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INTERVIEW/021: Berufsstand und Beteiligung - Januskopf der Praxis, Wolfgang Erhardt im Gespräch (SB)


Strategien staatlicher Repression gestern und heute

Interview am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme



Der Diplomsoziologe und -kriminologe Wolfgang Ehrhardt lehrt an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Zum Abschluß des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der am 7. Februar in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und am 8. Februar in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, beantwortete Wolfgang Erhardt dem Schattenblick einige Fragen zum heutigen Stand polizeilicher Sicherheitspolitik wie zu seinem Interesse an der Geschichte des NS-Staates.

Im Gespräch im Foyer des Studienzentrums - Foto: © 2014 by Schattenblick

Wolfgang Erhardt
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Wolfgang, was hat dich bewogen, diesen Workshop zu besuchen?

Wolfgang Ehrhardt: Ich bin Sozialpädagoge und Kriminologe und beschäftige mich seit mindestens 40 Jahren mit dem Faschismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. In dieser Zeit habe ich die Kontinuitäten faschistischen Personals bei den Ärzten und Juristen aufdecken können. Nachdem ich als Jugendlicher wegen der Teilnahme an einer Hausbesetzung festgenommen wurde, sind mir auch in Zusammenhang mit der Fahndung nach RAF und 2. Juni eine Menge Dinge durch den Kopf gegangen. Das führte dazu, daß ich eine Zeitlang nach den Wurzeln und Traditionen der deutschen Polizei geforscht habe.

Bei meinen Recherchen stieß ich unter anderem auf eine Anfrage der Grünenfraktion aus den 80er Jahren in Hamburg hinsichtlich des Personals der Hamburger Polizei nach dem Zweiten Weltkrieg. So kam bei der Anfrage heraus, daß der erste Chef der Hamburger Schutzpolizei ein ehemaliger SS-Offizier war. Es ist so, als ob man eine Decke hochhebt und darunter kommen überraschenderweise lauter braune Flecken zum Vorschein.

Aktuell bin ich Hochschullehrer und versuche, die Erkenntnisse aus der Faschismusforschung in Verbindung mit Überlegungen aus der Organisationssoziologie und Kriminologie in den Unterricht einzubauen, um auf diese Weise dazu beizutragen, daß man frühzeitig auf Gesetze und politische Verfahren aufmerksam wird, die die Gefahr einer Entdemokratisierung bergen könnten.

SB: Du bist im Zusammenhang mit besagter Hausbesetzung vor langer Zeit schon einmal an diesem Ort gewesen. Wie ist es dazu gekommen?

WE: Hier stand einmal ein Untersuchungsgefängnis für Jugendliche. Es war ein großer gelber Klinkerbau mit mehreren Flügeln. Ich bin einen Tag vor der Räumung des besetzten Hauses festgenommen worden, weil die Polizei die Taktik verfolgte, vorab möglichst viele Besetzer in Haft zu nehmen, damit bei der Räumung weniger Widerstand geleistet wird. Als ich hier ankam, war ich fix und fertig. Nach fünf Wochen Hausbesetzung konnte ich endlich in Ruhe essen und ausschlafen. Der Schock, wegen der Hausbesetzung im Gefängnis zu sitzen, und das dringende Bedürfnis nach Erholung sorgten dafür, daß ich die ersten Tage gar nicht richtig mitbekommen habe. Danach herrschte die Routine des Knastalltags, so daß ich mich mit meiner Inhaftierung überhaupt nicht konfrontieren konnte. Ich habe mir immer wieder gesagt, mach' dir bloß nicht bewußt, daß du hier eingeschlossen bist, sonst wirst du verrückt.

So habe ich mich zum Beispiel immer so gesetzt, daß ich die Zellentür nicht sehen konnte. Dann bekam ich einen Zellennachbarn. Er war, wie er sich selber nannte, ein Räuber und ganz stolz darauf, daß sie ihm von den ganzen Raubüberfällen, die er begangen hatte, nur zwei nachweisen konnten. Er spielte regelmäßig Schach mit mir und warnte mich davor, daß die Rocker mich aufmischen wollten, weil sie Hausbesetzer und Linke nicht ausstehen konnten. Das hat mich, so naiv wie ich damals war, ziemlich verblüfft und gab mir einen regelrechten Dämpfer, weil ich dachte, Hausbesetzung wäre eine solidarische Tat für alle wohnungslosen Schüler, Studenten und Lehrlinge. Ich erinnere mich noch bruchstückhaft daran, daß einmal ein Kriminalpsychologe zu mir kam, um mich zu untersuchen. Aber ich wollte nichts von ihm wissen, so daß er gleich wieder aus der Zelle ging.

