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INTERVIEW/013: Eingesperrt erzieht sich nicht - Recht auf Erden, freies Werden, Timm Kunstreich im Gespräch (SB)


Willst du etwas über die Katze erfahren, frage die Mäuse!

Interview am 19. Februar 2014 im Hamburger Rathaus



Prof. Dr. Timm Kunstreich studierte Soziologie, Sozialgeschichte, Erziehungswissenschaft und politische Ökonomie. Er war seit 1975 als Studentenberater an der Fachhochschule Hamburg tätig und wechselte 1984 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie an die Universität Hamburg. Zwei Jahre später übernahm er die Leitung der sozialpädagogischen Ausbildung und Fortbildung beim Amt für Jugend der Hansestadt Hamburg. Im Jahr 1992 wurde Kunstreich zum Professor im Kirchendienst berufen und lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie.

Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Geschichte und Gegenwart der professionellen Sozialen Arbeit. Kunstreich polarisiert dabei nicht selten mit seinen wissenschaftlichen Thesen, die im Gegensatz zum Mainstream der Sozialarbeitswissenschaft stehen. Er war im Sozialistischen Büro tätig und ist Mitbegründer und Autor der sozialistischen Fachzeitschrift Widersprüche, deren Redaktion er angehört.

Nach der Fachtagung "Alternativen zur Geschlossenen Unterbringung", die die Linksfraktion am 19. Februar 2014 im Hamburger Rathaus veranstaltete, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Timm Kunstreich
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben Ihren Vortrag mit dem schönen Zitat beendet: "Wenn du etwas über die Katze erfahren willst, mußt du die Mäuse fragen" und den Vorschlag eingebracht, daß so etwas wie eine Ombudsstelle, nicht von den Fachleuten, nicht von der Behörde, sondern von den Betroffenen geschaffen werden müßte. Können Sie noch einmal darauf eingehen, zumal darin erhebliche Skepsis auch gegenüber Ihrem eigenen Berufsstand mitklingt?

Timm Kunstreich: Ich habe nicht nur in der Behörde gearbeitet, sondern auch wissenschaftlich geforscht und bin mir daher sicher, daß Kontrolle von oben immer Kontrolle über die Abweichung bedeutet, damit die Ordnung eingehalten wird. Das hat eine lange Tradition. Wenn man etwas anderes will als die Verdopplung der ohnehin vorhandenen Kontrollen - was zum Beispiel in bezug auf die Kindeswohlgefährdung passiert -, muß man den Menschen die Möglichkeit geben, sich in einer eigenen Form zu finden, was sie de facto auch tun. Denn die vielen Kinder und Jugendlichen, die abhauen, entziehen sich im Grunde der Kontrolle. Wenn man sie einbeziehen statt ausgrenzen würde, könnte ein ungeheures Potential fruchtbar gemacht werden. Das klingt jetzt zwar ein bißchen ironisch, aber ich meine tatsächlich, daß das eine Möglichkeit wäre, auch diesen Bereich wieder zu politisieren. Im Grunde genommen haben wir eine Art Apartheid. Kinder und Jugendliche werden systematisch nicht beteiligt und haben keine eigenen Rechte. Dabei wäre das ganz einfach und würde nichts kosten, brächte das System aber ganz schön ins Rotieren.

SB: Das sind Gedanken, die vor ein oder zwei Generationen sehr aktuell waren, nämlich die sogenannten Betroffenen zu ermächtigen.

TK: Ich komme selbst aus der Zeit. Die damalige Heimkampagne verfolgte das Ziel der Selbstorganisation. Es ging nicht darum, eine neue Institution zu schaffen. Bekanntlich haben sie ihre Sozialarbeiter selbst gewählt und waren damit leider sehr schnell wieder am Bändel des Jugendamtes. Das war eine komplizierte Initiative, aber mit der Grundidee, daß wir uns selbst organisieren können, lagen sie richtig. Wir brauchen zwar Unterstützung von außen, sind aber fähig, selber etwas zu machen. Das gibt es heute kaum mehr. Statt dessen heißt es, daß Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren rund um die Uhr bewacht werden müssen. Das ist eine grausame Kontrolle. So dürfen sie in ihrem eigenen Zimmer nicht rauchen. Hätte mir das jemand gesagt, hätte ich ihn rausgeschmissen. Heute halten sich die meisten daran oder unterlaufen in einem Gentlemen's Agreement solche Regelungen. Auf diese Weise lernt man das Unterlaufen, nicht aber Widerstand zu leisten.

SB: Welche Art von gesellschaftlicher Entwicklung bricht sich damit eigentlich Bahn, denn trotz alledem sehen Sie erklärtermaßen optimistisch in die Zukunft?

TK: Dies, weil alles in Wellenbewegungen auftritt. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, daß 1967/68 niemand, und insbesondere die Jugendsoziologie nicht, etwas Derartiges prognostiziert hatte. Von wegen skeptische Generation! Im Gegenteil waren alle verblüfft, als es dann losging. Im Nachhinein ist es natürlich erklärlich. Ich bin ganz sicher, daß in dem Maße, wie Jugendliche ausgegrenzt werden, die Welle irgendwann zurückschlägt, und nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch bei den anderen Ausgegrenzten. Man hat zumindest die Erfahrung gemacht, daß es auch anders geht. Diesen Ansatz sollte man nicht dem rechten Spektrum überlassen, das gleich zu den Nazis zurück will. Denn die Untergrundbotschaft lautet doch: Wir können es anders machen! Und warum soll das nicht auf der progressiven Seite gehen, zum Beispiel in Richtung genossenschaftlicher und kooperativer Formen von Lebensbewältigung? Diese Debatte haben wir jetzt in der Care-Diskussion und ich bin gespannt, was dabei herauskommt.

