Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

POLITIK/529: Der neue Teilhabebericht der Bundesregierung (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2013

Der neue Teilhabebericht der Bundesregierung
"Wie geht es eigentlich den Menschen mit Behinderungen in Deutschland?"

von Dr. Martin Banner



Stellt man sich die Frage, wie es eigentlich Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft ergeht, sollte man genau die Menschen befragen, um die es geht. Denn sie sind wohl die beste Datenquelle. Dies gilt umso mehr, als dass wir in Deutschland mit der Selbsthilfebewegung über eine Struktur verfügen, die es erlaubt, Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen auszutauschen, zu gewichten zu bündeln und zu analysieren. Es ist daher eine der zentralen Aufgaben der BAG SELBSTHILFE und ihre Mitgliedsverbände, auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen hinzuweisen, Probleme aufzuzeigen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten.


Auch der Deutsche Bundestag hat sich vor vielen Jahren schon die Frage gestellt: "Wie geht es eigentlich den Menschen mit Behinderungen in unserem Land?" Ansprechpartner des Parlaments ist zunächst einmal die Bundesregierung. Und so hat der Deutsche Bundestag im Jahr 1982 beschlossen, dass die Bundesregierung in jeder Wahlperiode über die Lage der behinderten Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe zu berichten habe (vgl. auch Paragraph 66 SGB IX).

Nun ist Politik keine reine Wissenschaft, sodass die jeweiligen Berichte der Bundesregierung zur Lage der behinderten Menschen zunächst dazu dienten, die Erfolge und Maßnahmen der Bundesregierung darzustellen. Getreu des parlamentarischen Rituals boten die Berichte eine gute Gelegenheit für die Opposition, Versäumnisse im Bereich der Behindertenpolitik aufzuzeigen. Ihr empirischer Gehalt war dementsprechend von untergeordneter Bedeutung.


Beteiligung der Selbsthilfe oft reiner Formalismus

Die Selbsthilfe hätte hierbei durchaus als Datenquelle genutzt werden können. Leider entspricht es jedoch auch dem üblichen politischen Ritual, fertige Texte zu erstellen und diese dann den Verbänden mit kurzer Frist zur Stellungnahme vorzulegen. Eine solche Form der Beteiligung ist jedoch ein reiner Formalismus und kann die Qualität von Berichten auch nicht mehr verbessern. Folglich war es jeweils die Pflicht der Behindertenverbände, genau dies anzuprangern, wenn einmal wieder ein Bericht der Bundesregierung zur Lage der behinderten Menschen auf den Weg gebracht wurde - auch dies war Teil des politischen Rituals.


Schattenbericht legt die Situation von behinderten Menschen offen

"Wie geht es eigentlich den behinderten Menschen in Deutschland?" Diese Frage stellen sich auch die Vereinten Nationen, nachdem die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ratifiziert hat. Ansprechpartner der Vereinten Nationen ist dabei zunächst die Bundesrepublik Deutschland, die die Ziele und Verpflichtungen der UN-BRK umsetzen muss.

Wie nicht anders zu erwarten, hat die Bundesregierung in ihrem ersten Bericht an die Vereinten Nationen vor allem die Aspekte betont, die ein positives Bild zur Lage der Menschen mit Behinderungen in Deutschland zeichnen.

Da aber die Vereinten Nationen nicht nur Berichte der Regierungen, sondern auch solche der Zivilgesellschaft würdigen, hat die BAG SELBSTHILFE gemeinsam mit anderen Verbänden einen sogenannten Schattenbericht erstellt, um auf die bestehenden Defizite bei der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland hinzuweisen.

Da sich jedoch ein "Schatten"-Bericht immer als gegensätzliche Darstellung der Schokoladenseite des Regierungsentwurfs versteht, kann auch er nicht als empirische Datensammlung verstanden werden, sondern muss immer auch als politisches Manifest betrachtet werden. Der Schattenbericht ist daher ebenso wenig ein Ersatz für fehlende Empirie.


"Teilhabebericht" soll Klarheit bringen

Gibt es dennoch Hoffnung auf eine Antwort zu unserer Ausgangsfrage "Wie geht es eigentlich den Menschen mit Behinderungen in Deutschland?" Vielleicht muss man die Frage etwas präzisieren: Die UN-BRK geht davon aus, dass Behinderungen den Menschen nicht als Wesensmerkmal anhaften, sondern dass Menschen mit Beeinträchtigungen behindert werden, wenn die Gesellschaft diese Menschen durch Barrieren und fehlende Nachteilsausgleiche von der vollen Teilhabe ausschließt. Eigentlich müsste man daher nach der Lage der Behinderungen in Deutschland fragen.

