Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → REPORT

INTERVIEW/005: Irren ist menschlich - Sturmzeit in der Psychiatrie, Klaus Dörner im Gespräch (SB)


Zwischen Antipsychiatrie und Reform der Institution

Interview am 16. Januar 2014 in Hamburg-Eppendorf (Teil 1)



Der Mediziner und Sozialpsychiater Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, dessen Name untrennbar mit der Reformbewegung in der Psychiatrie verbunden ist, gehörte zu den Mitbegründern der Tagesklinik am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE) und des Mannheimer Kreises. Während seiner Tätigkeit als Leitender Arzt der Westfälischen Klinik für Psychiatrie in Gütersloh gelang es ihm und seinem Team, sämtliche Langzeitpatienten außerhalb der Institution unterzubringen. Wollte man sein Lebenswerk auf einen kurzen Nenner bringen, so lautete die Losung, daß kein Mensch im Heim leben müsse.

Am 22. November 2013 feierte Klaus Dörner seinen 80. Geburtstag. Daß er sich nach wie vor mit Elan für eine lebens- und liebenswertere Gesellschaft einsetzt, ist mit einer unermüdlichen Reisetätigkeit verbunden. Gern nahm der Schattenblick die daher seltene Gelegenheit wahr, am 16. Januar ein ausführliches Gespräch mit ihm zu Hause in Hamburg-Eppendorf zu führen.

Angesichts seiner Länge und inhaltlichen Gewichtung ist das Interview in drei Abschnitte gegliedert. Während der erste Teil wesentlichen Stationen der Lebensgeschichte Klaus Dörners zwischen den späten 1960er Jahren und seiner Tätigkeit in Gütersloh gewidmet ist, wird in Teil 2 insbesondere die Psychiatriekritik thematisiert. Der abschließende dritte Teil enthält einen Ausblick auf gesellschaftliche Entwicklungen und deren Konsequenzen für eine tendenzielle Abschaffung der Pflegeheime für alte Menschen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Klaus Dörner
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erreichte die Psychiatriekritik einen Höhepunkt, der weit über die Institution hinaus in die Gesellschaft ausstrahlte. Nachdem der Diskussionsprozeß zunächst vielfältig und solidarisch geführt worden war, kam es in der Folge zu einer Aufspaltung in zwei Hauptflügel. Während die einen für eine vollständige Abschaffung des Psychiatrie eintraten, plädierten die andern für ihre Öffnung und Reform. Wie haben Sie die damalige Entwicklung erlebt und welche Position nahmen Sie in der Diskussion ein?

Klaus Dörner: Ich kam am 1. April 1968 von Berlin nach Hamburg zurück. Hier hatte ich ja studiert und 1960 mein medizinisches Staatsexamen abgelegt. Dann war meine Freundin schwanger geworden, und politisch aufgeklärt, wie ich da schon war, sagte ich mir, daß ein Mann nicht eine akademische Karriere auf Kosten seiner Frau macht. Deswegen habe ich mir über die Friedrich-Ebert-Stiftung ein Zweitstudium-Stipendium besorgt. Das Motiv war also, Geschlechtergerechtigkeit zu realisieren. Und weil ich als Zweitstudium Soziologie gewählt hatte und meines Wissens der erste mit dieser Kombination von Medizin und Soziologie war, gab es keinerlei Probleme, das Stipendium zu bekommen. Wir sind dann nach Berlin gegangen, wie sich das damals für politisierende Menschen anbot: Wenn man sich politisch profilieren wollte, ging man nach Berlin. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen, aber 1960 war das so. Dort habe ich Soziologie zu Ende studiert und war im sozialen und wirtschaftlichen Sinne eine Art Schmarotzer, der sich zu einer Zeit, in der man eigentlich Geld verdienen sollte, den Luxus eines Zweitstudiums erlaubte, was in jeder Hinsicht sehr ergiebig war. Ich habe meine zweite Doktorarbeit mit dem Titel "Bürger und Irre" zur Entstehung der Psychiatrie geschrieben, wobei man sich klarmachen muß, daß ich bis dahin kaum Berührungen mit praktischer Psychiatrie hatte. Das war also lauter theoretisches Blabla, was ich da von mir gegeben habe. Dennoch war es ganz erfolgreich und ist bis heute auf der ganzen Welt ein wichtiges Buch geblieben, was mich viele Jahre später selbst verblüfft hat.