SB: Haben sich die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen von heute gegenüber früheren Generationen aus Ihrer Sicht grundlegend verändert?

TK: Ja. Ich möchte in der heutigen Zeit weder Kind noch Jugendlicher sein. Überall gibt es Kontrollen. Wenn ich mir vorstelle, meine Schule wäre ganztags ausgedehnt worden, wäre ich wahrscheinlich abgehauen. Nun komme ich aus einem behüteten Elternhaus und wäre wohl eher zu Hause geblieben. Dennoch finde ich die Situation furchtbar. Ich glaube, keine Jugend ist derart kontrolliert und diszipliniert worden wie die heutige, die kaum noch aufmüpfig wird. Wir haben keine Gewalt mehr unter Jugendlichen. Ich will es nicht hochjubeln, aber zu meiner Zeit war es gang und gäbe, daß man sich prügelte. Ich will damit nicht sagen, daß diese Prügeleien Widerstand bedeutet haben, aber das spielte sich in einem Raum eigener Entfaltung ab, der heutzutage kaum mehr vorhanden ist. Seit wir uns damit beschäftigen, wissen wir, daß das A und O jeglichen guten Aufwachsens die Selbstmächtigkeit ist, zusammen mit anderen etwas zu bewirken. Leider passiert das heute immer weniger.

SB: In der Diskussion wurde auch die Frage der Finanzierung angesprochen. Gibt es im Zuge der Privatisierung nicht starke Motive, eine geschlossene Heimerziehung zu günstigeren Tarifen, jedoch zu Lasten der Kinder und Jugendlichen zu favorisieren?

TK: Sicher, wenngleich eine geschlossene Einrichtung immer sehr teuer ist. Andererseits wird dort das meiste Geld verdient. Je repressiver und spezialisierter, desto höher die Pflegesätze. Es wird in diesem Bereich enorm viel Geld umgesetzt, und deshalb ist es mittlerweile auch so attraktiv, solche Vereine und GmbHs zu gründen. Dabei könnte man auf einfachem Wege Geld einsparen, indem man den Kindern bzw. Jugendlichen und den Sozialarbeitern und Erziehern sagt, organisiert euch selbst, ihr kriegt das Geld.

SB: In Schleswig-Holstein gibt es Beispiele aus der Psychiatrie, die geschlossenen Abteilungen zurückzufahren. So wird unter anderem in Geesthacht das Modell umgesetzt, im Falle einer Krise ein Team loszuschicken, das versucht, das Problem im Umfeld des jeweiligen Menschen zu lösen und ihn nicht aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen herauszureißen. Zur Finanzierung wurden Regionaltarife mit den Kostenträgern vereinbart, die oft über mehrere Jahre laufen und mit Zielvorgaben, aber relativ wenig Kontrollen versehen sind. Mit dem Argument, daß diese Art der Betreuung tatsächlich kostengünstiger ist, konnte man also auch die Krankenkassen überzeugen. Wäre das nicht auch auf die geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen übertragbar?

TK: Natürlich. Dieser pädagogische Ansatz, sich am Jugendlichen zu orientieren, bildete auch die Grundlage für das Konzept von Kurt Hekele. Das heißt, es muß ein Setting, eine ambulant-intensive Betreuung gefunden werden, die das Umfeld und nicht den Jugendlichen bearbeitet. Grundsätzlich gilt es, die Situation so zu verändern, daß Menschen lernen können, sich anders zu verhalten. Das wäre eine echte Befreiung bzw. ein wichtiger Befreiungsschritt. In diesem Sinne halte ich solche Modelle für hervorragend geeignet. Sie stellen auch die einzige Möglichkeit dar, die geschlossene Abteilung aufzulösen. Man muß beim sogenannten Schwierigsten anfangen.

SB: Das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung schlägt als praktikable Alternative die Bildung eines Kooperationspools vor. Besteht die Grundidee dabei darin, die Kolleginnen und Kollegen auch innerhalb von Institutionen und Einrichtungen zu entlasten?

TK: Ja, und vor allen Dingen geht es darum, die Eskalationsleiter möglichst früh zu unterbrechen. Wenn ein Mitarbeiter aus den sozialen Diensten den Eindruck gewinnt, daß etwas aus dem Ruder läuft - zu 80 Prozent sind es externe Meldungen aus Polizei und Schule -, ist es gut, eine Stelle zu haben, an die man sich wenden kann. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Blaupause, vielmehr hat der Paritätische Wohlfahrtsverband bereits eine Stelle eingerichtet, in der solche Koordinierungspools entstehen sollen. Ich bin gespannt, was daraus wird. Dies stellt einen Versuch dar, die politisch gewollte geschlossene Unterbringung so auszutrocknen, daß es erst gar nicht soweit kommt. Wenn das gelänge, wäre es ein Meisterstück der sozialen Arbeit.

SB: Herr Kunstreich, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beiträge zur Fachtagung "Alternativen zur geschlossenen Unterbringung" im Schattenblick unter
INFOPOOL → PANNWITZ → REPORT:

BERICHT/007: Eingesperrt erzieht sich nicht - Ohne Zaun und Pforte (SB)
INTERVIEW/011: Eingesperrt erzieht sich nicht - In Tat und Wort Hilfe vor Ort, Mehmet Yildiz im Gespräch (SB)

24. März 2014