SB: War dir damals bewußt, was es mit dem Gelände auf sich hatte, auf dem sich die Jugendstrafanstalt befand?

WE: Nein. Mir war zwar bekannt, daß es das KZ Neuengamme bei Hamburg gegeben hat, und ich wußte auch, daß ich hier in Neuengamme war, aber daß das Gefängnis auf dem Lagergelände stand, wußte ich nicht. Es war Ende Mai, als ich im Knast war, und meine Zelle lag so, daß ich frühmorgens den Sonnenaufgang beobachten konnte, aber ich sah nur Wiesen und Bäume und sonst nichts. Zum Hofgang hatten wir nur einen Innenhof, über dessen Mauern man nicht blicken konnte. Als Hausbesetzer hatte ich nicht so viel wie andere Mithäftlinge auszustehen, denn es gab eine Solidarität unter uns. Zudem bekam ich von meinen Geschwistern und anderen Hausbesetzern Besuch. Ich hatte außerdem einen guten Anwalt und genug Geld, und weil ich nicht rauchte, kaufte ich Tabak, so daß ich immer etwas zum Tauschen hatte. Ich werde nie vergessen, daß in einer Nachbarzelle ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger jugoslawischer Junge saß, der nicht Deutsch sprechen konnte und nie Besuch bekam. Er war vollkommen vereinsamt, so daß ich mir dachte, es ist ein Segen, daß die Solidarität unter Hausbesetzern auch im Knast weitergeht. Nach zwei Wochen war ich wieder draußen, weil sich herausstellte, daß der Haftrichter über seine Amtsbefugnisse hinausgeschossen war. Der Haftprüfungsrichter hat mich dann ohne jede Auflage freigelassen.

Betonmauer mit Stacheldrahtkranz und Wachturm - Fotos: © 2014 by Schattenblick Betonmauer mit Stacheldrahtkranz und Wachturm - Fotos: © 2014 by Schattenblick Betonmauer mit Stacheldrahtkranz und Wachturm - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Fragment der Außenmauer der 2007 abgerissenen Jugendstrafanstalt Vierlande auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Fotos: © 2014 by Schattenblick

SB: In der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, wo gestern der erste Tag des Workshops stattfand, gibt es keine Mauern mehr. Einige Patienten der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten leben heute noch über das Gelände verstreut in Wohngemeinschaften. Andererseits gibt es neue Formen repressiver Kontrolle wie das Gefahrengebiet in Hamburg. Wie bewertest du das Verhältnis zwischen der Liberalisierung bestimmter gesellschaftlicher Bereiche und der stärkeren räumlichen Kontrolle in Städten andererseits? Welche langfristigen Ziele könnten damit verfolgt werden?

WE: In der Kritischen Kriminologie gibt es eine Diskussion über Gesetze auf Vorrat. So werden immer wieder Gesetze erlassen, von denen man im Augenblick gar nicht weiß, wozu sie dienen. Notstandsgesetze sind ein Beispiel für ein Gesetz auf Vorrat. Die Geschichte mit dem Gefahrengebiet scheint mir ein weiteres Beispiel für das zu sein, was englische Kriminologen in dem 1979 erschienenen Buch "Policing the Crisis" beschrieben haben, nämlich die immer wieder zu beobachtende politische Strategie, soziale Konflikte in strafrechtliche zu verwandeln. Abtreibung wäre ein gutes Beispiel dafür. Auf der einen Seite gibt es Probleme von Armut und ungewollter Schwangerschaft und auf der anderen Seite das staatliche Primat, diesen im Grunde sozialen Konflikt als Straftat zu definieren. Diese Art der Überführung sozialer Konflikte in Straftatbestände ist eine altbewährte Herrschaftstaktik, um an den sozialen Mißständen nichts ändern zu müssen und die mögliche massenhafte Gegenwehr in einen individuell verantwortlichen kriminellen Akt zu transformieren.

