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TAGUNG/289: Tagungsbericht "Inklusion im Sport" - Barrierefreiheit beginnt im Kopf (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 44 / 30. Oktober 2012
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Barrierefreiheit beginnt im Kopf

Bei der Tagung "Inklusion im Sport" der Arbeitsgruppe Sport der SPD tauschen sich Vertreter aus Politik, Verbänden und Sport über gleichberechtigte Teilhabe aus



In der UN-Behindertenrechtskonvention steht die Forderung, Menschen mit Behinderung von Anfang an gesellschaftlich einzubeziehen, an oberster Stelle. Dies bezieht ausdrücklich auch den Sport mit ein. Der Deutsche Bundestag hat vor drei Jahren diese Konvention ratifiziert und einen nationalen Aktionsplan entwickelt. Doch wie steht es aktuell um den inklusiven Sport im Breitensport wie im Spitzensport? Welche Angebote gibt es? Was sind die Barrieren und wie können sie überwunden werden? Über diese und weitere Fragen wurde im Rahmen der Veranstaltung sowohl im Forum wie auch in vier parallel stattfindenden Arbeitsgruppen gesprochen.

Bei der Tagung "Inklusion im Sport" der Arbeitsgruppe Sport der SPD-Bundestagsfraktion in Berlin diskutierten darüber zahlreiche Gäste aus Politik, dem Behindertensport, Verbänden sowie dem organisierten Sport. Zu den Teilnehmern zählten auch DOSB-Ehrenpräsident Manfred von Richthofen und der Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, Hubert Hüppe, sowie die Paralympics-Teilnehmer Thomas Ulbricht (Leichtathletik) und Marianne Buggenhagen (Kugelstoßen).

Die Weichenstellung für Inklusion, so Christine Lambrecht, die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende in ihrer Begrüßung, beginne bereits in den Kindertagesstätten, Grundschulen, Vereinen und kommunalen Angeboten. In Deutschland gebe es keine Tradition des Zusammenlebens, statt dessen Sonderpädagogik, eigene Werkstätten und eigene Sportangebote. Doch es gebe auch positive Beispiele wie am Olympiastützpunkt in Berlin, wo Behinderte und Nichtbehinderte schon seit einiger Zeit gemeinsam trainieren. Ebenso wie Best-Practice Beispiele aus Vereinen wie zum Beispiel der Preisträger des SPD Wettbewerbs "Aktiv für Integration und Demokratie", der Judosportverein Speyer e. V., in dem gelebte Inklusion schon jetzt Realität ist. Ziel sei es, Breitensportkampagnen für inklusiven Sport zu initiieren speziell auch im Vereinsbereich. "Es gibt eine lange Liste mit Vorschlägen die wir gemeinsam diskutieren wollen".

Barrierefreiheit als Herausforderung im Kopf und in der Praxis Auf dem Podium begrüßte Moderator Hermann Krist, Vizepräsident des österreichischen paralympischen Committees zur ersten Forumsrunde Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands, Dr. Bernhard Conrads, Vizepräsident Special Olympics, Heinrich Popow, Medaillengewinner der Paralympics 2012, Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses sowie Ulla Schmidt ehemalige Bundesgesundheitsministerin und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe.

Dagmar Freitag betonte, dass Inklusion überall ein Thema sein müsse. "Inklusion ist eine Frage die in die Gesellschaft gehört und die nicht nur die Politik diskutieren muss. Aber es ist Aufgabe der Politik, das was uns die Gesellschaft sagt aufzunehmen und das was als richtig erkannt worden ist dann nach Möglichkeit umzusetzen." Für Vereine sei es oft schwer, entsprechende Angebote zu machen "Hier müssen wir gemeinsam aktiv werden. Wir brauchen bauliche Veränderungen genauso wie mehr Schulungen für Übungsleiterinnen und Übungsleiter".

Friedhelm Julius Beucher stellte die provokante Frage ins Publikum: "Wann können wir sagen: wir lösen uns auf als Behindertensportverbände?" Auch wenn der Behindertensportverband wachse und allein in den letzten drei Jahren 150.000 neue Mitglieder gewonnen habe, sei es oft schwer, den Sport dort auszuüben, da Plätze und Hallen nicht barrierefrei seien. Trotz vieler Mut machender Beispiele, gerade auch in der Zusammenarbeit mit dem DOSB und anderen Verbänden sei es noch ein weiter Weg zur vollständigen Inklusion. "Wir wollen kein Mitleid sondern Respekt", sagte Beucher und betonte "Wir müssen erst die Barrieren aus den Köpfen entfernen, bevor wir an den Barrieren im Außen etwas bewegen können".

