Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

POLITIK/503: "Geplant werden die Kosten, nicht die Hilfen" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Geplant werden die Kosten, nicht die Hilfen"

Von Wolfgang Trunk


Personenzentrierter Ansatz und individuelle Hilfeplanung in der Behindertenhilfe - Instrument und "fachlicher Mantel" für den Sozialabbau? "An die Stelle einer wirklichen Individualität tritt die bloße Modularisierung von Leistungen" zu Einsparzwecken. So WOLFGANG TRUNK. Wir stellen seine kritische Bilanz zur Diskussion.


Es gehört zu den Grundvorstellungen in der Behindertenhilfe, dass man persönliche Entwicklungswege von behinderten Personen mithilfe von Planungen festschreiben muss. So sind die Konzepte der beruflichen Bildung für behinderte Menschen weithin dem Prinzip des Curriculums verhaftet. Man geht davon aus, dass etwa die Lernbedarfe der Mitarbeiter von Reha-Werkstätten vorab bestimmbar sind und dass es angemessen ist, sie in ein Programm umzusetzen, das anschließend abgearbeitet wird. Dieser Glaube an die operative Planbarkeit menschlicher Entwicklung setzt bereits auf der übergeordneten, sozialpolitischen Ebene ein; analog zum Curriculum in der Bildungsarbeit steht hier das Instrument der Hilfeplanung im Zentrum des Interesses.


Planung und Kostendämpfung

Hilfeplanung im genannten Sinn stellt ein offizielles Verfahren zwischen Leistungsträger und Anbieter dar, das letztlich als Grundlage dient, um die Finanzierung bestimmter Maßnahmen zu erwirken; auch die fachliche Rechenschaft über Verlauf und Ergebnis nach Durchführung einer Maßnahme soll sich auf die Hilfeplanung beziehen. Diese Zusammenhänge werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Orientiert man sich nicht an der Üblichkeit von Verwaltungsverfahren, sondern an den Notwendigkeiten der Sache, dann zeigt sich allerdings kein objektiver Bedarf an einer Mitwirkung des Sozialleistungsträgers bei der inhaltlich-qualitativen Planung von Hilfen. Eine soziale Einrichtung wie eine Reha-Werkstatt verfügt durchaus über die Fähigkeit, ihre Maßnahmen mit eigenen Mitteln zu planen. Dazu brauchte sie den Sozialleistungsträger ebenso wenig, wie der Arzt die fachliche Mitwirkung der Krankenkasse braucht, um eine bestimmte Therapie zu verordnen und deren Ablauf festzulegen.

"Geplant wird nicht nur, was geschehen soll, sondern implizit auch, was unterlassen wird"

Es mag hier eingewandt werden, dass sich der Leistungsträger aus dem eigentlichen Geschäft der Hilfe nicht völlig heraushalten kann, da er gegenüber den Hilfeempfängern auch dann in der Verantwortung bleibt, wenn die Leistungen von Dritten, also von Einrichtungen, erbracht werden. Das ist richtig und gut, denn damit wird der Anspruch einer öffentlichen Kontrolle aufrechterhalten, die gerade dort angebracht ist, wo Dienstleistungen von privater Seite erbracht werden. Aber seiner Verantwortung für die Fachlichkeit der Hilfen könnte der Leistungsträger durch eine kompetente Qualitätskontrolle effektiver und effizienter nachkommen als durch Hilfeplanungen. Während sich die Qualitätskontrolle retrospektiv mit der konkreten Realität beschäftigt, verbleibt das prospektive Instrument der Hilfeplanung notgedrungen im Bereich abstrakter Annahmen, da die Entwicklung eines menschlichen Subjekts und deren Förderung nicht in jener Weise vorhersehbar ist, wie es äußere Einwirkungen auf ein dingliches Objekt wären. Selbst soweit die Planungen angemessen sind, stehen sie doch immer auf geduldigem Papier, und entscheidend bleibt hier die Frage nach der praktischen Umsetzung. Valide Instrumente zur Qualitätskontrolle können auf der Grundlage des Rechts und der Wissenschaft gewonnen werden.

