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VERBAND/731: Psychiatrie-Detektive auf Spurensuche (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2016

Spezialangebot für Menschen mit geistiger Behinderung
Psychiatrie-Detektive auf Spurensuche

Von Gunnar Kreutner


Unzählige Wasserblasen steigen in langen Glassäulen empor. Beruhigende Klänge und warmes Licht erfüllen den Snoezelen-Raum. Walter Beyer(*) schaut sich staunend um. "Was muss ich hier tun?", fragt der geistig behinderte Mann Heilerziehungspflegerin Melanie Adam. "Gar nichts!", antwortet sie. "Hier sind Sie der Chef! Sie können sich einfach entspannen." Das gefällt Walter Beyer erkennbar. Zufrieden lächelnd lässt er sich auf das Wasserbett fallen.


Walter Beyer fühlt sich wohl in der meditativen Atmosphäre. Seine Augen will er aber dennoch nicht schließen. Zu spannend findet der Patient die ungewohnte Umgebung. Er befindet sich in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) des Ev. Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin-Lichtenberg. Walter Beyer ist zum ersten Mal beim Snoezelen. "Es ist wichtig, ihm Lebensfreude und Wohlbefinden zu vermitteln", erklärt Melanie Adam. Seit 2006 arbeitet sie im PIA-Bereich für Menschen mit geistiger Behinderung, kurz PIA-GB. Das Team ist auf die Behandlung dieser Patientengruppe spezialisiert, weil bei diesen Menschen psychische Erkrankungen oft nicht oder erst spät erkannt werden.

Das Snoezelen ist nur einer von vielen wichtigen Therapiebausteinen in der PIA-GB. "Weil die Probleme unserer Patienten sehr individuell sind, ist die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit bei uns besonders wichtig", erläutert Privatdozentin Dr. Tanja Sappok. Sie ist Oberärztin in der PIA-GB, in der neben Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern auch Pädagogen, Ergo-, Physio-, Musik- und Kunsttherapeuten arbeiten.

"Hausbesuche"

Heilerziehungspflegerin Melanie Adam besucht Patienten auch in ihren Wohneinrichtungen und beobachtet sie in ihrem alltäglichen Umfeld. Außerdem klärt sie in den Einrichtungen über die Erkrankungen der Bewohner auf. Sie versuche die Menschen wieder "ins Ganze zu bekommen", sagt sie. "Um mir ein umfassendes Bild zu machen, betrachte ich auch die persönliche Situation und Umgebung."

Besonders bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, die sich verbal kaum oder überhaupt nicht äußern können, ist es schwierig, psychischen Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten auf die Spur zu kommen. Eben diese "Detektivarbeit" reizt Isabell Gaul, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Zeitgleich zum Snoezelen im Haus 9 führt sie im benachbarten Haus 11, dem "Hauptsitz" der PIA-GB, Patientengespräche durch. Am späten Vormittag sitzt ihr Anja Weber(*) gegenüber, die in einem stationären Wohnheim lebt. Begleitet wird sie von einer Mitarbeiterin. Isabell Gaul will den Grund für die häufigen Erregungszustände der behinderten Frau herausfinden. Weil Anja Weber sich nicht so gut mitteilen kann, befragt sie die Mitarbeiterin zu ihren Verhaltensbeobachtungen. "Der Austausch mit den Betreuern ist wichtig für mich", betont Isabell Gaul. Viele Verhaltensauffälligkeiten würden sich letztlich nicht allein über eine psychische Erkrankung erklären, so die 42-jährige Ärztin. Auch eine Über- oder Unterforderung, Probleme zuhause oder nicht erkannte körperliche Beschwerden könnten eine Ursache sein.

Durch das Fenster von Isabell Gauls Arztzimmer sind zwei Männer zu sehen, die den weißen Bungalowbau verlassen haben und langsam über das weitläufige KEH-Gelände schlendern. Der eine ist Steffan Schuster, ein 45-jähriger Erzieher. Er sei eingebunden in "verschiedene nicht-ärztliche Angebote", erzählt er. Dazu gehörten regelmäßige Spaziergänge mit Patienten, wie Jens Tremmer(*). "Gerade für ihn ist es wichtig, viel nach draußen zu gehen und sich intensiv mit ihm zu beschäftigen. So bekomme ich einen besseren Zugang zu ihm", sagt er mit Blick auf seinen Begleiter, der sich bei ihm untergehakt hat.

Die Mitarbeit von Erziehern, insbesondere aber von Pädagogen habe einen hohen Stellenwert im Gesamtkonzept der PIA-GB, betont Dr. Tanja Sappok. "Vielen schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten wird man nicht mit klassischen medizinischen Methoden gerecht."

Deutliche Besserung

Einen Zugang über Töne und Klänge wählt Musiktherapeut Thomas Bergmann. Sein Therapieraum ist mit allen erdenklichen Instrumenten ausgestattet. Er spielt eine einfache Melodie am Klavier. Sven Jansen(*) schaut neugierig auf die Finger des Therapeuten und Haut schließlich unrhythmisch mit der Handfläche auf die Tasten. "Ich animiere zu körperlicher Bewegung und spreche die Sinne der Patienten an", so Thomas Bergmann. Musik und Instrumente ermöglichten als nonverbales Medium, Kontakt zu nicht sprechenden Menschen aufzunehmen, ihre Emotionen sowie ihr Verhalten zu entschlüsseln.

Beeindruckt von der Wirkung ist Gudrun Görn, die das Geschehen interessiert von einer Bank aus beobachtet. Die Mitarbeiterin eines Betheler Förderbereichs für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen im brandenburgischen Erkner kennt Sven Jansen seit zehn Jahren. Seine extremen Auffälligkeiten hätten durch die Behandlung in der PIA-GB deutlich abgenommen, erzählt sie. "Er ist viel geduldiger und ruhiger geworden."

(*) Name geändert



PIA-GB
  • Gehört zur Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Ev. Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge
  • Eröffnet im September 2005
  • Mehr als 600 Menschen werden zurzeit von dem multiprofessionellen Team betreut.

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Quelle:
DER RING, Januar 2016, S. 18-19
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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Zusammenarbeit mit den Mitarbeitervertretungen.
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DER RING erscheint monatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2016

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