bei Kindern die folgenden Krankheitsbilder, die in den Rehabilitationskliniken behandelt werden: Adipositas (Fettsucht), ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom), Erkrankungen der Atemwege (z.B. Asthma), Hautkrankheiten (z.B. Neurodermitis), Allergien, psychosomatische Erkrankungen, psychische Störungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates und Behinderungen.

SELBSTHILFE: Herr Niemeyer, es gibt ja sowohl die familienorientierte Rehabilitation als auch die Kinderrehabilitation. Welche Rehabilitationsmaßnahmen eignen sich denn für welche Krankheitsbilder?

WOLFGANG NIEMEYER: Familienorientierte Rehabilitationsmaßnahmen gibt es für Kinder mit schweren Erkrankungen, wie beispielsweise Krebs. Dann begleiten die Familien ihr schwerkrankes oder schwerbehindertes Kind in die Klinik. In der Regel gehen Kinder und Jugendliche aber alleine in eine Rehabilitationsklinik. Das macht auch mehr Sinn, denn die Begleitung von Eltern kann auch kontraproduktiv sein. Wenn beispielsweise ein überbesorgtes Elternteil das Kind abends ins Bett bringt, kann es passieren, dass es deswegen von den anderen Kindern in der Klinik gehänselt wird. Oder nehmen wir das Beispiel Adipositas: Jugendliche Adipositas-Patienten lernen in einer Rehabilitationsklinik richtiges Essverhalten kennen und nehmen an Kochkursen teil. Hier erfahren einige zum ersten Mal, dass das Essen nicht aus der Tiefkühltruhe und aus der Mikrowelle kommt. Kinder, die zu Hause normalerweise abends aus Frust vor dem Fernseher zwei Tüten Chips essen, sind nun stolz darauf dass sie für ihre Partys selbst leckeres und dabei kalorienarmes Essen zubereiten können.

SELBSTHILFE: Sie haben gerade schon angeschnitten, was junge Patienten in einer Rehabilitationsklinik erwartet. Darum hier nun die Frage: Was soll ein stationärer Klinikaufenthalt bei kranken Kindern bewirken?

WOLFGANG NIEMEYER: Das Ziel einer Rehabilitationsmaßnahme ist es, Kinder dabei zu unterstützen, dass sie besser mit ihrer Krankheit leben können. Bleiben wir beim Beispiel Adipositas: Jugendliche mit diesem Krankheitsbild trauen sich aufgrund ihres Übergewichts oft nicht ins Schwimmbad. In der Klinik werden sie ganz langsam und vorsichtig an sportliche Aktivitäten herangeführt. Wenn die Betroffenen lernen, dass Bewegung Spaß machen kann, haben sie auch zu Hause eine Chance: Dann können sie wieder beim Schulsport mitmachen und sind in ihrer Klasse keine Außenseiter mehr, sondern besser in die Gruppe der Gleichaltrigen integriert.

SELBSTHILFE: Welche Leistungen bieten die Rehabilitationskliniken für Kinder und Jugendliche? Wie sieht die Behandlung eines kranken Kindes aus?

WOLFGANG NIEMEYER: Wenn ein Kind neu in eine Klinik kommt, wird ein individuelles Rehabilitationsziel festgelegt. Denn ein Kind mit Neurodermitis beispielsweise benötigt ja ganz andere Maßnahmen als ein Kind mit ADHS. Die Patienten werden in Gruppen untergebracht, und zwar etwa 14 bis 16 Kinder pro Gruppe. Ganz wichtig für den Behandlungserfolg ist, dass die Kinder in den Rehabilitationskliniken eine umfassende Betreuung bekommen. Darum arbeiten dort interdisziplinäre Teams: Ärzte, Pflegepersonal, Psychologen und zahlreiche weitere Fachkräfte. Zum einen geht es in den Kliniken natürlich um die medizinische Behandlung, die mit einer gründlichen Erstuntersuchung beginnt. Zum anderen bieten die Einrichtungen unterstützende Angebote wie Ergotherapie, Logopädie, Sporttherapie und Psychotherapie. Es findet auch Schulunterricht statt, damit die Kinder während ihres Klinikaufenthaltes nicht so viel Lernstoff verpassen. Zudem gibt es Freizeitangebote, die Kindern und Jugendlichen entsprechen, wie Inline-Skating oder Disko. Denn das Ziel ist, die Kinder da abzuholen, wo sie stehen, mit ihren Bedürfnissen und Interessen.

DAS INTERVIEW FÜHRTE MARION LEUTHER


KONTAKT
Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation
von Kindern und Jugendlichen Bundesrepublik Deutschland e.V.
Cecilienhöhe 3
55543 Bad Kreuznach
Tel.: (0671)83 55-1 67
Fax:  (0671) 3 5084
Mail: info@arbeitsgemeinschaft-kinderrehabilitation.de
www.arbeitsgemeinschaft-kinderrehabilitation.de


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Quelle:
Selbsthilfe 3/2010, S. 24-25
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010