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TAGUNG/299: Autismus - Keine Krankheit, sondern Kern der Persönlichkeit (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juni 2013

AUTEA-Fachtagung zur Lebensqualität autistischer Menschen
Keine Krankheit, sondern Kern der Persönlichkeit!

Von Petra Wilkening



Ein Telefonbuch zu lesen habe er zwar auch inspirierend gefunden, aber er habe es nicht auswendig gelernt, spöttelte Hajo Seng mit einem kleinen Seitenhieb auf den Film "Rainman". Der Vorstand des Selbsthilfe-Vereins autWorker gehörte zu den Referenten der AUTEA-Fachtagung "Qualität des Lebens von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen" im Tagungszentrum "Ravensberger Park" in Bielefeld. Das Fortbildungsinstitut AUTEA gründeten Bethel und das katholische Sozialwerk St. Georg vor 15 Jahren mit dem Ziel, die Lebenssituation autistischer Menschen zu verbessern.


Autistische Fähigkeiten erschöpften sich nicht darin, im Kopf die elfte Wurzel aus einer Zahl zu ziehen oder ein Buch zu lesen und dann auswendig zu können, betonte Hajo Seng bei der Veranstaltung Ende April. Die Potenziale von autistischen Menschen gingen für die Gesellschaft verloren, wenn man Autismus nur mit skurrilen unnützen Fähigkeiten verknüpfe oder in ihm eine Behinderung sehe. Zu den Stärken autistischer Menschen gehörten der Blick für Details, die Mustererkennung, ein sehr gutes Gedächtnis sowie Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit.

Wie autistische Menschen in der Gesellschaft gesehen werden, ist einem ständigen Wandel unterlegen und nicht nur von Forschungsergebnissen, sondern auch von der jeweiligen Kultur abhängig. "Diagnosen und Behinderungen werden immer wieder neu definiert, und dabei sind neue Rahmen oder Definitionen nicht unbedingt fortschrittlicher als die alten", gab Prof. Roy Richard Grinker von der George Washington University den 150 Tagungsgästen zu bedenken.

Früher sei die Diagnose "Autismus" stigmatisierend gewesen, erinnerte der Fachmann aus Washington, D.C. Heute dagegen sei es möglich, dass sich eine Teilnehmerin des Wettbewerbs "America's Next Top Model" mit den Worten "Ich habe Asperger" vorstelle, ohne sich schämen zu müssen. Oder dass seine Tochter in einem Bewerbungsgespräch ganz selbstverständlich sage: "Ich bin Isabell Grinker und voll autistisch." Diese Frauen verständen Autismus nicht als Schaden und fühlten sich nicht stigmatisiert.

Hajo Seng, Jahrgang 1963, hatte sein "Coming out" als Autist Mitte der 1990er-Jahre. Damals habe man sich die Betroffenen als "leere Festung" vorgestellt, vollkommen abgeschlossen von der Außenwelt, hilfe- und therapiebedürftig. "'Mein Autismus' passte nicht in dieses Bild", so Hajo Seng, aber die Diagnose erklärte ihm, warum er anders war. "Das war wichtig für mich. Etwas bekam einen Namen, und ich konnte einen Weg finden, mein Leben als ein autistisches zu organisieren." Durch die Diagnose wusste er, warum ihm "typische soziale Orte", wie eine Kneipe, wegen ihrer Geräuschkulisse unerträglich waren. Nach vielen Minijobs, aber auch einem Mathematikstudium mit Diplomabschluss arbeitet Hajo Seng heute als Programmierer und Systemadministrator an einer Universität. "Dort gibt es viele eigenartige Leute, und ich falle gar nicht auf", merkte er ironisch an.