SB: Spätestens seit dem 11. September 2001 hat die Tendenz, mit staatlicher Ermächtigung geltendes Recht zu überschreiten, zugenommen. Dies läßt sich insbesondere in den USA beobachten. Steht zu befürchten, daß unter dem Primat des Ausnahmezustands exekutive Zugriffe zu Lasten demokratischer Rechte verstärkt werden?

WE: Der nach meinem Eindruck eher konservative ZDF-Fachmann für Terrorfragen Elmar Theveßen hat kürzlich eine Reportage über die NSA gemacht, die mit der Schlußfolgerung endet, daß die Aktivitäten britischer, amerikanischer und deutscher Geheimdienste im Grunde eine Art vorgelagerte Aufstandsaufklärung darstellen. In und außerhalb von Europa gibt es eine wachsende Unzufriedenheit unter den Menschen, die sich in Unruhen, Aufständen bis hin zum Bürgerkrieg entlädt. Es gärt aus verschiedensten Gründen im globalen Maßstab. Ich glaube daher, daß Politiker als auch Polizeiführer das Instrumentarium präventiver Unruhebekämpfung ausprobieren. Möglicherweise war die Proklamation eines Gefahrengebiets ein Probehandeln der Hamburger Innenbehörde gewesen, um zu testen, ob die linke Szene oder ganz allgemein die Stadtbevölkerung so etwas hinnimmt.

SB: Es scheint, daß sich der Charakter der Prävention in der gesamten Strafverfolgung immer stärker durchsetzt und sich die Fälle häufen, in denen Menschen bereits vor dem Gerichtsverfahren aufgrund bloßer Verdachtsmomente kriminalisiert werden. Oft liegen gegen sogenannte Terrorverdächtige lediglich geheimdienstliche Erkenntnisse vor. Wie bewertest du den Gedanken der Prävention aus deiner kriminologischen Sicht?

WE: Der Präventionsgedanke ist mit Sicherheit die Legitimationsbasis für geheimdienstliche bzw. polizeiliche Untersuchungen. In dem bereits 1985 erschienenen Werk "Die Polizei in der Bundesrepublik" vertritt der Mitautor Falco Werkentin die These, daß die polizeiliche bzw. geheimdienstliche Ausforschung unter dem Präventionsaspekt wahrscheinlich deshalb erfolglos bleiben wird, weil es keine sozialwissenschaftlich tragende Theorie darüber gibt, aus welchen Kontakten, Äußerungen und Verkehrsformen von Menschen sich mutmaßliche Aktionen vorhersagen lassen. Oder anders gefragt: Wie soll die Datensammelei eine präventive Wirkung bzw. einen präventiven Schutz entfalten? Mit den Daten lassen sich bestenfalls Konstrukte der Art anfertigen, wer zu bestimmten Personen Kontakt hat, mit ihnen im Austausch steht bzw. verreist, um potentiell als Verdächtiger zu gelten.

Das muß man skeptisch sehen. Ich denke, man sollte das Ganze von der Frage her aufrollen, ob die unterstellte Präventionswirkung nicht vielmehr ein Legitimationsversuch für geheimdienstliche oder polizeiliche Aktivitäten ist. So wurde zum Beispiel jüngst für das Gefahrengebiet oder auch damals für den Hamburger Kessel die Begründung ausgegeben, die Polizei wollte die Stadt schützen und verhindern, daß marodierende Haufen durch St. Pauli ziehen, was unter anderem deshalb voll nach hinten losging, weil auch viele SPD-Mitglieder in diesem Kessel saßen.

SB: Gibt es aus deiner Sicht innerhalb der Polizei Kräfte oder Konstellationen, die diese Entwicklung aus einem demokratischen und bürgerlichen Grundverständnis heraus kritisch sehen?