Dann endete meine Berliner Zeit, da ich allmählich ans Geldverdienen denken mußte - inzwischen waren zwei Kinder da - und ich mein Versprechen an Hans Bürger-Prinz einlösen wollte. Er war der einzige Psychiater in Deutschland, der soziologisch denken konnte und das auch getan hat. Mit ihm hatte ich vereinbart, daß ich nach meinem Studium nach Hamburg zurückkehren und bei ihm am UKE meine psychiatrische Weiterbildung durchführen würde. Was ich dann 1968 auch getan habe.

Nicht lange darauf sagte der alte Bürger-Prinz zu mir, er habe gehört, daß es heutzutage Mode sei, eine Tagesklinik zu haben. Er wisse zwar nicht, was das soll, gebe mir aber die Chance, das zusammen mit der Psychologin Ursula Plog auf die Beine zu stellen. So haben wir also die später legendär gewordene Tagesklinik aufgemacht. Ich kann mich noch gut an die Verhandlungen mit den Krankenkassen erinnern, für die das genauso völliges Neuland war. Sie hatten gehört, daß man so etwas in der Sowjetunion mache, und hielten es deswegen für sozialistische Umtriebe, was sie auch ganz offen aussprachen. Können wir das denn machen? Bringt das nicht alle normalen Sitten und Gebräuche, ambulant und stationär, durcheinander? Das war die Mentalität, mit der man in dieses Abenteuer Tagesklinik reinging. Es gab damals so etwas schon in Tübingen und Heidelberg, aber noch nicht im norddeutschen Raum.

SB: Damals war eine emanzipatorische Politisierung die geradezu beiläufige Begleiterscheinung studentischer Aktivitäten und universitärer Umbrüche. Welche weiteren Entwicklungen und Konsequenzen löste diese Sturm- und Drangzeit bei Ihnen aus?

KD: Weil ich natürlich meine Politisierung nicht aufgeben wollte und am 1. April pünktlich zur großen Anti-Springer-Demonstration in Hamburg ankam, habe ich als nächstes mit anderen zusammen auf die Schnelle einen republikanischen Klub gegründet. Der hat kein furchtbar langes Leben gehabt, aber immerhin war das erstmal etwas ganz Tolles, so abgekupfert vom Berliner Modell. Insofern gab es auch gleich die Verquickung von politischer und psychiatrischer Aktivität, man hatte schnell eine Kerngruppe gefunden, die das gleichsinnig sah. In die große Psychiatriepolitik mit den zwei Lagern - entweder revolutionär oder reformistisch - kamen wir gar nicht erst rein, weil wir gleich in dieses Abenteuer Tagesklinik eingestiegen sind und da erst einmal unsere Bildungserlebnisse hatten.

Das wichtigste Bildungserlebnis bis heute war für mich die Entdeckung, daß Angehörige von psychisch Kranken auch Menschen sind. Damit hatte ja niemand gerechnet, ich auch nicht. Ich hatte ja schon in der Anfangszeit als Assistent ganz brav gearbeitet und das genauso konventionell betrachtet wie alle anderen auch. Das hing im Grunde mit dem Wesen der Tagesklinik zusammen, die ja durchweg Leute aufnehmen sollte, die eigentlich stationär behandelt werden mußten. Das sollte nun mit größerer Freiheit gehandhabt werden. Da wir aber nur konventionell psychiatrisch denken konnten, hatten wir furchtbare Angst. Es handelte sich ja um Patienten, die tagsüber bei uns waren, aber abends nicht wieder auf Station gingen und rund um die Uhr unter psychiatrischer Kontrolle standen, sondern die Nacht zu Hause verbrachten. Um Gottes willen, was machen wir, wenn die sich am anderen Morgen alle umgebracht haben? Wir waren fest davon überzeugt, daß es so sein könnte. Also mußten wir auch die Leute kennenlernen, zu denen sie abends gingen, nämlich die Angehörigen. Das war der profi-orientierte Anlaß dafür, uns überhaupt mit den Angehörigen zu befassen. Dabei haben wir sehr schnell gemerkt, daß sie all unsere Zeit bräuchten und nicht immer nur der Patient. Wir hatten ja alle gelernt, daß der Patient immer im Mittelpunkt steht. Was man natürlich nie wirklich gemacht hat, aber so lautete die Ideologie.