Der Schlüssel zum Verständnis der Präferenz für die Hilfepläne liegt in der alten Einsicht "omnis determinatio negatio est", nach der jede Festlegung auch eine Abgrenzung beinhaltet. An den individuellen Hilfeplanungen im Bereich der Behindertenhilfe ist in diesem Sinne nicht nur interessant, welche Positionen sie explizit enthalten, sondern aufschlussreich ist auch die Antwort auf die Frage, welche Positionen in der jeweiligen Planung ungenannt bleiben. Mit dieser negativen Seite gibt die Planung an, welche sozialen Leistungen für die Person nicht vorgesehen sind, weil sie als irrelevant oder unangemessen angesehen werden. Geplant wird also nicht nur, was geschehen soll, sondern implizit auch, was unterlassen wird. Auf der politischen Ebene dient die individuelle Hilfeplanung mit ihrer negativen Seite vor allem dazu, ungewollte Kosten zu vermeiden; von daher erklärt sich der hohe Stellenwert, der den Hilfeplanungen im Sozialwesen und in den sozialpolitischen Diskussionen zukommt. Vor allem für die Eingliederungshilfe besteht die politische Absicht, über ein entsprechendes Verfahren Einsparmöglichkeiten zu identifizieren, die es erlauben, die Hilfen auszudünnen und die Kosten zu verringern.


Einzelleistungen als Grundform

Besonders deutlich kommt die Strategie der 'Einsparung durch Planung' im so genannten personenzentrierten Ansatz zum Ausdruck, der explizit als Instrument der Kostendämpfung empfohlen wird. Mit der Zentrierung von Leistungen auf den Einzelfall will man neue Einsparmöglichkeiten eröffnen. Der Clou soll bei diesem Ansatz darin bestehen, dass man den eindeutigen Zusammenhang von Einrichtungstyp und Leistungsangebot aufbrechen will, um die Finanzierung nicht mehr an Einrichtungen, sondern an Einzelleistungen zu binden. Auf diese Weise glaubt man Kosten für bestimmte Leistungen vermeiden zu können, die im konkreten Fall nicht als erforderlich angesehen werden, deren Inanspruchnahme jedoch nicht vermeidbar ist, solange man sich im pauschalen Leistungsrahmen einer Einrichtung bewegt. Für den hessischen Sozialleistungsträger stellt Evelin Schönhut-Keil in dankenswerter Offenheit fest, dass der eigentliche Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe im Wegfall der Platz- bzw. Angebotsfinanzierung bestehe, die zu wenig passgenau sei, um gleichermaßen den Sparzwängen der öffentlichen Hand und der gestiegenen Nachfrage Rechnung zu tragen (2008, S. 10).

Über die therapeutische Angemessenheit und die betriebsorganisatorische Rationalität eines Angebots entscheidet im personenzentrierten Ansatz nicht mehr die wissenschaftliche Evaluation, sondern letztlich das Einsparziel des Sozialleistungsträgers. Bezogen auf eine Reha-Werkstatt würde dies bedeuten, dass man bestimmte Leistungen zur Disposition stellen müsste, die sich als unterstützende Elemente im Prozess der Rehabilitation erwiesen haben, seien es die Möglichkeit von Sport und Entspannung während der Aufenthaltszeit in der Werkstatt, das gemeinsame Mittagessen, gemeinsame Arbeitszeiten in einer Gruppe, die persönliche Begleitung durch einen werkstatteigenen Sozialdienst oder gar die berufliche Bildung. Hier handelt es sich durchweg um Elemente von konzeptionellem Rang, sodass die Qualität der Werkstattarbeit beeinträchtigt wird, wenn man diese Bereiche aus dem integrierten Angebot der Werkstatt herausbricht.


