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INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)


"Manchmal muß man mit dem Bösen Kompromisse schließen ..."

Interview am 23. November 2013 in der Universität Essen



Dr. Piet Westdijk, der aus den Niederlanden stammt und seit 1981 in der Schweiz lebt, praktiziert in Basel als selbständiger Psychiater und Psychotherapeut. Auf der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" am 22./23. November 2013 in der Universität Essen leitete er einen Workshop zum Thema "Neue Wege psychiatrischen Handelns aus der Sicht eines Psychiaters" und hielt zudem einen Vortrag mit dem Titel "Chancen alternativer Behandlungsmethoden", in dem er die Grundzüge seiner Arbeit mit Patientinnen und Patienten vorstellte. Zwischen Workshop und Vortrag beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Piet Westdijk
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Du hast vorhin im Workshop erwähnt, daß du als Experte und Psychiater in vielen Fällen auch nicht weiterweißt. Wie bist du zu dieser Überzeugung gekommen, die eigentlich im Widerspruch zum Erscheinungsbild eines Psychiaters steht, der normalerweise Kompetenz gegenüber seinen Klienten vorhält?

Dr. Piet Westdijk: Die Kollegen geben gerne Antworten in einem formellen Sinne, und da läßt sich natürlich immer etwas sagen. Aber wenn ein Patient zum Beispiel unter einer Depression leidet, weiß ich noch nicht, was seine Depression auszeichnet oder, einfacher gesagt, was mit dem Patienten eigentlich los ist. Mich interessiert im wesentlichen, was für ein Mensch hinter der Depression steckt. Da reicht es nicht aus, nur zu formalisieren und Symptome zu beschreiben.

SB: Du hattest auch gesagt, daß die Diagnose der klassischen Krankheitsbilder nicht unbedingt in der Weise tragfähig ist, wie es immer behauptet wird.

PW: Manchmal sind die Formalitäten wirklich lächerlich, wie wenn man sagt, du sitzt auf einem Stuhl - aber hilft dir das? Wenn jemand beispielsweise Stimmen hört, geht es primär um die Bedeutung dieser Stimmen für den Patienten. Das weiß ein Psychiater aber so ohne weiteres nicht.

SB: In deiner Praxis legst du besonderen Wert darauf, ausgiebig mit den Menschen zu sprechen. Du erwähntest zudem, daß diese Möglichkeit in der Schweiz im Unterschied zu Deutschland durchaus existiert. Warum ist das Gespräch aus deiner Sicht so wichtig?

PW: Wenn Leute Probleme haben, wollen sie darüber reden; und wenn sie nicht darüber reden wollen, dann brauchen sie Hilfe, damit sie reden können. Ich denke, das Gespräch ist die menschliche Antwort auf Krisen, Engpässe und Probleme. Darum ist es sehr wichtig, daß dem Patienten, aber auch dem Arzt Zeit gegeben wird, miteinander zu reden. Es geht nicht um eine schnelle Klassifizierung. Natürlich gibt es Kollegen, denen es schon genügt, wenn sie klassifizieren und dann ein Medikament verschreiben. Aber mir genügt das nicht. Ich halte das für einen Irrweg.

SB: Deiner Schilderung zufolge hat deine eigene Lebenserfahrung dir geholfen, die Situation der Patientinnen und Patienten besser zu verstehen. Viele Psychiater oder auch andere Menschen, die in diesen Berufsfeldern arbeiten, haben eigentlich nie selber miterlebt, was es bedeutet, gewissermaßen auf der anderen Seite zu stehen.

PW: Das ist richtig. Einige meiner Klienten sagen, daß ich, nachdem ich selbst Patient in der Psychiatrie war, glaubwürdiger geworden sei und sie sich mir näher fühlten. Ich bin ja Kinderpsychiater und habe selber Kinder. Meine Patienten finden es schön, daß ich Kinder habe, weil ich ihre Situation dadurch besser verstehen würde. Wenn man keine Kinder hat und Kinder behandeln muß, ist es schwierig. Von daher denke ich, wenn man nicht selber in der Psychiatrie gewesen ist, hat man ein anderes Verhältnis zu seinen Klienten.

SB: Heute im Workshop wurde unter anderem die These vertreten, daß die Psychiatrie an sich schlecht sei und daher abgeschafft gehöre. Würdest du diese Auffassung teilen?

PW: Ich denke, es würde nichts großartig Schlimmes passieren, wenn die Psychiatrie abgeschafft wäre. Sie hat ihre eigene Tradition und Geschichte. Ich habe meine Mühe damit, wenn die Psychiatrie in den medizinischen Bereich hineinreicht, denn schließlich hat man es mit allgemein menschlichen Problemen zu tun. Dennoch denke ich, daß es nicht gut wäre, die Psychiatrie einfach abzuschaffen. Das hat etwas Brutales. Ich bin vielmehr der Meinung, daß man sich politisch überlegen müßte, welchen Sinn die Abschaffung der Psychiatrie eigentlich macht.

SB: Siehst du in der Psychiatrie, einmal geschichtlich betrachtet, eine Entwicklung zum Positiven oder eher zum Negativen?

PW: Zum Negativen. Mit Freud hatten wir immerhin noch die Betonung des Gespräches bzw. des Kontextes in der Geschichte des Klienten, auch wenn es nur die Kindheit betraf. Jetzt wird alles auf die Biologie bzw. auf den Kopf reduziert. Das ist eine zu vereinfachte Sichtweise, die zu nichts führt.