WE: Es gibt die Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten mit dem derzeitigen Vorsitzenden Thomas Wüppesahl. Viele von denen, die früher dabei waren, sind inzwischen wieder ausgeschieden, aber ich glaube dennoch, daß es nach wie vor gut ist, so eine Gruppe zu haben. Damals war die Stimmung bei den Kritischen Polizistinnen und Polizisten zumindest so, daß auf jeden Aktiven bundesweit mindestens zehn bis zwanzig Kollegen kamen, die sie inhaltlich unterstützten, sich aber nicht laut zu äußern wagten. Manfred Mahr hat seinerzeit etliche Informationen aus dem Polizeiapparat getriggert und sie zum Gegenstand einer kleinen Anfrage an die Hamburger Bürgerschaft gemacht. Dies und die Aktivitäten der Kritischen Polizistinnen und Polizisten plus der parlamentarische Untersuchungsausschuß zu Polizeiübergriffen, bei dem ich Mitte der 90er Jahre in Hamburg mitgearbeitet habe, entfalteten den nötigen Druck, um schließlich eine Polizeikontrollkommission zu etablieren, die dummerweise im Gebäude der Innenbehörde eingerichtet wurde. Soviel zum Thema Anonymität. Leider ist sie ruckzuck wieder abgeschafft worden. Aber gerade nach dieser Sache mit dem Gefahrengebiet wäre es meines Erachtens wirklich eine Initiative wert, so eine Institution oder einen Polizei-Ombudsmann als Adresse für Beschwerden und Untersuchungen zu Polizeihandlungen in Hamburg neu zu installieren.

SB: Könntest du einmal das Selbstverständnis der Kritischen Kriminologie, mit der du befaßt bist, umreißen?

WE: Die kriminologische Tradition in Hamburg steht bis heute im Zusammenhang mit der Kritischen Kriminologie, also dem Versuch, nicht als Hilfswissenschaft der Juristen quasi kriminalistisches Wissen anzuhäufen oder kriminalbiologisch tätig zu sein. Die Kritische Kriminologie hat zur Aufgabe, staatliches Handeln im engeren Sinne, aber auch gesellschaftliche Kontrollpolitiken, zu denen man die Psychiatrie rechnen kann, zu untersuchen und zu verstehen. Wenn man an Leute wie Michel Foucault - Stichwort Gouvernementalität - oder an Antonio Gramscis Hegemoniekonzept denkt, geht es letztlich immer um die Frage, wie in der Bevölkerung die Bereitschaft erzeugt wird, den gesellschaftlichen Verhältnissen zuzustimmen, was im umgekehrten Sinne bedeutet, Widerstand und Unwillen zu ersticken.

Mauerfragmente im Kies mit Blumengestecken für die Opfer - Fotos: © 2014 by Schattenblick Mauerfragmente im Kies mit Blumengestecken für die Opfer - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Grundmauern des Arrestbunkers, in dem die SS zahlreiche Häftlinge, sowjetische Kriegsgefangene und Menschen aus dem politischen Widerstand ermordete
Fotos: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie siehst du das System des NS-Staates nach zwei Tagen Workshop zur systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen?

WE: Der Antisemitismus ist wohl eine tragende Säule der deutschen Faschisten gewesen, und insofern ist ohne Pardon gemordet worden. In Hinblick auf Behinderte und den Widerstand hat man im weiteren Verlauf des Krieges offenbar von dieser unbedingten Mordbereitschaft ein Stück weit Abstand genommen. Dieser Punkt, nämlich daß die Überantwortung der Opfer an das Euthanasieprogramm plötzlich langsamer vonstatten ging, als verstärkt Arbeitslager eingerichtet wurden, war auch gestern in einer bestimmten Fragesituation Thema.

Aus der Forschung zum Zweiten Weltkrieg ist mir bekannt, daß die Nazi-Blitzkriegstrategie das Mittel der Wahl war, um für eine Mittelmacht wie Deutschland überhaupt einen so großen Krieg führen zu können. Nach sechs bis neun Monaten Kriegsanstrengung mußte es immer wieder Erholungsphasen geben. Dieses Konzept ist beim Überfall auf die Sowjetunion schiefgegangen, weil der Einmarsch nicht wie geplant im Dezember 1941 mit der Einnahme Moskaus endete. Dadurch geriet die Nazi-Kriegswirtschaft in eine massive Krise, aus der sie mit ihren knappen Ressourcen nicht mehr herausgekommen ist. In diesem Kontext müßte man auch die Brüche im Euthanasieprogramms reflektieren, weil das Nazi-Regime seine Mordpolitik ganz offensichtlich mit dem Fortgang des Krieges verändert hat, bis hin zu den Weißen Bussen. Meines Wissens hat Himmler das Angebot zur Freilassung von Häftlingen mit dem Gedanken verknüpft, daß er bei den Alliierten etwas billiger davonkommt, wenn er ein paar Leute anbieten kann. Möglicherweise hat es solche Politiken auch zu früheren Anlässen gegeben.