"Lebenswelt" versus soziale Einrichtungen

An die Stelle der sozialen Einrichtungen soll im personenzentrierten Ansatz die individuelle "Lebenswelt" des Klienten treten. Deren Vorhandensein setzt man ebenso als gegeben voraus wie ihre Eignung für Prozesse der Therapie, Rehabilitation oder Persönlichkeitsförderung. Als Struktur würde die "Lebenswelt" insofern keine zusätzlichen Kosten verursachen, im Unterschied zu den sozialen Einrichtungen, die als Sonderstruktur interpretiert werden. In diesem Sinne kommt es mittlerweile zu tendenziösen Begriffsbildungen; so erlaubt sich die "Frankfurter Rundschau", die Werkstätten für Behinderte in Abgrenzung zur regulären Arbeitswelt als "Extra-Werkstätten" zu bezeichnen (Dahesch 2009). Mit dieser Parole wird suggeriert, dass Werkstätten ein System außerhalb des Normalen darstellen, das der Aussonderung behinderter Personen dient. Es wird unterstellt, dass die Zusammenfassung von behinderten Personen in einer Werkstatt Ausdruck einer gesellschaftlichen Diskriminierung ist und dass sie dieses Verhältnis vertieft, statt es aufzuheben. Von der Besonderheit einer Struktur wird hier kurz auf den Inhalt des Prozesses geschlossen, der von ihr unterstützt wird.

Unter der "Lebenswelt" wird im Wesentlichen der Reproduktionsbereich der Person mit seinen überwiegend privaten Zusammenhängen verstanden, die als der eigentliche Lebensbereich einer Person gelten. Vor allem in Situationen der ökonomischen Krise kann diese Orientierung mit einer Akzeptanz aufseiten der Bevölkerung rechnen. So hat eine Repräsentativbefragung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ergeben, dass sich die Deutschen in schwierigen Zeiten eher auf die Familie als auf den Staat verlassen. "Zwei Drittel der Befragten waren sich sicher, dass sie auch in Zeiten starker finanzieller Not auf die Hilfe der Familie bauen können - und dieses Vertrauen ins familiäre Netzwerk geht quer durch alle sozialen Schichten" (Gaserow 2009).

Für den Bereich der beruflichen Teilhabe von behinderten Personen muss die "Lebenswelt"-Orientierung von vornherein als untauglich eingeschätzt werden. Die Erwerbsarbeit stellt im Allgemeinen eine kollektive Veranstaltung dar, die nicht in der individuellen Lebenswelt, sondern nur in gesellschaftlich organisierten Strukturen durchgeführt werden kann, das heißt vor allem in speziellen Betriebsstätten. Im besonderen Fall behinderter Personen ist davon auszugehen, dass die berufliche Teilhabe in Werkstätten gerade den Zweck verfolgt, die lebensweltlich-private Isolation der jeweiligen Person zu durchbrechen und ihr einen öffentlichen sozialen Zusammenhang zu bieten, der für ihren Alltag und für ihr Fortkommen eine konstruktive Bedeutung gewinnt.

Es ist bekannt, dass Werkstätten auch so genannte Außenarbeitsplätze unterhalten. Relativ leistungsfähige behinderte Menschen können hier vorübergehend oder auf Dauer in regulären Betrieben arbeiten, behalten dabei aber ihren Status als Werkstattmitarbeiter mit der entsprechenden Absicherung und dem Recht, jederzeit in die Werkstatt zurückzukehren. Im Sinne des Lebenswelt-Konzepts wurde eine Zeit lang propagiert, dass eine Werkstatt auch dann als solche anerkannt werden kann, wenn sie ausschließlich Außenarbeitsplätze anbietet (ASMK 2008, 4.4). Diese Konstruktion wird als "virtuelle Werkstatt" bezeichnet. In der Praxis trifft sie allerdings auf keinen Bedarf, da die Zahl der besetzten Außenarbeitsplätze gering ist und da diese Arbeitsplätze von den regulären Werkstätten aufgrund ihrer dezentralen Struktur gut betreut werden können.