Antwort auf das Was

Den Wert von Diagnosen sieht Hilde de Clercq, Direktorin des Opleidingscentrums Autisme in Antwerpen und Mutter eines 27-jährigen autistischen Sohnes, eher skeptisch. "Menschen werden in Schubladen gesteckt und verlieren ihre Persönlichkeit." Diagnosen gäben nur eine Antwort auf das Was, die Störung, nicht auf das Wer. Menschen seien aber nicht die Summe von Labels und Symptomen. Wenn sie gefragt würde: "Was würden Sie wählen, wenn Sie könnten - ein Kind mit Autismus oder ohne?, wäre ihre Antwort klar: Sie würde sich für ihren Sohn Thomas entscheiden, ein einzigartiges Wesen. Die Gesellschaft müsse die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen akzeptieren, denn jeder werde geboren, um "dabei zu sein". "Und wir haben das Recht, nicht so nah wie möglich 'am Durchschnitt' zu sein!" Für eine gute Lebensqualität der Menschen mit Autismus sei es wichtig, ihnen die Wahl zu lassen und die Kontrolle über ihr Leben. "Möglicherweise mit Unterstützung!" Dabei hat Hilde de Clercq vor allem ein natürliches soziales Netzwerk aus Familie und Freunden im Blick und nicht nur die Unterstützung durch professionelle Experten. "Die geben ihren Job auf, und dann sind unsere Kinder alleine."


TEACCH-Konzept

Seit seiner Gründung arbeitet das Fotbildungsinstitut AUTEA mit dem TEACCH-Center der University of North Carolina in Chapel Hill zusammen. Das amerikanische TEACCH-Konzept ist das erfolgreichste Förderprogramm für autistische Menschen weltweit. "Es ist ein Klischee, dass Menschen mit Autismus alle gleich sind", betonte auch Prof. Dr. Gary Mesibov, ehemaliger Direktor des TEACCH-Centers, der mit seiner Nachfolgerin Prof. Mary E. Van Bourgondien an der Tagung teilnahm. "Wir haben verstanden, dass jeder autistische Mensch einzigartig ist. Deswegen können wir effizient arbeiten." Heute gehe es nicht mehr darum, Autismus zu heilen, sondern autistischen Menschen und ihren Familien ein gutes Leben zu ermöglichen.

Dass Autismus kein medizinisches Problem sei, stellte auch Theo Peeters, Gründer des Opleidingscentrums Autisme, fest. Autismus sei eine andere Art des Denkens, eine andere Art der Informationsverarbeitung. Ein "anderes" Gehirn sei aber kein Synonym für ein "krankes" Gehirn. "Eine Ko-Morbidität kann geheilt werden, aber nicht das autistische Denken." Das kann Hajo Seng nur unterstreichen: "Das Gehirn eines Autisten funktioniert einfach anders. Es geht nicht um ein Defizit." Den Autismus versteht Hajo Seng als den Kern seiner Persönlichkeit und nicht als etwas "Pathologisches". Er sei ein "Autist" und nicht ein "Mensch mit Autismus", das heißt nicht ein Mensch, dem der Autismus als eine Eigenschaft von vielen anhafte.

"Dabei sein zu können" ist auch aus Sicht von Hajo Seng ganz wichtig für die Lebensqualität autistischer Menschen. Sie benötigten ein Umfeld, das andere Lebensentwürfe akzeptiere und dem sie vertrauen könnten, und sie bräuchten auch den Kontakt zu anderen Autisten.


Tipps gegen Stress

Im Leben von autistischen Menschen gibt es viele Stressquellen: Probleme mit mangelnder Organisation und mit der Tagesstruktur, Probleme damit, die eigenen Gefühle und die der anderen zu erkennen, Probleme mit kommunikativen Anforderungen und mit Veränderungen. Darauf wies Prof. Mary E. Van Bourgondien hin und gab Tipps für mehr Freude im Leben: Sorgen in ein Tagebuch schreiben anstatt zu viel grübeln, sich mit Sport und Musik von negativen Themen ablenken, Zeit in der Natur verbringen, aber auch die Selbstwirksamkeit - das Gefühl: Ich kann das, was getan werden muss - stärken. "Drei positive Emotionen gleichen eine negative aus", gab Prof. Van Bourgondien allen mit auf den Weg, denen die Lebensfreude autistischer Menschen am Herzen liegt.

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Quelle:
DER RING, Juni 2013, S. 10-11
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen
Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2013