Das war wirklich ein Bildungserlebnis für mich, weil es auch in der Erweiterung bedeutet, daß psychische Krankheiten vielleicht gar nicht Krankheiten, sondern Beziehungsstörungen sind. Insofern ist die Psychiatrie eine Beziehungswissenschaft. Und wenn sie eine Beziehungswissenschaft ist, ist sie eher soziologisch und psychologisch als naturwissenschaftlich. Wenn man so will, ist sie auch mehr philosophisch als naturwissenschaftlich. Das ging dann schon mehr ins Grundsätzliche ein und hat dann dazu geführt, daß wir uns darüber hinaus auch mit anderen Leuten, die nicht in der Tagesklinik gearbeitet haben, kurzgeschlossen und eine etwas größere Gruppe versammelt haben.

Dies führte zu dem ersten legendären Sozialpsychiatrie-Kongreß. Bürger-Prinz hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, einmal im Jahr einen Kongreß zu einem Thema seiner Wahl zu veranstalten, den er von irgendwelchen Firmen gesponsert bekam. Irgendwie war er auf die Idee gekommen, Plog und mich zu beauftragen, einen Kongreß über Sozialpsychiatrie zu organisieren. Wir wußten gar nicht, was das war, und konnten mit dem Begriff kaum etwas anfangen. Den andern ging es aber auch nicht besser, weshalb das nicht weiter auffiel. Wir haben uns also umgesehen, wer in Deutschland in diese Richtung denken könnte, und so kamen einige von den Leuten zusammen, die damals schon in diesem Sinne aktiv waren: Aus Hannover Manfred Bauer, Mark Richartz und Erich Wulf - Asmus Finzen war, glaube ich, noch nicht dabei. Bei Nils Pörksen war das ganz komisch, weil wir den Namen noch nie gehört hatten. Er kam von sich aus und sagte, er arbeite schon jahrelang als Sozialpsychiater. Auf diesem Kongreß wurde ziemlich wild politisiert, und zwischen Sozialpsychiatrie und Politik ging es so munter hin und her, daß mittendrin Bürger-Prinz aufstand und türknallend den Raum verließ. Das war der Geburtsakt, und wir merkten, daß wir etwas anderes, etwas Eigenes machten, das wir noch nicht so richtig benennen konnten. So hat sich der Begriff Sozialpsychiatrie eingebürgert.

Mit lebhafter Geste im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Türknall als Geburtsakt der Sozialpsychiatrie
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sie gehörten damals auch zu den Mitbegründern des Mannheimer Kreises. Wie kam es zu dessen Entstehung und in welcher Hinsicht brach seine Existenz mit den bis dahin bestimmenden Hierarchien und Diskussionsprozessen?

KD: Das Mannheimer Institut für seelische Gesundheit leitete damals Heinz Häfner, der lange in Amerika gewesen war. Das waren viel gebildetere Menschen als wir, viele waren im Ausland gewesen. Pörksen hat uns nach Mannheim eingeladen, und daraus ist der Begriff des Mannheimer Kreises entstanden. Es gab alljährlich eine Veranstaltung, bei der man in irgendeiner Stadt in der Regel auf einem Anstaltsgelände zusammengekommen ist. Andernorts hätte der Platz gar nicht gereicht, da möglichst viele kommen sollten, was auch der Fall war. Wir haben allmählich gemerkt, daß das eine ganz geschickte Organisation war, da wir uns von irgendeinem Vorbereitungskomitee, das dies ehrenamtlich machte, einladen ließen. Nie war es eine Institution, und so tagte der Mannheimer Kreis zwar auf dem Gelände einer Anstalt, war aber nicht abhängig von ihr. Schimpfte der Anstaltsdirektor, was für eine Schweinerei das sei, hieß es eben von seiten der Organisatoren, wir können auch nichts dafür. Das sind Arbeitsgruppen, die einfach frei über sich und die Welt nachdenken. Dafür sind wir nicht verantwortlich. Der Direktor konnte sich das auch zu eigen machen und im Zweifelsfall erklären, ja, das sind so wildgewordene Affen, die treffen sich da bei mir. Ich wußte auch nicht, wen ich da eingeladen habe und trage dafür keine Verantwortung. Das war natürlich äußerst günstig für die Entwicklung eines freien Austausches von Gedanken.

Als einziges Kriterium legten wir fest, daß alle Arbeitsgruppen so wild wie möglich gemischt sein sollten. Zum einen in beruflicher Hinsicht, damit Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Ärzte, Psychologen und Ergotherapeuten alle auf derselben Ebene diskutierten, was bis dahin völlig unüblich war. Zum anderen nahmen auch Patienten und Angehörige teil, so daß es eine trialogische und vor allem berufsübergreifende Mischung war und alles Denken in Richtung eigener berufspolitischer Absichten dabei nicht zum Zuge kommen konnte. Fingen beispielsweise die Sozialarbeiter an, über ihre eigenen Belange zu reden, kamen sofort 25 andere Leute und sagten, macht das mal zu Hause, hier haben wir andere Themen. Es ging um die Sache selbst, wie man so schön sagte. Im Vergleich zu der bis dahin üblichen Gesprächskultur war das schon revolutionär. Ich denke bis heute, daß wir für die Sprengung berufspolitischer Interessen, so berechtigt diese auch sein mögen, damals ein Feld gefunden hatten, und das begeisterte uns ausgesprochen.