Diese Überlegung hat nun auch die Bundesregierung aufgegriffen und ihren aktuellen Bericht erstmals "Teilhabebericht" genannt. Auch inhaltlich hat sich etwas verändert. Der Bericht untersucht die Frage, inwiefern Menschen, die beeinträchtigt sind, im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren Beschränkungen ihrer Teilhabechancen erfahren, d.h., dadurch erst behindert werden. Er untersucht somit Faktoren, die die Teilhabe einschränken und Umstände, die sich für die Teilhabe als förderlich erweisen.

Auch in Sachen Empirie wurden deutliche Veränderungen vorgenommen. So sollen die Aussagen zur Lage der betroffenen Menschen nicht mehr allein im Stile eines Besinnungsaufsatzes der Regierung, sondern indikatorengestützt auf der Basis valider Datengrundlage getroffen werden. Hierzu wurde ein interdisziplinär zusammengesetzter Wissenschaftlicher Beirat eingerichtet, an dem auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitwirken, die von den Behindertenverbänden benannt wurden. Dieser Ansatz ist ausdrücklich zu begrüßen. Denn anders als früher darf der Bericht der Bundesregierung nicht mehr nur ein schönfärberischer Arbeitsnachweis sein, sondern er muss den Alltag der Betroffenen deutlich abbilden.


Datengrundlage bislang lückenhaft

Für viele Indikatoren, die im Bericht als maßgeblich angesehen werden, finden sich keine Daten in allgemeinen Statistiken: Zwar ist bekannt, wie viele Menschen mit Behinderungen verheiratet, ledig oder geschieden sind - haben solche Zahlen aber tatsächlich eine Aussagekraft für den Grad der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Dies haben auch die Autoren des Teilhabeberichts erkannt. Im 5. Teil des Berichts finden sich daher Vorschläge zur "Weiterentwicklung der Datengrundlage".

Dies ist die Stelle, um auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurückzukommen: Die beste Datenquelle zur Lage von Menschen mit Beeinträchtigungen sind diese Menschen selbst.

Dies gilt umso mehr, als dass die Bundesregierung sich explizit am Lebenslagenansatz orientieren will, "um die Gesamtheit der Ressourcen und Beschränkungen, die eine Person bei der Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen beeinflussen, in die Analyse einzubeziehen." Weiter heißt es auf Seite 10 des Berichts: "Untersuchungen, denen der Lebenslagenansatz zugrunde liegt, verfolgen das Ziel, die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Menschen und deren Handlungsspielräume möglichst differenziert und umfassend zu beschreiben. Sie nutzen dabei nicht nur objektive Merkmale, sondern auch subjektive Einschätzungen, z.B. in Form persönlicher Einstellungen, Selbsteinschätzungen oder durch die Bewertung immaterieller Dimensionen wie der sozialen Einbindung."

Ohne eine intensive Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe wird die Bundesregierung den von ihr selbst so umschriebenen Datenschatz nie vollständig heben können. Daher kann der nächste Teilhabebericht nur in Kooperation mit der Selbsthilfe entwickelt werden.

Etwas merkwürdig mutet es da schon an, dass der aktuelle Bericht den Verbänden eigentlich schon im Juni in großem (und teurem) Rahmen bei den "Inklusionstagen" präsentiert werden sollte, dann aber erst im Kabinett abgestimmt werden musste und nun ohne Verbändekonsultation veröffentlicht wurde.

Auch ein innovativer Ansatz ist in Zeiten des Wahlkampfes nicht davor gefeit, vom Räderwerk der politischen Rituale erfasst zu werden.


Der Autor Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE.


Der Teilhabebericht der Bundesregierung ist veröffentlicht unter
http://www.bmas.de/DE/Themen/Teilhabe-behinderter-Menschen/Meldungen/teilhabebericht-2013.html

*

Quelle:
Selbsthilfe 3/2013, S. 8-9
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211/3 10 06-0, Fax: 0211/3 10 06-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de
 
Die "Selbsthilfe" erscheint mit 4 Ausgaben pro Jahr.
Jahresbezugspreis:
Inland: 18,00 Euro zzgl. Porto und Versand
Ausland: 22,00 Euro zzgl. Porto und Versand
Einzelpreis: 5,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2013