Finanzierung als Steuerungsinstrument

Als Kern der personenzentrierten Umstrukturierung galt lange Zeit das "Persönliche Budget", durch das der Hilfeempfänger anstelle konkreter Dienstleistungen nun eine bestimmte Menge Geldes erhalten kann, mit dem er sich in eigener Regie seine Einzelhilfen zusammenstellen und einkaufen soll. Das Persönliche Budget ist seit 2001 als Option gesetzlich verankert; seit dem Jahr 2008 besteht ein allgemeiner Rechtsanspruch auf diese Finanzierungsform. Es sei der Grundgedanke des Budgets, die Hilfen in den ambulanten Bereich zu verlagern (Kunze 2004, S. 152); damit stelle das Persönliche Budget "eine hoffnungsvolle Perspektive zur Überwindung der einrichtungszentrierten Problemlösungen" dar (ebd., S. 26). Über den Hebel des Persönlichen Budgets soll "ein stärkerer Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern erreicht werden. Dieser soll dann ohne Kostensteigerung zu einer qualitativ besseren Leistungserbringung führen", wie der Vertreter eines Sozialleistungsträgers die Sache auf den Punkt bringt (Lippert 2008, S. 194).

In der Finanzierungsform des Persönlichen Budgets kulminiert der offizielle Anspruch des personenzentrierten Ansatzes, jenen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe umzusetzen, nach dem der Hilfeempfänger nicht Objekt der Fürsorge, sondern Subjekt seiner Lebensgestaltung sein soll. In Wirklichkeit liegt hier ein formalistischer Ansatz vor, da die Individualität von Hilfen nicht über ihre spezifische Inhaltlichkeit und Qualität erreicht werden soll, sondern über die äußeren und quantitativen Aspekte ihrer Finanzierungsform. Ohnehin kann das Persönliche Budget nicht als etwas Neues gelten, denn es stellt nur den Versuch dar, das alte Dogma der Einzelfallhilfe auf die Spitze zu treiben. Wegen ihres Individualismus wird die Einzelfallhilfe seit jeher kritisiert; auch aus der Sicht der Reha-Werkstätten ist diese Kritik angebracht, denn die gemeinsame Aktivität in einer Werkstatt lässt sich nicht auf eine Summe von Einzelfallhilfen reduzieren. Man denke allein an die Aufgabe, kommerzielle Arbeitsaufträge zu akquirieren, die sich für die Förderung von behinderten Personen eignen - eine Leistung, die von hoher Bedeutung für die Qualität in den Werkstätten ist, die aber ganz unabhängig von Einzelfällen erbracht wird.


Markt und Modularisierung

Ordnungspolitisch geht der personenzentrierte Ansatz mit der Vorstellung einher, dass man das Marktprinzip in der Behindertenhilfe nutzen könnte, um die Individualität der Hilfen zu gewährleisten. Eine jeweils unterschiedliche Menge von Anbietern soll eine beliebige Menge von Einzelleistungen gegenüber dem Klienten erbringen. Dabei wird durchaus gesehen, dass sich aus einer Summe von Einzelleistungen nicht automatisch eine sinnvolle Gesamtleistung ergibt; von daher erklärt sich der erhebliche Zusatzaufwand an Planung, Koordination, Dokumentation, Schulung und Evaluation, der mit solchen Konzepten regelmäßig verbunden ist und der getrost als Bürokratie-verdächtig bezeichnet werden kann. Grundsätzlich bedeutet das Marktprinzip den Vorrang der Kunden-Lieferanten-Beziehung gegenüber dem Inhalt der Hilfen. An die Stelle einer wirklichen Individualität tritt dabei die bloße Modularisierung von Leistungen, deren potenzieller Variantenreichtum als strukturelle Verankerung der Individualität erscheint. Durch das Prinzip der Modularisierung wird aber der angebotsorientierte, nichtindividuelle Charakter der Leistungen noch zunehmen, denn unter dem Diktat der finanziellen Vergleichbarkeit und dem Druck der Konkurrenz werden sich die Anbieter bemühen, ihre Leistungen weitgehend zu standardisieren. Dem Klienten bleibt dann nur die Möglichkeit, sich dem angebotenen Schema zu fügen oder auf die jeweilige Leistung zu verzichten. Hier wird deutlich, dass der personenzentrierte Ansatz kein Beitrag zu einer subjektorientierten Behindertenarbeit sein kann. Individualität von Hilfen ist eine Prozessqualität, die nicht auf der Ebene der Angebotsstruktur abgesichert werden kann.