Inzwischen war Bürger-Prinz in Rente und als sein Nachfolger Jan Gross Chef im UKE geworden. Wie es dazu kam, war ein einmaliger Vorgang und ebenfalls aufregend. Der Fachbereich Medizin hatte nämlich beschlossen, Detlev von Zerssen zu berufen, der renommiert war und vor allem einen therapeutischen Schwerpunkt hatte, wie man ihn damals für zukunftsträchtig hielt. Zu den Errungenschaften der 68er Zeit gehörte aber, daß Professoren, Oberärzte, Studenten und Assistenten Sitz und Stimme im Fachbereichsrat hatten. Wir haben uns diesen von Zerssen angeguckt und gesagt, den wollen wir hier nicht haben. Mit den vereinten Stimmen der Assistenten und Studenten waren wir in der Lage, den Beschluß für die Nachfolge zu kippen. Das war unglaublich und nur eine ganz kurze Zeit möglich, da die von der Hierarchie her wesentlich stärkeren Fraktionen rasch wieder zusammenfanden. Daß so ein paar popelige Assistenten und noch popeligere Studenten einen so wichtigen Fachbereichsbeschluß wie die Nachfolge des Klinikchefs bestimmten, hatte schon etwas Sensationelles. Wir hatten Jan Gross kennengelernt, der im Grunde nur deswegen aus Prag oder aus Brünn nach Hamburg gekommen war, weil er Interesse an der Camera-silens-Forschung entwickelte. Er hatte gehört, daß in Hamburg-Eppendorf eine technisch hervorragende Camera silens geschaffen worden war, an der er ein bißchen herumforschen wollte, was ihm allerdings später erheblich geschadet hat. Währenddessen kam der Einmarsch der Russen und das Ende des Prager Frühlings. Gross war hin und her gerissen, wir haben nächtelang mit ihm und seiner Familie diskutiert. Er sagte, eigentlich bin ich ja Sozialist und gehöre in meine Heimat zurück. Aber andererseits bin ich auch Jude, war in Bergen-Belsen und weiß, daß eine osteuropäische Machtergreifung auch den Antisemitismus wieder hochbringen kann. Schließlich hat er sich dazu durchgerungen, in Deutschland zu bleiben, und angesichts dieser Mentalität waren wir ganz scharf darauf, ihn zum Chef zu machen, zumal er wirklich einer der Allround-Gebildetsten in allen möglichen Schattierungen war, ob das nun Pharmaforschung oder Sozialpsychiatrie oder Psychoanalyse betraf. Außerdem war er ein sehr humorvoller Mensch, und daß er damals schon stark von seinem Parkinson gezeichnet war, haben wir unterschlagen, als wir ihn erfolgreich zur Wahl stellten.

Jan Gross ist dann UKE-Chef geworden und hat im 5. Stock etwas Einmaliges gemacht. Er bildete aus Vertretern der damals wichtigsten Psychotherapie-Richtungen - Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie - ein gemischtes Stationsteam. Dann wurden bei den Patienten Untergruppen gebildet, die psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch oder gesprächstherapeutisch behandelt wurden, so daß man das miteinander vergleichen konnte. Es war einfach eine geniale Idee, doch ich habe noch nie gehört, daß es anderswo auch so versucht worden ist. Auf diese Weise entstand eine unglaublich dichte Diskussionsatmosphäre in der gesamten Klinik.

Ich weiß noch genau, wie Jan Gross einmal nach Hannover mitgefahren ist und bei Manfred Bauer auf einer Luftmatratze genächtigt hat. Wie Gross sagte, sei ja ganz gut, was wir mit dem Mannheimer Kreis machten. Um jedoch auch politische Vorteile zu erzielen, sollten wir daneben eine eigene Organisation gründen. Wir fanden das erst ziemlich rückwärtsgewandt, aber irgendwann hat uns sein Argument doch eingeleuchtet, daß die Doppelstrategie einer informellen und einer formellen Gruppierung die Chancen, politischen Einfluß zu gewinnen, fördern konnte. Und so ist dann wenige Jahre später die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) gegründet worden. Das war das Verdienst von Jan Gross.