Ulla Schmidt machte deutlich, dass man bei allen Diskussionen um Inklusion nicht den Blick auf das Ganze verlieren dürfe: "Barrierefreiheit bedeutet mehr, als Rampen für Rollstuhlfahrer zu bauen". Es müssten Antworten auf die Frage gefunden werden, wie man inklusiven Sport vor Ort voranbringen und umfassende Möglichkeiten für Bewegung bieten könne. Von Sportangeboten ohne Leistungsdruck bis zur Leistungsförderung für Begabte. Nachdrücklich forderte sie dazu auf, eine Kultur des Willkommenseins für Alle in den Sportvereinen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang müsse natürlich über die finanzielle Förderung gesprochen werden, auch in Bezug auf die Ausbildung der Übungsleiter. Inklusion sei gelungen, wenn nach Öffnung des DBS für Nicht-Behinderte und des DOSB für Behinderte ein Zusammenwachsen zu einem Verband möglich sei.

Bernhard Conrads fügte hinzu, dass Barrierefreiheit für geistig Behinderte nicht nur im Bereich der Bewegung wichtig sei, sondern man auch das Thema Visualisierung für eine bessere Zugänglichkeit beachten müsse, etwa durch Piktogramme. Zusätzlich gelte es Sprachbarrieren abzubauen:

"Wir müssen uns daran gewöhnen, mehr in leichter Sprache zu kommunizieren, damit auch geistig Behinderte teilhaben können", sagte Conrads. Die gute Nachricht sei, dass dies nicht viel Geld koste, sondern nur eine Veränderung von Gewohnheiten bedeute. Heinrich Popow schilderte in bewegenden Worten seinen Lebensweg vom krebskranken Achtjährigen, der zwei Jahre zuvor mit seiner Familie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen war, bis zum paralympischen Athlet. Er berichtete davon, wie ihn nach der Amputation Ärzte oder Physiotherapeuten statt zu helfen eher behindert hätten und erst ein Gespräch mit einem paralympischen Sportler ihm wieder Mut gemacht habe.

"Es fällt einem Menschen mit Behinderung leichter behindert zu sein als nicht behindert zu sein", sagte Popow. Selbst Trainer hätten aus Unwissenheit oft Angst und behinderten statt zu fördern. Daher sei er froh, einen Trainer gefunden zu haben, der ihn einfach nur Sport habe machen lassen.

Diese Erfahrung wolle er weitergeben: "Wir paralympische Athleten wollen Vorbilder sein - egal ob im Rollstuhl oder mit Prothese. Alles fängt im Kopf an - wir sind das beste Beispiel, dass wenn der Kopf funktioniert eine Behinderung gar nicht da ist."

Parallele Arbeitsgruppen zu verschiedenen Schwerpunkten Nach den Statements vom Podium begannen vier parallel stattfindende Arbeitskreise, in denen das Thema mit jeweils anderen Schwerpunkten diskutiert wurde:

  • AG1 Anforderungen an barrierefreie Infrastruktur - Mut zur Lücke
  • AG2: Grenzen und Chancen barrierefreier Kommunikation
  • AG3 Inklusive Sportveranstaltungen als Vision der Zukunft
  • AG4 Markt der Möglichkeiten: Best Practices - Tauschbörse für Ideen

Im Anschluss wurden die Ergebnisse der einzelnen Arbeitskreise unter Moderation von Sabine Bätzing-Lichtenthäler, stellv. sportpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, vorgestellt.

Um eine weiterführende Diskussion zu fördern, soll in Kürze eine schriftliche Zusammenfassung der Ergebnisse verfügbar sein.

Behindertengerecht ist menschengerecht: Im Bericht der AG1 wurde deutlich, dass obwohl gesetzliche Vorgaben dazu zwingen, Barrierefreiheit bei Neu- und Umbauten herzustellen, dies oft umgangen wird. "Ohne Druck wird es nicht funktionieren", lautete der Tenor. Zusätzlich sei die Beteiligung der späteren Nutzer bei der Planung wichtig, da sie die Behindertenexperten sind. Barrierefreie Kommunikation: In AG2 wurde über aktuelle Grenzen der Kommunikation innerhalb der verschiedene Kommunikationswege diskutiert. Wichtig sei, die Kommunikation zu verbessern, notfalls per gesetzlicher Vorgabe. Dies gelte beispielsweise auch für Profile in sozialen Netzwerken und Internetseiten im Sportbereich, die in Leichter Sprache und auch für Blinde verfügbar sein sollten.

Inklusive Sportveranstaltungen: AG3 stellte fest, dass der Schulsport die Basis für mehr Normalität zwischen Behinderten und Nichtbehinderten sei, da Behinderte mangels passender Angebote und Qualifikation der Lehrer oft zum Zuschauen gezwungen werden.