"An die Stelle einer wirklichen Individualität tritt die bloße Modularisierung von Leistungen"

Völlig offen ist die Frage, um welche Anbieter es sich handeln soll, bei denen die erforderlichen Fähigkeiten tatsächlich gegeben sind und die daran interessiert sein könnten, sich in der beschriebenen Weise am Markt zu positionieren. Der Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass neue Anbieter auf den Markt drängen, um hier angebliche Gewinnmöglichkeiten zu nutzen. In einer Großstadt wie Frankfurt am Main gibt es seit Jahrzehnten nur zwei Anbieter von Werkstätten für Personen mit psychischen Störungen. Sie unterhalten mehrere Betriebsstätten an unterschiedlichen Standorten des Stadtgebiets und sorgen dafür, dass ihre Kapazitäten auch bei zunehmender Inanspruchnahme ausreichen. Diese Anbieter entfalten ihre Aktivität nicht aufgrund von Gewinnerwartungen, sondern es handelt sich um Organisationen, die im öffentlichen Auftrag tätig sind und die eine Versorgungssicherheit gewährleisten. Die Zufriedenheit mit der Arbeit dieser Anbieter wird allgemein als hoch eingeschätzt.


Kategorisierung der Klientel

Der personenzentrierte Ansatz setzt voraus, dass bei den Leistungsempfängern ein "Anreiz für die Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets" besteht, da "sachliche, zeitliche und soziale Dispositionsspielräume" für sie entstehen, wenn sie "eine Geldleistung erhalten" (Dau 2009, S. 114). Dieser Zusammenhang hat sich in der Praxis als ineffektiv erwiesen. Die freiwillige Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets ist weit hinter den politischen Erwartungen zurückgeblieben, trotz der aufwendigen Propaganda, der die Adressaten über Jahre hinweg ausgesetzt waren. Als Reaktion auf diese Schlappe versucht die Sozialpolitik nun, den personenzentrierten Ansatz über den Hebel der Hilfeplanung durchzusetzen. Zur wirksamen Einzelfallsteuerung soll ein Bedarfsfeststellungsverfahren eingeführt werden, das auf bundeseinheitlichen Kriterien basiert (ASMK 2009, II).

In Hessen hat man das Scheitern des Persönlichen Budgets nicht abgewartet. Bereits im Jahr 2003 wurde mit dem Versuch begonnen, die Regelfinanzierung der Behindertenhilfe im Sinne des personenzentrierten Ansatzes umzugestalten.Im Mittelpunkt dieses langjährigen Vorhabens steht der "Integrierte Teilhabeplan" (ITP), ein elfseitiges Formular zur Bedarfsfeststellung, mit dem aus dem aktuellen Ist-Zustand einer Person auf ihren Hilfebedarf geschlossen werden soll. Dabei werden Annahmen vorausgesetzt, die fachlich problematisch sind: etwa dass es angemessen ist, für persönliche Hilfen mittelfristige Ziele zu benennen und die Erreichung dieser Ziele zu kontrollieren; oder dass Hilfebedarfe absolut, d.h. unabhängig von konkreten Angeboten, definierbar sind; oder dass soziale Hilfebedarfe von physischen und psychischen Funktionsbeeinträchtigungen linear ableitbar sind. Vor allem sollen zu den Ergebnissen der Planung detaillierte Angaben gehören, aus denen hervorgeht, in welchem zeitlichen Umfang Ressourcen durch die Hilfe gebunden werden, denn von diesen Zeitwerten glaubt man die Finanzierung der Hilfen schlüssig ableiten zu können (Breme 2008, S. 108 f).