SB: Zu dieser Zeit erlangte auch Franco Basaglia weithin Bekanntheit, dessen Name für eine weitreichende Veränderung der Psychiatrie in Italien stand. War er nach Ihrer Kenntnis tatsächlich ein Gegner der Psychiatrie als solcher oder fühlte er sich eher einer Reform der Institution samt deren Öffnung verbunden?

KD: Da Franco Basaglia mit seinen Eingriffen in die italienische Psychiatrie bekannt geworden war, haben wir jede Menge gemeinsame Tagungen durchgeführt und unendlich viel diskutiert. Wie sich dabei deutlich abzeichnete, wurde er weithin als Leuchtturm für die Abschaffung der Psychiatrie wahrgenommen und mit dem seinerzeit häufig verwendeten Begriff der Antipsychiatrie assoziiert. Mit fiel jedoch auf, daß sich Basaglia immer dagegen gewehrt hat: Er sei Psychiater und nicht etwa ein Antipsychiater. Er wolle auch Psychiater sein, nur eben anders, als das bis dahin üblich war. Da standen gewissermaßen die beiden Positionen - ersatzlose Abschaffung der Psychiatrie auf der einen oder reformerische Weiterentwicklung der Psychiatrie auf der anderen Seite - gegeneinander. Diese Kontroverse hat die ersten Jahre der Diskussion in hohem Maße geprägt. Ich weiß noch, wie sich Basaglia, kurz bevor er das Zeitliche segnete, gegen diesen Antipsychiatrie-Stempel verwahrt und gesagt hat: Ihr müßt immer mitbedenken, daß wir Italiener furchtbar temperamentvoll sind und den ganzen Tag dummes Zeug quatschen, wobei wir nicht genau wissen, ob es stimmt oder nicht. Auf der anderen Seite stehen diese furchtbar drögen und langweiligen Engländer - von Skandinaviern hat er nicht gesprochen, weil er sie wohl nicht kannte. Die Engländer sind ganz langsam, wir sind ganz schnell, aber wer als erster im Ziel sein wird, ist noch nicht sicher. Diese Äußerung Basaglias hat sich bei mir festgesetzt, und ich habe mir seine Sichtweise zu eigen gemacht. Das hat auch die Diskussionsmentalität, soweit sie psychiatrielastig war, in Hamburg erheblich geprägt.

In Hannover hatte man schon sehr früh in einem revolutionären Akt dafür gesorgt, daß die Universitätsklinik einen Versorgungssektor schuf und die komplette Pflichtversorgung für einen Teil der Stadt übernahm. Auf diese Weise wollte man auch die schwierigen, unangenehmen, unsympathischen Menschen kennenlernen und sich nicht nur auf die netten, akademisch gebildeten Patienten beschränken. In dieser Hinsicht ist Hannover immer vorbildlich gewesen, woran ich mich deswegen noch gut erinnern kann, weil wir in Hamburg diesem Beispiel folgten. Kurz bevor ich nach Gütersloh gehen mußte, stellten wir im Klinikrat den Antrag, auch bei uns einen Pflichtversorgungssektor einzurichten. Das führte zu erbitterten Diskussionen, weil sich ausgerechnet die Psychologen, die eigentlich immer unsere besten Bundesgenossen im Kampf gegen die reaktionären Psychiater und sonstigen Mediziner waren, am heftigsten gegen diesen Vorschlag stemmten: Die Universitätsklinik habe doch den Auftrag zu forschen, da störe ein Pflichtversorgungssektor im Grunde nur. Mit knapper Not und sicherlich auch der Hilfe von Jan Gross haben wir dann den Sieg errungen, worauf ein Teil Eimsbüttels mit etwa 100.000 Einwohnern, wenn ich mich recht erinnere, unser Pflichtversorgungssektor wurde. Wir waren damals die zweite Universitätsklinik, die das machte, und diese Erweiterung der Aufgaben wird bis heute durchgehalten.

