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TAGUNG/266: Lebenshilfe-Tagung "Eine Schule für alle" gab wichtige Impulse (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4 - Dezember 2009

Entscheidend ist das "Wie"
Lebenshilfe-Tagung "Eine Schule für alle" gab wichtige Impulse

Von Kerstin Heidecke


Die Vereinten Nationen fordern, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden sollen. Wie das gehen kann - darüber diskutierte die Lebenshilfe mit Eltern, behinderten Menschen und Fachleuten.


"Das tritt ... nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich. Ach, seit März 2009." Mit dieser Variation des berühmten Schabowski-Zitats, das vor 20 Jahren den Fall der Mauer besiegelte, eröffnete Prof. Dr. Andreas Hinz seinen Vortrag. Mit ihm waren 380 Wissenschaftler, Schulleiter, Lehrer, Sonderpädagogen und Eltern zur Fachtagung "Eine Schule für alle" nach Offenbach gekommen. Hinz spielte mit seinem Satz auf die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung an, die seit März 2009 in Deutschland gilt. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen beinhaltet auch das Recht auf gemeinsamen und wohnortnahen Unterricht für alle Kinder, unabängig von Geschlecht, Muttersprache, Religion oder eben Beeinträchtigungen.

Soweit die Theorie. Von einer inklusiven Schulpraxis ist Deutschland jedoch noch immer weit entfernt. Nur knapp drei Prozent der Kinder mit geistiger Behinderung lernen gemeinsam mit nicht behinderten Mädchen und Jungen auf einer Regelschule. Damit ist Deutschland europaweit Schlusslicht.

Damit sich das ändert, hatte die Bundesvereinigung Lebenshilfe vom 12. bis 14. November nach Offenbach eingeladen - in Kooperation mit dem Aktionsbündnis "Eine Schule für alle", dem unter anderen die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und zahlreiche Bundesverbände angehören.

Engagiert, optimistisch, manchmal kritisch, immer lebhaft war die Diskussion. Welche Hemmnisse gibt es, welche Ängste bei manchen Eltern, welche Erfolge bei den Kindern? Und wie muss sich die Regelschule verändern? Die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer konnten sich einen Überblick darüber verschaffen, wo die Wissenschaft in Fragen inklusiver Schulbildung steht und wie gute Beispiele aussehen. Ob eine inklusive Schule das Modell der Zukunft ist, stand für die meisten außer Frage. Entscheidend sei das "Wie". Und das heißt, dass die allgemeine Schule sich an den Bedürfnissen unterschiedlicher Kinder und Jugendlicher orientieren - und entsprechend sachlich und personell ausgestattet werden muss.

"Niemand will ausgeschlossen sein, niemand will auf der niedrigsten Stufe stehen. Das macht das Selbstbewusstsein der Menschen kaputt." So beschrieb es Ramona Günther, Mitglied im Rat behinderter Menschen und Bundesvorstand der Lebenshilfe, während der Tagung "Eine Schule für alle". Ihrem Plädoyer schloss sich Prof. Dr. Theo Klauß von der Universität Heidelberg und ebenso Mitglied im Bundesvorstand an: "Aufgabe der Schule ist Bildung für alle." Doch noch dominiere in Deutschland ein selektives Schulsystem, das früh aussortiere. "Diese Schule ist ein Hürdenlauf, und an den Hürden trennen sich die Wege in Hauptschulen, Sonderschulen für geistig Behinderte, Schulen für körperlich Behinderte, für Gehörlose, für Sehbehinderte und so weiter." Pech, nicht nur für Kinder mit Behinderung, sondern auch für "Spätzünder" oder Kinder mit anderem Lernrhythmus. Diese Einteilung befördere natürlich auch das Denken, sagt Klauß: "Ist dieses Kind bei uns richtig?" Diese Frage würde in vielen Lehrer-Teams schnell gestellt.

Warum haben Menschen Angst davor, dass Kinder gemeinsam lernen? Die Diskussion machte den gesellschaftlichen Hintergrund des Themas Inklusion deutlich. Es gehe auch um Karriere- und Erfolgs-Chancen, die früh verteilt würden. So haben Eltern nicht behinderter Kinder Sorge, ob ihre Kinder in inklusiven Klassen womöglich zu kurz kämen. "Das hängt ganz klar mit den Grundzügen einer Ellbogengesellschaft zusammen. Einer humanen Gemeinschaft zuträglich ist das nicht", sagte Ingrid Körner vom Lebenshilfe-Bundesvorstand.

"Für viele Eltern behinderter Kinder bedeutet das immer noch Klinken putzen, betteln, überreden, überzeugen oder den Anwalt anrufen, wenn sie einen Platz an der Regelschule wollen", bilanzierte Prof. Dr. Andreas Hinz von der Universität Halle. Den Eltern, die der inklusiven Schule skeptisch gegenüberstehen, machte er Mut: "Manche haben Sorge, dass ihr Kind an der Regelschule gehänselt oder nicht verstanden wird, aber nach meiner Erfahrung ist das Gegenteil der Fall."

Ihm pflichteten Eltern und Lehrer der Sophie-Scholl-Schule der Lebenshilfe Gießen bei. Und auch Hedwig Matt und Sabine Koller-Hesse von der Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin. "Die Erfahrung gemeinsamen Unterrichts verändert jeden, der damit zu tun hat."

In einer Arbeitsgruppe berichteten die Pädagoginnen von ihren Klassen, in denen auch schwer mehrfach behinderte Kinder lernen. Und das in Kreuzberg, einem Problemkiez mit hohem Einwanderer-Anteil und vielen Schülern aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Verhaltensauffällige Jungs hätten durch den gemeinsamen Unterricht Solidarität und Empathie gelernt. Jeder behinderte Schüler hat wechselnde Partnerkinder, die ihn bei Bedarf unterstützen, Verantwortung mit übernehmen. "Das kann jede Schule leisten, aber es muss durch Beratung, Fortbildung und zusätzliche Fachkräfte gestützt sein", so die Praktikerinnen. "Das heißt allerdings, dass wir ständig mit der Schulverwaltung kämpfen müssen."

Marianne Demmer von der Gewerkschaft GEW aus Frankfurt/Main unterstützte die Forderung nach fundierter Weiterbildung: "Etliche Kollegen an Regelschulen sagen, dass sie für inklusive Schule nicht ausgebildet sind. Da brauchen wir also eine echte Weiterbildungsoffensive."

Immer wieder wurde in den Arbeitsgruppen auf die Gefahr hingewiesen, dass die inklusive Schule nicht zum Sparmodell werden dürfe. Karsten Geike, stellvertretender Bundesvorsitzender der Lebenshilfe: "Die Regelschule in ihrer heutigen Form ist nicht in der Lage, geistig behinderte Kinder - gerade Kinder mit schwerer oder mehrfacher Behinderung - optimal zu fördern. Sie muss sich von Grund auf wandeln. Und das kostet Geld." So endete die Tagung mit konkreten Forderungen, vielen Ideen und sehr entschlossen, wie in einem Statement deutlich wurde: "Wir können nicht warten, bis die Welt um uns perfekt ist. Und dann mit der Inklusion anfangen." So erhielt auch Prof. Dr. Matthias von Saldern, Universität Lüneburg, für seinen Aufruf heftigen Applaus: "Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, sonst haben wir die nächsten Jahre verloren. Die UN-Konvention ist unsere Chance."

Zur Tagung ist ein Buch in Vorbereitung, das im März 2010 erscheinen soll.

Mehr unter www.inklusive-schule.de


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 4/2009, 30. Jg., Dezember 2009, S. 1 und 9
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

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jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2009