Kernstück der ganzen Geschichte, wenn man Faschismus als einen radikalisierten Kapitalismus versteht, ist für mich bei allen ideologischen Verrücktheiten der NS-Ideologie letztlich, daß die menschliche Arbeitskraft für den Krieg gebraucht wurde. So läßt sich vielleicht auch verstehen, warum die harte Linie der NS-Vernichtungsideologie angesichts des Konflikts, entweder der eigenen Ideologie zu folgen oder eine entsprechende Zahl an Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie und zur Aufrechterhaltung des Alltags bereitzustellen, hier und da aufgebrochen wurde. So ist man zum Beispiel vom Holzbarackenbau zu Steinbauten übergegangen, weil diese Gebäude die Häftlinge besser schützten. Daher überrascht es nicht, daß hier in Neuengamme ein Klinkerwerk gebaut wurde, von dem ich aus anderen Quellen weiß, daß es später für den Wiederaufbau Hamburgs eine große Rolle spielte.

SB: Wurde dein Wunsch nach einer materialistischen Deutung der NS-"Euthanasie" hier auf der Konferenz erfüllt?

WE: Es wäre spannend, die Vorträge mit kriegsgeschichtlichen Kenntnissen zu verknüpfen, wie zum Beispiel mit der Situation in Nazideutschland, als Ende 1941 das Blitzkriegkonzept gescheitert war. Welche Institutionen haben wie darauf reagiert? Wohl nicht zufällig ist es daraufhin zu einer massiven ideologischen Aufrüstung, unter anderem in Form der dramatischen Sportpalastrede von Goebbels, gekommen. Ich denke, daß das drohende Scheitern der Wehrmacht durch eine Verschärfung der ideologischen Kampfmittel aufgefangen werden sollte. Ich glaube zudem, daß die Verhängung der Todesurteile gegen Soldaten ganz ungleich über den Krieg verteilt war. Für einen Kriminologen ist es eine spannende Frage, wie die Ermordung der im späteren Kriegsverlauf stark zunehmenden Zahl desertierender Wehrmachtssoldaten begründet wurde. Mit Sicherheit hatte das auch einen präventiven Zweck. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Foucaults Buch "Überwachen und Strafen" mit der langen und furchtbaren Schilderung einer Hinrichtung im Mittelalter anfängt. Die Botschaft an die umstehende Menge lautete: Seht, das blüht euch, wenn ihr nicht spurt. Insofern stellen hingerichtete Soldaten eine Botschaft an alle lebenden Soldaten dar: Wer flüchtet, stirbt mit Sicherheit. Wer an der Front bleibt, hat eine Chance zu überleben. Deshalb ist die Zahl der Todesurteile wahrscheinlich so in die Höhe geschnellt.

Ferner könnte es hilfreich sein, auch Ökonomen zu solchen Tagungen einzuladen, damit man Einblicke in ihre Sicht des Krieges und seines Verlaufs unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bekommt. Man verliert sich sicherlich nicht in Verschwörungstheorien, wenn man analog zur Wannsee-Konferenz über ökonomische Konferenzen spekuliert, an denen Militär, SS und Industrie konkrete Ziele und Vorgehensweisen abgesteckt haben. Diese gesellschaftlichen Kräfte haben durchaus zusammengesessen. Ich erinnere dabei an das Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz auf dem Gelände der Buna-Werke der IG-Farben, wo die Erfordernisse der Kriegswirtschaft ganz konkret verhandelt wurden. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist ferner, daß in Himmlers Freundeskreis Reichsführer-SS auch führende Industrielle vertreten waren. Es wäre sicher lohnend, die NS-Vernichtungspolitiken mit der Wirtschaftssituation dieser Zeit zu überkreuzen. Auf der einen Seite gab es die ideologische Parole von den unnützen Essern und Ballastexistenzen, aber andererseits war man ab einem bestimmten Zeitpunkt um die Wiederherstellung der Arbeitskraft bemüht. Diese auf den ersten Blick gegensätzliche Interessenlage in der Diskussion um die historische Begebenheiten miteinzubeziehen, wäre für mich ein materialistischer Deutungsversuch der NS-Euthanasie.

Mit Drahtgeflecht umfaßte Carrees voller Steine - Foto: © 2014 by Schattenblick

Aufgeschüttete Grundflächen ehemaliger Häftlingsbaracken, dahinter überdachtes Fundament des Arrestbunkers
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
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BERICHT/013: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (2) (SB)
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8. Mai 2014