SB: Es gab einmal eine Zeit in den Sozialwissenschaften, in der die Frage der Vererbung bzw. Prädisposition in den Hintergrund trat und es vor allem auf die Lebenserfahrung ankam. Inzwischen ist fast schon ein Gegentrend zu beobachten, der vieles auf biologische Grundlagen, angefangen von der Genetik über die Suche nach körperlichen Ursachen seelischer Probleme, stellt. Wie bewertest du diesen Sichtwechsel?

PW: Tja, wenn die Biologie alles sein soll, was über den Menschen zu sagen wäre! Aber auch mit dem biopsychosozialen Modell, das von medizinischer Perspektive her noch das beste ist, habe ich meine Mühe. Man kann nicht alles beschreiben und formalisieren und auf diese Weise lösen. Dabei geht vieles verloren.

SB: Hast du Kolleginnen und Kollegen, die deine Auffassung ganz oder in Teilen nachvollziehen können, oder bekommst du viel Gegenwind von denjenigen, die der Meinung sind, daß der Berufsstand nicht auf die von dir favorisierte Weise ausgeübt werden dürfe?

PW: Ja, die Leute in der Schweiz sind furchtbar höflich. Ich weiß nicht, was sie wirklich denken. So habe ich bis heute nie eine konfrontative Kritik erlebt. Sie finden mich alle toll, können aber nicht verstehen, warum ich das mache. Auch in Komplimenten kann ein Urteil versteckt sein.

SB: Hast du Kontakt zu Leuten, die einen ähnlichen Ansatz wie du verfolgen, oder zu Patientenorganisationen?

PW: Ich bin Vorstandsmitglied von Psychex [1], einem Schweizer Verein, der Leuten hilft, die gegen ihren Willen in der Psychiatrie eingesperrt sind. Ansonsten habe ich kaum Kontakt zu anderen Organisationen. Allerdings habe ich viel mit Wohnheimen zu tun, in denen auch Psychologen und Sozialarbeiter tätig sind, die schon anders denken und mich etwas spezieller anschauen. Ich verstehe mich selbst als Sozialpsychiater, was ich sehr wichtig finde.

SB: Du arbeitest viel mit Kindern und Jugendlichen. Hast du die Beobachtung gemacht, daß sich die jüngeren Altersgruppen gegenüber früher verändert haben?

PW: Das ist schwierig zu sagen, denn die Kinder und Jugendlichen, die zu mir kommen, haben ja Probleme. Allerdings bin ich manchmal wirklich erstaunt oder betroffen darüber, wie wenig kritisch die Jugendlichen von heute sind. Aber ich bin mit einer generellen Einschätzung sehr vorsichtig, zumal ich nicht weiß, ob sich das zum Beispiel auch von den Zahlen her belegen ließe. Aber subjektiv erlebe ich das zumindest so. Ich selbst war als Jugendlicher ganz anders.

SB: Hinsichtlich der Psychopharmaka hattest du im Vortrag die These vertreten, daß ein Absetzen der Medikamente schonend zu erfolgen habe. Gegenüber diesem sogenannten Rausschleichen gibt es Befürworter eines Abbruchs von einem Tag auf den anderen. Könntest du deinen Standpunkt einmal konkretisieren?

PW: In der Suchtmedizin hat es diese Behandlungsform gegeben, wo zum Beispiel das Heroin von einem Tag auf den anderen abgesetzt wurde. Aber für das Gehirn ist ein akuter Abbruch sehr belastend, zumal therapiebegleitend Neuroleptika und Antidepressiva verordnet werden. Es kann sogar zu organischen Schädigungen kommen. Deswegen bin ich ein strikter Gegner dieser Therapieform. Ich kann durchaus nachvollziehen, daß man ein radikales Mittel gesucht hat, um gewissermaßen das Böse zu entfernen, aber manchmal muß man mit dem Bösen Kompromisse schließen, um Schritt für Schritt einen Heilungserfolg zu garantieren.

SB: Hast du in deiner Arbeit die Erfahrung gemacht, daß sich aus einem Patientenverhältnis auch eine längerfristige Beziehung entwickeln kann, die über den Rahmen der Therapie hinausgeht?

PW: Manche Leute sind dermaßen traumatisiert, daß sich die Behandlung über einen langen Zeitraum hinstreckt. Darüber ändert sich natürlich auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient, weil man sich besser kennenlernt, aber das darf man nicht mit tieferen Gefühlen verwechseln. Eine Freundschaft könnte ich mir schon aus ethischen Gründen nicht vorstellen. Dazu ist der Grad an Abhängigkeit zu groß.

SB: Einmal abschließend gefragt: Wie hat dir der Workshop insgesamt gefallen?

PW: Einige der Teilnehmer kenne ich aus einem anderen Kontext, und so konnte ich mir denken, wie der Workshop ungefähr laufen wird. Alles in allem waren es sehr spannende Einzelschicksale, die an sich Platz bräuchten, um in aller Ausführlichkeit erzählt zu werden. Gewisse Einzelheiten sind vielleicht nicht für jedermanns Ohr bestimmt, aber der Workshop im ganzen war einfach prima.

SB: Piet, vielen Dank für dieses Gespräch.

Dr. Piet Westdijk mit SB-Redakteur - Foto: © 2013 by Schattenblick

"Das Gespräch ist die menschliche Antwort auf Probleme und Krisen"
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.psychex.ch/

Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)


24. Februar 2014