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INTERVIEW/009: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - "Und weil der Mensch ein Mensch ist ...", Kathrin Vogler im Gespräch (SB)


Ohne Humanismus keine menschenfreundliche Gesundheitspolitik

Interview am 23. November 2013 in der Universität Essen



Kathrin Vogler ist Mitglied des Deutschen Bundestages und sitzt für die Linksfraktion im Ausschuß für Gesundheit. In der Fraktion fungiert sie als Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte. Auf der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" hielt sie am 23. November 2013 einen Vortrag [1] und beantwortete dem Schattenblick im Anschluß einige Fragen.

Im Vortrag vor dem Interview - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kathrin Vogler
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Vogler, hatten Sie direkt mit der Ausrichtung des Kongresses zu tun?

Kathrin Vogler: Nein, ich bin von unserer Landesverbandsfraktion gebeten worden, hier einen Part zu übernehmen und die politischen Zusammenhänge aufzugreifen. Ich habe schließlich das Thema der Medikalisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, weil mich das in meiner Arbeit in Berlin und im Gesundheitsausschuß in den letzten vier Jahren intensiv begleitet hat.

SB: Die Linke war die einzige Fraktion im Bundestag, die gegen die Zwangsbehandlung in der Psychiatrie gestimmt hat.

KV: Wir haben sogar einen Antrag dazu eingebracht, in dem wir zum einen gefordert haben, daß Zwangsbehandlungen grundsätzlich verboten gehören, und zum anderen aufzuzeigen versucht haben, was man für den Aufbau alternativer Strukturen unternehmen könnte, um denjenigen Hilfe anzubieten, die in der Lage sind, sie freiwillig anzunehmen.

SB: Ihre Bundestagsfraktion hat auch eine Kleine Anfrage zum Thema Hirntoddefinition gestellt. Die Linke hat damit in gewisser Weise versucht, wieder etwas in die öffentliche Debatte zu führen, was seit Jahren außerhalb der Fachgremien kaum noch besprochen wird, obwohl starkes gesellschaftliches Interesse daran besteht. Was hat Sie persönlich dazu bewogen, das Thema Hirntod nochmals aufzugreifen?

KV: Für mich ist es wichtig, daß man gesellschaftliche Debatten und wissenschaftliche Diskussionen auch ins Parlament hineinträgt. Ich finde, daß man ethische, wissenschaftliche und politische Fragen nicht grundsätzlich voneinander trennen kann. Denn letzten Endes haben die Entscheidungen, die wir im Bundestag treffen, ethische Implikationen. Sie können Veränderungen in der Gesellschaft beschleunigen oder sie aufhalten und bremsen. Als Abgeordnete müssen wir uns in diesen Fragen positionieren. Hinsichtlich dessen war die letzte Bundesregierung nicht sehr offen.

SB: Sie sind auch im Bereich der elektronischen Gesundheitskarte aktiv geworden. Unter anderem sollte darin die Bereitschaft zur Organspende eingetragen werden. Gibt es nicht grundlegende Bedenken im Sinne des Datenschutzes, wenn beispielsweise psychiatrische Erkrankungen mit aufgenommen werden?

KV: Ja, es gibt schwerwiegende Bedenken. Das System der elektronischen Gesundheitskarte ist noch nicht so weit entwickelt, daß überhaupt Diagnosen gespeichert werden können, aber das Speichern von Diagnosen auf zentralen Servern beinhaltet immer die Gefahr des Datenmißbrauchs. Außerdem besteht das Risiko, daß die Patientinnen und Patienten irgendwann nicht mehr kontrollieren können, welche Daten von ihnen weitergereicht werden. Ich glaube, daß die meisten Menschen, wenn sie sich mit dem Thema einmal ernsthaft beschäftigen würden, es durchaus problematisch fänden, wenn ihr Gynäkologe erführe, daß sie vor einiger Zeit in der Psychiatrie waren, oder wenn ihr Zahnarzt Kenntnis darüber bekäme, daß sie vor einiger Zeit eine Suchterkrankung hatten.

Viele denken gar nicht daran, daß sie einmal selber von einer stigmatisierenden Erkrankung betroffen sein könnten. Da geht es nicht nur um psychische Erkrankungen, sondern zum Beispiel auch um eine HIV-Infektion oder andere sexuell übertragbare Krankheiten, die man nicht unbedingt auf dem Markt gehandelt wissen möchte. Wenn Patienten in einer hilflosen Situation sind, beispielsweise einen Unfall hatten oder einen schweren Schlaganfall erlitten, dann fragt sie keiner, welche Daten sie von sich freigegeben haben möchten, oder ob sie wollen, daß der behandelnde Arzt Informationen freizügig weitergibt.