Inzwischen war mein Neffe Thomas Bock - ich habe im Sinne Neros und der römischen Kaiser mit Nepotismus gearbeitet - damals schon als junger Psychologiestudent dabei und hat dann später unsere Tagesklinik wie auch die gesamte Klinik in diese Richtung weiterentwickelt. Das war für uns natürlich etwas unglaublich Beruhigendes, daß es irgendwie weiterging. Ich wußte längst vom Gesichtspunkt der Versorgung her, daß die akut psychisch Kranken, die mit großer Wahrscheinlichkeit therapiert und geheilt werden können, nur eine Minderheit ausmachten. Beim überwiegenden Teil der Patienten handelte es sich um chronisch psychisch Kranke, die als unheilbar galten. Mir war das deswegen bekannt, weil mich schon 1968 ein anderer Assistent als seinen Nachfolger in den psychiatrischen Dienst des Gesundheitsamts Altona geholt hatte. Ich habe diese Aufgabe übernommen und von 1968 bis 1979 elf Jahre lang erfahren, wie psychisch Kranke im Alltag leben, wie sie sich rumschlagen, wie sie mit oder ohne Familie ihr Wesen treiben, und habe erlebt, wie in Krisenzeiten - für mich völlig unfaßbar - nachbarschaftliche Aktivitäten mitten in der Großstadt möglich waren.

Es konnte beispielsweise passieren, daß sich jemand in seiner Psychose verknispelt und die Wohnung wochenlang, monatelang nicht mehr verlassen hatte. Die Nachbarin von gegenüber stellte ihm jeden Abend ein warmes Essen vor die Tür, das er nur mit Müh und Not schnell zu sich reinzog. Ich habe damals mit zwei älteren Fürsorgerinnen zusammengearbeitet, die in den 1920er Jahren ausgebildet worden waren. Die haben mir beigebracht, wie man in der Praxis mit solchen Menschen und Problemen umgeht. Wenn beispielsweise Frau Schulz mit einer Psychose oder mit Suchtproblemen wieder einmal nach Ochsenzoll in die Psychiatrie mußte, blieb ihr zwölfjähriger Sohn allein zurück. Dann gehörte es zur professionellen Kunstfertigkeit, klinkenputzend eine Runde durch die Nachbarschaft zu machen und immer dasselbe zu erzählen: "Die arme Frau Schulz muß schon wieder nach Ochsenzoll, um Gottes willen, was machen wir denn jetzt mit dem Sohn? Ist ja niemand da, die Familie wohnt zu weit weg." Und das erzählte man einmal, dreimal, fünfmal, zehnmal, bis sich schließlich eine Nachbarin meldete: "Geben Sie schon her, habe ich vor drei Jahren schon mal gemacht." Nachbarschaftshilfe war möglich und zwar wirklich uneigennützig, ohne jede Vorstellung, daß man dafür etwas Geld bekommen könnte. An so etwas dachte man damals einfach nicht, was sich später ja total geändert hat. So habe ich daran Spaß gefunden und gesagt, wenn man versorgungsmäßig denkt, muß man im Grunde dort arbeiten, wo man die chronisch psychisch Kranken im Alltag kennenlernt. Dann weiß man erst, wie man damit umgehen soll, und kann nur dann eine Versorgung organisieren.

Zurückgelehnt im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Raus aus dem Heim!
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sie haben angedeutet, daß Sie Hamburg damals nicht aus freien Stücken verließen, um die Leitung des Landeskrankenhauses Gütersloh zu übernehmen. Wie kam es dazu, daß Sie Ihrer Heimatstadt und langjährigen Wirkungsstätte in beruflicher Hinsicht den Rücken kehrten?

KD: Ich habe mich zunächst in ganz Hamburg beworben, wofür der Zeitpunkt eigentlich ausgesprochen günstig war. Ich hätte die Leitung in Ochsenzoll bekommen können, dann wurde Eilbeck gerade neu gegründet, und schlimmstenfalls wäre ich auch in die Behörde gegangen, wo ebenfalls gerade eine Stelle frei war, die in Betracht kam. Bei meinen Bewerbungen bekam ich jedoch zu spüren, daß ich in Hamburg bereits ein viel zu rot beschriebenes Tuch war und nirgendwo auch nur in die engere Auswahl kam. Also mußte ich zur Bewährung in die Provinz gehen und habe die Stellenangebote im Ärzteblatt aufgeschlagen. In Gütersloh war gerade etwas frei, wobei ich damals noch nicht wußte, daß es bereits die zweite Ausschreibung war, weil sich bei der ersten niemand beworben hatte. Bei der zweiten Ausschreibung war ich der einzige Kandidat und wurde dann auch problemlos genommen. Wie ich später erfuhr, hatten sich für einen entsprechenden Posten im Landeskrankenhaus Münster, das längst nicht so renommiert wie jenes in Gütersloh war, geschlagene 30 Kandidaten beworben. Der Unterschied zwischen Stadt und Land spielte eine irrsinnige Rolle, was ich damals nicht für möglich gehalten hätte.