Wünschenswert sind mehr Veranstaltungen im inklusiven Bereich, gern auch Wettkämpfe. Inklusion wurde dabei auch als eine Aufgabe von DBS und DOSB benannt, verbunden mit dem Wunsch, gemeinsam Strukturen für inklusive Sportveranstaltungen zu entwickeln.

Markt der Möglichkeiten: AG4 präsentierte erfolgreiche Inklusionsprojekte aus verschiedenen Landessportbünden von Trainerfortbildungen über gemeinsame Sportgruppen bis zum Skaten im Rolli. Zusätzlich wurden Fanprojekte für inklusive Sportereignisse vorgestellt.

Die Beispiele zeigten, was möglich ist, aber auch wie weit der Weg noch ist: daher forderte die Gruppe mehr inklusive Sportangebote, den barrierefreien Ausbau von Sportstätten und Projekte zur Bewusstseinsbildung.

Moderiert von Sabine Bätzing-Lichtenthäler gab es im Anschluss eine zweite Podiumsdiskussion, in der Friedhelm Julius Beucher, Bernhard Conrads, Hermann Krist und Heinrich Popow über die Wege zum Miteinander diskutierten.

Das Schaffen von Voraussetzungen für Inklusiven Sportunterricht sei aktuell noch eine große Hürde, so Friedhelm Julius Beucher, da zwar der DBS inzwischen 33.000 Übungsleiter ausgebildet habe, die Sportlehrerausbildung aber hinterherhinke. Es mangele an der Beweglichkeit der Kultusministerkonferenz, und daher werde es noch lange dauern, bis aus Studienangeboten umsetzbare Lehrpläne entstünden.

Für Heinrich Popow ist der Abbau von Berührungsängsten ein wichtiger Schritt. Kinder würden meist ganz natürliche Neugierde zeigen und offen mit Behinderungen umgehen. Wichtig sei es, Sportarten bekannt zu machen, die man gemeinsam betreiben kann, wie zum Beispiel Sitz-Volleyball. Zusätzlich biete die Nutzung von sozialen Netzwerken die Möglichkeit, in Kontakt zu kommen und Fragen auf kurzem Weg zu beantworten.

Als weiteres Best-Practice-Beispiel berichtete DBS-Präsident Beucher von Events der Blindenfußball-Bundesliga. Die Sepp-Herberger-Stiftung des Deutschen Fußball-Bundes hat sich damit zum Spiel gesetzt, Inklusion in die Fußballvereine zu tragen. Einen ähnlichen Ansatz haben die von Special Olympics initiierten Angebote von Unified Sports, in denen Menschen mit und ohne geistige Behinderung gemeinsam Sport betreiben. Bernhard Conrads berichtete als Beispiel von den Volleyball-Teams und mahnte für eine breite Umsetzung die Kooperation mit den Sportfachverbänden an.

Zu ihren Wünschen befragt, benannte Conrads die Akzeptanz und Solidarität unter den behinderten Sportlerinnen und Sportlern ohne ein Ranking. Zusätzlich wünsche er sich von der Politik ein offenes Ohr und Interesse, um sich von der Begeisterung anstecken zu lassen und so eher bereit zu sein, sich auch finanziell zu beteiligen. Für Heinrich Popow ginge ein großer Wunsch in Erfüllung, wenn seine Kolleginnen und Kollegen den Respekt erhielten, den sie sich durch ihren Einsatz verdienten. Wenn Politik und Sportler, ob behindert oder nicht, an einem Strang zögen, dann sei sehr viel möglich.

Sport solle in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen, so der Wunsch von Friedhelm Julius Beucher, verbunden mit dem Bewusstsein, dass das nicht zum Nulltarif zu haben ist, sondern das Geld umverteilt werden müsse.

Neben einem Wettbewerb der Ideen wünscht er sich von der Politik dringend eine verpflichtende Unterstützung für behinderte Leistungssportler, da derzeit viele Athleten durch Arbeitslosigkeit oder Hartz-4 nicht wissen, wie sie ihr Training finanzieren sollen. Als Ausrichter der spannenden Veranstaltung dankte Martin Gerster zum Abschluss allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den zahlreichen Helferinnen und Helfern. Er habe viel gelernt und sei beeindruckt von den vielen Lösungsvorschlägen. "Die Barriere muss raus aus unseren Köpfen", sei die wichtigste Erkenntnis. Die Veranstaltung zeige, "dass es noch viel zu tun gibt, wir aber auf einem guten Weg sind".

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 44 / 30. Oktober 2012, S. 29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2012