SB: Einmal angenommen, der Datenpool der elektronischen Gesundheitskarte würde eines Tages für statistische Erhebungen im Bereich der Gesundheitsforschung verwendet - halten Sie die Gefahr eines institutionalisierten Datenmißbrauchs für real, oder kann ein solcher Fall für alle Zeiten ausgeschlossen werden?

KV: Wenn es große Datensammlungen gibt, dann sind im politischen Raum keine Begehrlichkeiten ausgeschlossen. Ich glaube jedenfalls nicht, daß sie sich auf Dauer ausschließen lassen. Ich bin auch nicht davon überzeugt, daß es technische Lösungen gibt, die den Zugriff auf die Daten ein für allemal verunmöglichen oder verhindern, daß die Daten wieder rückindividualisiert werden.

SB: In der Gesundheitspolitik zeichnet sich ein starkes Interesse an der Regulation von Verhaltensweisen ab. So wird Rauchen regelrecht dämonisiert, oder es werden Kampagnen gegen Fettleibigkeit gefahren, die teilweise diskriminatorische Formen annehmen.

KV: Ja, da haben sich die Kollegen von Union und SPD wieder hervorgetan und in den Koalitionsverhandlungen einen Vorstoß in Richtung einer Fett- und Zuckersteuer unternommen. Es gibt immer wieder Abgeordnete, die individuelle Risikozuschläge auch in der gesetzlichen Krankenversicherung neu in die Debatte bringen, zum Beispiel für Menschen, die rauchen oder gefährliche Sportarten betreiben bzw. sich schlecht ernähren aus Sicht dessen, was der aktuelle Stand der Wissenschaft für schlechte Ernährung hält. Das finde ich ganz fürchterlich und absurd und hat mit dem Gedanken von Solidarität überhaupt nichts mehr zu tun. Dagegen muß man sich aufs entschiedenste wehren.

SB: Welches Menschenbild könnte man dem Paradigma der Gesundheitswirtschaft, das auch im Bereich der medizinischen Versorgung immer dominanter wird, entgegenstellen, um zu gewährleisten, daß der Mensch nicht auf eine Weise möglicher Fehlverhalten bezichtigt wird, bei der die Verantwortung der Umwelt für eventuelle Schädigungen immer stärker ausgeklammert wird?

KV: Letzten Endes brauchen wir wieder ein humanistisches Menschenbild, das den Menschen als soziales Wesen begreift und die Gesellschaft als wichtigen Faktor mit einschließt. Wenn uns etwas zu Menschen macht, dann sind das die anderen Menschen und nicht unsere genetische Ausstattung. Daher ist es für mich wichtig, daß wir eine neue Kultur des Zusammenlebens entwickeln. Das kann man politisch nur sehr eingeschränkt leisten. Das müßte eigentlich in einem gesamtgesellschaftlichen Aufbruch geschehen. Aber das wird nicht einfach werden. Um das zu erreichen, müssen wir die herrschende Ideologie der Profitmaximierung, der Individualisierung und auch der Selbstoptimierung von Menschen aufknacken und überwinden. Denn diese Ideologien interagieren miteinander bzw. stehen zueinander in Beziehung. Das kann man von verschiedenen Seiten aus tun, aber es ist auf jeden Fall ein dickes Brett.

SB: Heutzutage scheint es selbstverständlich zu sein, daß der Mensch sich in eigener Regie und auf eigene Kosten verbessern und fortbilden muß, um seinen Marktwert zu erhöhen. Würden Sie sagen, daß sich Ihre Partei gegen den gesellschaftlichen Mainstream positioniert hat oder dominieren doch die Versuche, sich letztlich in fremdnützige Primate der Verwertung zu integrieren, die Sie persönlich vielleicht ablehnen?

KV: Nein, ich finde, wir haben in den letzten Jahren eine gute Debatte hinbekommen. Diese Konferenz ist nochmals ein Meilenstein, der zeigt, daß wir uns für diese gesellschaftlichen Debatten öffnen und Teil einer Bewegung sind, die den Menschen wieder in seiner sozialen Funktion in den Mittelpunkt nimmt und sich gegen die Zumutungen des Kapitalismus zur Wehr setzt, die da heißen: Funktioniere, optimiere dich und sei Rädchen im Getriebe. Das ist letzten Endes eine unmenschliche Haltung.

SB: Frau Vogler, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0006.html


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)
BERICHT/006: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Herrschaft, Brüche, Pharmafessel (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)

6. März 2014