So bin ich also nach Gütersloh gekommen, was rückblickend gesehen ein reiner Segen für mich war. Ich wäre in Hamburg mit Pauken und Trompeten gescheitert, weil die Großstadt viel zu anonym und bürokratisiert war. Hingegen konnte man in dieser Provinzstadt Gütersloh mit ihren 80.000 Einwohnern innerhalb eines Jahres alle Menschen kennenlernen, mit denen man zugunsten der Integration von chronisch psychisch Kranken irgendwie Geschäfte machen wollte. Das habe ich bekanntlich schamlos ausgenutzt, und deswegen war es möglich, in den 17 Jahren meiner Tätigkeit in Gütersloh sämtliche 435 chronisch Kranken, Unheilbaren, mit ihrer Krankheit aus der Anstalt herauszuholen. Sie konnten dann mit ihrer Störung ein relativ normales Leben aufbauen und führen, was das Wohnen angeht. Zudem waren wir die ersten, die den Typus der Zuverdienstfirma gegründet haben. Die chronisch psychisch Kranken sagten alle, zum Arbeiten sind wir viel zu schwach und zu behindert und können das gar nicht - aber das Bedürfnis haben wir schon. Also habe ich gefragt, wie kriegen wir das denn hin? Wandeln wir doch den Begriff Arbeit und den Begriff Firma ab und sagen, eine Firma ist etwas, wo jeder sein Arbeitsbedürfnis unterbringen kann und zwar genau in dem Maße, das ihm möglich ist. Ob das jetzt eine Stunde am Tag oder zwei Stunden in der Woche oder auch vielleicht zwei Stunden in vier Wochen sind, spielt alles keine Rolle. Wir haben es in der Folge geschafft, zwölf solche Zuverdienstfirmen zu gründen, ohne einen Pfennig Geld zu haben. Da ja immer Startkapital nötig war, ist mir heute noch völlig schleierhaft, wie das möglich war. Ich habe daran gelernt, daß man um Gottes willen nicht ans Geld denken sollte, wenn man etwas Neues aufbauen will. Einfach anfangen, irgend etwas tun, und wenn die Sache gut ist, kommt das Geld von alleine. Ist eine etwas magische Art des Denkens.

SB: Hatten Sie auch mit der Bertelsmann-Stiftung zu tun, die ja in Gütersloh präsent ist?

KD: Wir hatten nie Gelegenheit, mit der Stiftung in Kontakt zu treten. Wie ich sehr viel später erfahren habe, lag das daran, daß eines der Kinder von Liz und Reinhard Mohn mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte, was damals als anrüchig galt. Zumindest wurde das so gemunkelt. Seit ein paar Jahren kriege ich jedoch immer mal wieder per Post einen Jahresbericht der Stiftung Andreas Mohn zugeschickt. Ich vermute mal, daß er derjenige ist, der in der Familie immer verschwiegen wurde. Er hat eine eigene Stiftung mit Sitz in Bielefeld gegründet, die mit einem Team von Mitarbeiterinnen alle möglichen Dinge, überwiegend im Schulbereich, unterstützt. Wir haben einander nie getroffen, aber irgendwie muß er mich kennen und Spaß an mir gefunden haben, weil er anläßlich der Feier in Gütersloh zu meinem 80. Geburtstag eine Gratulation geschickt hat.

Es gab ja drei Geburtstagsfeiern, wobei eine in Hamburg für die 1970er Jahre stand. In Gütersloh waren es die 1980er Jahre, und die dritte Feier an der Universität in Witten-Herdecke galt den 1990er Jahren. Ich habe den Güterslohern gesagt, gut, ich mache das mit, wenn ihr das wollt, aber nur, wenn es nicht von der Klinik ausgeht, sondern von den Vereinen. Denn es war eines unserer wichtigsten Kriterien beim Aufbau der ambulanten Betreuung und der Zuverdienstfirmen gewesen, daß man Vereine als Träger braucht, die nichts mit Wohlfahrtsverbänden zu tun haben - also nicht die Diakonie, nicht die Caritas, mit Ach und Krach haben wir bei der AWO eine Ausnahme gemacht. Es sollte ein Bürgerinitiativverein sein, der die lokale Bindung repräsentiert und ein Integrationswerkzeug ist. Dieser Verein mußte so klein bleiben, daß er nicht plötzlich auf die Idee kam, daß die Eigeninteressen viel interessanter als die Interessen der Patienten seien. Das wollten wir verhindern, und diese Rechnung ist aufgegangen. Das war einer der wichtigsten Konstruktionsmechanismen. Wir haben einen Verein nach dem anderen gegründet, bis es zwölf oder dreizehn waren, die alle möglichst klein blieben und eine Teilaufgabe übernahmen.