Letztlich soll die Gesamtheit der behinderten Empfänger von besonderen Leistungen der Sozialhilfe in einer Art Volkszählung so kategorisiert werden, dass sich vergleichbare Bedarfslagen herauskristallisieren; diesen Falltypen sollen dann konfektionierte Hilfen zugeordnet werden, deren Bestandteile vorab bepreist worden sind, sodass ihr Gesamtpreis dann berechnet werden kann. Weit davon entfernt, den Praktiker bei seinen personenbezogenen Planungen zu unterstützen, stellt die bundeseinheitliche Bedarfsermittlung in Wirklichkeit ein Verfahren zur Preisbildung und zur Kostentransparenz in der Behindertenhilfe dar. Die qualitativen Aspekte der Hilfe bilden hier nicht den eigentlichen Zweck und Inhalt der Planung, sondern sie dienen als Basiswerte für das Finanzierungsmodell. Geplant werden die Kosten, nicht die Hilfen. Der Integrierte Teilhabeplan erweist sich damit als ein Instrument, das primär um die Erfordernisse der Sozialverwaltung zentriert ist; die Personenzentrierung ist nur ein Mittel zu diesem Zweck.

Der personenzentrierte Ansatz ist die sozialpolitische Leitidee zur Veränderung der Behindertenhilfe. Er gibt vor, das Finanzierungsmodell als Hebel zur Verbesserung der Leistungen einzusetzen. In Wirklichkeit funktionalisiert er das Qualitätsthema, um Einsparmöglichkeiten zu eröffnen. Damit bietet der personenzentrierte Ansatz dem Sozialabbau einen fachlichen Mantel; im Prinzip stellt er den Versuch einer Perestroika in der deutschen Behindertenhilfe dar, da er mit dem Versprechen einer Hinwendung zu den Menschen beginnt, aber die Erosion des Systems zum Ziel hat.


Wolfgang Trunk ist Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen e.V.,
Große Seestr. 43, 60486 Frankfurt am Main; Tel.: (069) 79 40 55 70; E-Mail: info@lag-werkstaetten.de


Literatur:

ARBEITS- UND SOZIALMINISTERKONFERENZ (ASMK): Vorschlagspapier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz", 2008.

ARBEITS- UND SOZIALMINISTERKONFERENZ (ASMK): Eckpunktepapier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz", 2009.

BREME, ROLAND: Warum zeitbasierte Vergütung die angemessene Finanzierungssystematik für personenzentrierte Hilfen ist. In: Kunze et al., Der Reiz des Unentdeckten ..., Bonn 2008.

DAHESCH, KEYVAN: Kein besseres Leben ohne Kampf. In: Frankfurter Rundschau, 22.9.2009.

DAU, DIRK et al.: (Hrsg.): Sozialgesetzbuch IX - Lehr- und Praxiskommentar Baden-Baden 2009.

GASEROW, VERA: Die Familie muss es richten. In: Frankfurter Rundschau, 15.7.2009.

KUNZE, HEINRICH/SCHMIDT-ZADEL, REGINA (Hrsg.): Die Zukunft hat begonnen - Personenzentrierte Hilfen - Erfahrungen und Perspektiven. Bonn 2004.

KUNZE, HEINRICH et al. (Hrsg.): Der Reiz des Unentdeckten. Neue Wege zu personenzentrierten Teilhabeleistungen in Hessen. Bonn 2008.

LIPPERT, JOHANNES: Das Persönliche Budget - Mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen. In: Behindertenrecht 7/2008.

SCHÖNHUT-KEIL, EVELIN: Fazit und Ausblick: Fit für die Zukunft? In: Kunze et al., Der Reiz des Unentdeckten Bonn 2008.


*


Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010, Seite 9 - 12
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Heinz Mölders und der
Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp

Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2011