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VERBAND/625: Die Selbsthilfe ist kein Bittsteller (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2008

BAG INTERN
Die Selbsthilfe ist kein Bittsteller

Fachkonferenz zu Prävention und Gesundheitsförderung


"Prävention und Gesundheitsförderung als Schwerpunkte der Gesundheitsselbsthilfe" so lautete der Titel der Fachkonferenz der BAG SELBSTHILFE am 11. und 12. September 2008, die vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde.


Prävention ja, aber keinen Präventionsterror - Recht auf Gesundheit ja, aber auch keinen Zwang zur Gesundheit", gab Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt in seiner Einleitung in die Fachkonferenz der BAG SELBSTHILFE den Diskutierenden mit auf den Weg. Der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln führte durch die Tagung mit dem Titel "Prävention und Gesundheitsförderung als Schwerpunkte der Gesundheitsvorsorge", zu der die BAG SELBSTHILFE ins Bonner Gustav-Heinemann-Haus eingeladen hatte. Seinen Beitrag lesen Sie auf der nächsten Seite.

Der Vormittag des ersten Tagungstages stand unter der Überschrift "Prävention und Gesundheitsförderung in der Selbsthilfearbeit - eine theoretische und konzeptionelle Grundlegung". Der scheidende Bundesgeschäftsführer der BAG SELBST-HILFE, Christoph Nachtigäller, bot einen Einblick in die Sichtweise behinderter und chronisch kranker Menschen und stellte alte und neue Herausforderungen vor.


Berechtigung der Prävention

Im breiten Verständnis der Öffentlichkeit schwebe die Prävention zwischen der Verunglimpfung als Bauchtanzgruppe und dem Wettbewerb zwischen jungen wohlhabenden Gesunden, so Helga Kühn-Mengel, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten und Vorsitzende der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung, die die Sicht der Gesundheitspolitik präsentierte. Prävention sei vor allem für behinderte und chronisch kranke Menschen von Bedeutung. Es sei aber nicht Aufgabe der Selbsthilfe, die Fehler des Systems durchgehend auszugleichen. "Das System hat eine Bringschuld. Derzeit ergänzt die Selbsthilfe mit hoher Qualität, wo das System versagt", betonte sie.

Die Sichtweise der Wissenschaft brachte Professor Alf Trojan vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ein. Er mahnte an, dass im Bereich Gesundheit deutlich schwieriger Evidenz herzustellen sei als in der Medizin und betonte, dass alle Formen der Prävention, die Primärprävention ebenso wie die Sekundär- und Tertiärprävention, ihre Berechtigung im Gesundheitswesen hätten und entsprechend unterstützt werden müssten.

"Prävention und Gesundheitsförderung in der Selbsthilfearbeit - Lebensweltliche Ansätze der Prävention und Gesundheitsförderung" war der Nachmittag im Gustav-Heinemann-Haus überschrieben. Nach der Einführung von Dr. Martin Danner stellten Mitgliedsverbände der BAG SELBSTHILFE einige Präventionsansätze vor:

• Primärprävention bei pflegenden Angehörigen
• Kinder als Angehörige psychisch kranker Menschen
• Prävention "Am Tag des Lärms"
• Frühförderung
• Mammografie-Screening
• Selbsthilfe und Prävention im rheumatischen Formenkreis
• Vermeidung von Folgeerkrankungen durch Behandlung.

Der zweite Tagungstag widmete sich der Prävention und Gesundheitsförderung in der Selbsthilfe - gesundheitswissenschaftliche und gesundheitspolitische Perspektive und der Qualitätsdiskussion. Die Herausforderungen für die Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen wurden in der Abschlussrunde diskutiert. "Alles, was die Gesundheit stärkt, ist Gesundheitsförderung", fasste Christoph Nachtigäller zusammen. Er betonte noch einmal die Forderung nach der Ausweitung des Präventionsbegriffs auch auf Menschen, die schon krank seien. Schließlich gelte es weitere Erkrankungen zu vermeiden. "Es darf keine Fokussierung auf die Primärprävention geben, wie es die Politik propagiert", forderte Christoph Nachtigäller. Er warnte allerdings vor "Präventionsterror". Es ginge nicht um das vorschreiben von Lebensstilen, sondern um Angebot und Nachfrage.


Qualität vor Evidenz

Dringend notwendig sei ein Präventionsgesetz, das auch eine verpflichtende Kooperation und finanzielle Ressourcen für die Weiterentwicklung von Prävention regle. "Es kann nicht sein, dass das, was wir bereits haben, zusammengeschrieben und dann als ein Präventionsgesetz bezeichnet wird", erklärte der scheidende Bundesgeschäftsführer. Ganz energisch müsse sich die Selbsthilfe dem Trend entgegen stellen, sich von Kostenträgern vereinnahmen zu lassen. "Der Satz 'Wes Brot ich ess, des Lied ich sing' ist nicht angemessen."

Frank Schulz-Nieswandt warnte vor einer "Verwissenschaftlichungswelle" von Evaluation und Evidenz im Spannungsfeld von Autonomie und Förderung, und Dieter Voß, GKV-Spitzenverband Bund, erklärte: "Die Selbsthilfe ist kein Bittsteller und darf sich auch nicht so empfinden". 70 Prozent der Ärzte seien nicht evidenzbasiert, das könne auch nicht für die Selbsthilfe gelten. Ekkehard von Pritzbuer von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung forderte Qualität vor Evidenz im Sinne einer "bestverfügbaren" Evidenz. Aus Sicht der Selbsthilfe forderten Emma Margarete Reil, Sklerodermie-Selbsthilfe, und Ursula Faubel, Deutsche Rheuma-Liga, dass die Arbeit an der Basis ohne großen Professionalisierungsaufwand möglich sein und die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müsse.

In ihrer Zusammenfassung der Tagung betonte Hannelore Loskill, die stellvertretende Bundesvorsitzende der BAG SELBSTHILFE, sie habe gelernt, dass es Wechselwirkungen zwischen Prävention und Gesundheitsförderung gebe und hoffe nun darauf, dass denen nicht allzu viele Nebenwirkungen folgen würden. Den Tagungsteilnehmerinnen und Teilnehmern gab sie mit auf den Weg: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" und mahnte: "Nichts über uns ohne uns".


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Quelle:
Selbsthilfe 4/2008. S. 10-11
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2009