Was nun die Geburtstagsfeier betraf, kamen die Gütersloher auf folgende Idee: Wir nehmen einen höheren Eintritt, und du, Dörner, darfst dir aussuchen, welchem sozialen Zweck diese Mehreinnahmen zugeführt werden. Über diese Spendenaktion kamen, glaube ich, 10.000 Euro zusammen, die die Arbeitsgemeinschaft gemeindepsychiatrischer Vereine erhielt. Dabei handelte es sich genaugenommen um eine virtuelle Organisation, und der Hintergedanke war, daß diese Leute sich aufgrund der Spende zusammenraufen und ihre Verantwortlichkeit für die Versorgung des Kreises Gütersloh ernster nehmen müssen. Da sie jetzt über einen eigenen Haushalt verfügen, müssen sie überlegen und entscheiden, wofür sie das Geld ausgeben. Sie könnten beispielsweise den Verein unterstützen, der gerade am schwächsten dasteht. So greift das alles ineinander.

Die Möglichkeit, daß alle unheilbaren chronisch psychisch Kranken und auch Geistigbehinderten und ähnliche Bevölkerungsgruppen keine Anstalten mehr brauchen, sondern genauso wie alle anderen Menschen leben können, hat im wesentlichen zwei Voraussetzungen: Zum einen den Glauben daran, daß Profis ungeeignet sind, die Begleitung dieser Menschen mit ihren Krankheiten, mit ihren Handicaps auf Dauer zu bewerkstelligen. Es müssen Bürger als Nachbarn sein, die man rekrutiert, verführt, moralisch erpreßt hat oder die auch von selber so blöd waren, darauf reinzufallen, daß sie sich fortlaufend für die Lebensbegleitung der psychisch Kranken engagieren. Wir haben gerne von Handwerksregeln gesprochen: Solange ich von Profis umzingelt bin, bin ich nicht integriert, erster Satz. Und zweiter Satz: Nur Bürger können Bürger integrieren. Und das hat ausgezeichnet funktioniert.

Zum zweiten muß man das überhaupt nicht erwartete Arbeitsbedürfnis der Menschen, selbst wenn sie schon über 80 sind, ernst nehmen. Auch in diesem Alter kann man das Bedürfnis haben, eine Stunde irgendwo einfache Arbeiten zugunsten von unbekannten Dritten zu verrichten. Mit Miele haben wir gute Geschäfte gemacht, die waren ausgesprochen kooperativ. Und wenn man dann den Teil einer Waschmaschine montiert, was man schnell lernen kann, und auf dem Verpackungskarton steht, daß diese Lieferung nach Neuseeland oder Australien geht, ist das selbst für eine 80jährige Frau, die eine Stunde am Tag oder in der Woche arbeitet, wie sie Lust hat, sehr bedeutsam. Man nimmt an der globalen Wirtschaft teil, und diese Bedeutungszumessung ist außerordentlich wichtig. Kurz vor Weihnachten lief mir eine dieser Langzeitpatientinnen, die 40 Jahre in der Anstalt gewesen war, über den Weg und begrüßte mich freudestrahlend: "Herr Professor, etwas ganz Tolles ist passiert. Ich komme gerade aus meiner Zuverdienstfirma, dem Industrie-Café, und habe mit 80 Jahren zum ersten Mal Weihnachtsgeld bekommen!" Wahrscheinlich waren es nur einsfünfzig, aber die Menge spielte keine Rolle. Für diese Frau war es ganz einfach total toll.

Wenn man diese beiden Prinzipien, Nachbarschaft und Arbeit, verfolgt, braucht man keine Heime für Behinderte mehr. So haben wir das auch in diesem Büchlein "Ende der Veranstaltung" beschrieben, das wir später an den Paranus-Verlag in Neumünster gaben. Der hat mich nach ungefähr einem Jahr damit überrascht, daß er das Buch einstampfen müsse. Kein Schwein interessiert sich dafür, aus wohlerwogenen Gründen. Denn wer sich dafür interessiert und mitdenkt, erkennt, um Gottes willen, wenn ich weiß, wie man das macht, habe ich ja kein Alibi mehr, es nicht zu machen. Und das galt auch für meine allerbesten Freunde aus der DGSP.

(wird fortgesetzt)

3. Februar 2014