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INTERVIEW/025: Inklusionsportale - Keine Freiheit von Gnaden ...    Maik Nothnagel im Gespräch (SB)


"Manchmal fühle ich mich verraten und verkauft"

Interview am 19. Oktober 2014 in Münster



Maik Nothnagel ist Inklusionspolitischer Sprecher im Thüringer Landtag und Sprecher der BAG "Selbstbestimmte Behindertenpolitik" der Partei Die Linke sowie 1. Landesvorsitzender des Sozialverbands Deutschland (SoVD) Thüringen e.V. [1].

Bei der Tagung "Inklusion in der Kommune", die am 19. Oktober in Münster stattfand, berichtete er über die Entwicklung und Umsetzung eines kommunalen Aktionsplans am Beispiel der Stadt Erfurt und leitete einen Workshop zum Thema "Wie gestaltet und entwickelt Mensch einen kommunalen Aktionsplan?". Am Rande der Konferenz beantwortete Maik Nothnagel dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Maik Nothnagel
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Maik, warum hältst du es als Mensch mit einer Behinderung für wichtig, an die Öffentlichkeit zu treten und in politischen Gremien präsent zu sein?

Maik Nothnagel: Weil es sich andernfalls immer nur um eine Stellvertretung handelt. Ich halte es für sehr wichtig, daß die Betroffenen selber endlich mal den Mund aufmachen und den Mut finden zu sagen, ich will etwas verändern. Und wenn ich etwas verändern will, kann ich das in einer Demokratie nur im Parteiensystem schaffen, indem ich mich in den Gremien einbringe. Mache ich das nicht, ist es wie bei den meisten: Nölen können sie alle, aber wenn es darum geht, etwas zu unternehmen und zu verändern, machen sie nichts. Deshalb lege ich so großen Wert darauf, auf diese Weise Flagge zu zeigen.

SB: Wie erlebst du es, wenn du als Mensch mit einer Behinderung Politik machst, aber erfährst, daß andere nicht mitziehen?

MN: Unterschiedlich. Manchmal fühle ich mich verraten und verkauft. Als vor einigen Jahren die Debatte um Werkstätten für Behinderte geführt wurde, fiel man mir regelrecht in den Rücken. Behinderte Menschen wurden von der Wohlfahrt regelrecht instrumentalisiert, und das war schon eine bittere Erfahrung. Dabei wurde deutlich, daß es nicht die eigene Meinung der Helfer war und sie es nur machten, weil es ihnen andere gesagt hatten. In diesem Wohlfahrtsystem ist es eben schwierig, weil es das Gutmenschentum gibt: Wir tun ja nur etwas Gutes! Sie sichern damit aber auch ihre Arbeitsplätze. Ich halte es gerne mit Marx: Solange ich das Werkstück bin, das sie bearbeiten, um Mehrwert zu erzeugen, habe ich ein Problem damit. Es ist zwar wichtig, daß sie ihre Arbeit behalten, und viele von uns brauchen ja auch eine Förderung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber daß wir als Alibi herhalten müssen, finde ich schon problematisch.

Das nächste Problem ist aus meiner Sicht, daß mir unterstellt wird, ich wolle sie abschaffen und arbeitslos machen. Tatsächlich will ich aber etwas im Sinne der UN-Konvention verändern, in der eindeutig steht, daß Sondereinrichtungen zu überwinden sind, und genau das möchte ich. Abschaffen will ich diese Fachkräfte nicht, die wir brauchen. Aber eines möchte ich schon: Die Arbeitsplätze und -orte will ich so verändern, daß es keine Sonderwelten mehr sind.

SB: Du hast berichtet, daß auch in deiner eigenen Partei bei den Vorschlägen, die du einbringst, nicht immer alle mitziehen. Wie kommt es, daß das selbst in einer Partei wie Der Linken möglich ist, und wie bewertest du das persönlich?

MN: Das ist mir schon mehrfach passiert. Diskussionen wie jene um die Werkstätten, die in der vergangenen Woche auf dem Parteitag in Hessen geführt wurden, habe ich vor sieben Jahren in Thüringen schon live erlebt. Wie empfinde ich das? Ich glaube, einige Genossinnen und Genossen haben eigene Interessen, weil sie mehr an ihre Arbeitsplätze als an Menschen mit Behinderungen denken. Ich gehöre zwar der Partei Die Linke an, bin aber auch Partei für Menschen mit Behinderungen. Und da kann ich so manches, was in Der Linken in der Vergangenheit gelaufen ist und zum Teil immer noch läuft, nicht mittragen. Ich war immer für selbstbestimmtes Leben und gegen Bevormundung. Aus meiner parteilichen behinderten Sicht sehe ich, daß man das in Der Linken vor sich herträgt, aber wenn es dann konkret wird, doch nicht verinnerlicht hat.

SB: Der Blick der sogenannten normalen auf die behinderten Menschen ist von Ausgrenzung geprägt. Wenn du umgekehrt auf die "Normalen" blickst, tun sich offenbar Abgründe auf.

MN: Ja natürlich. Ich bin durch meine Ostsozialisation mit der PDS und vorher der SED auch ein bißchen geprägt. Ich war nie SED-Mitglied, und meine höchste Funktion in der DDR war FDJ-Gruppensekretär für die Produktionsarbeiter in meinem Betrieb, das war alles. Aber seitdem ich Politik für die PDS gemacht habe, mußte ich mir anhören, was ich angeblich alles in diesem System angestellt habe, obwohl ich damit nie etwas zu tun hatte. Ich hatte als behinderter Mensch selbst unter dem System zu leiden, weil da auch nicht alles perfekt war. Also kenne ich Ausgrenzung und Diskriminierung, wie du sie angesprochen hat, aus zwei Sichten - einerseits von Anfang an als Mensch mit Behinderung und zum zweiten Mal durfte ich das dann so ab 1999 erleben, als ich auf der Liste der PDS für den Kreistag und den Landtag kandidierte und als rote Socke bezichtigt wurde.

SB: Du bist in der DDR aufgewachsen. Gab es im Vergleich zur Bundesrepublik eine stärkere Solidarität oder hast du es genauso erlebt wie später?

MN: Ob es solidarischer war, kann ich schlecht einschätzen. Ich war 23 Jahre alt, als die DDR aufhörte zu existieren, und kann eigentlich nur aus meiner Sicht wie auch aufgrund vieler Gespräche mit behinderten Menschen aus der alten Bundesrepublik berichten, daß sich die beiden Systeme in dieser Hinsicht kaum unterschieden haben. Es gab in den alten Bundesländern mehr finanzielle Unterstützung und technische Hilfsmittel, die wir so in der DDR nicht hatten, aber die Denkweise, wie sie in der Aktion Sorgenkind zum Ausdruck kam, war auf beiden Seiten präsent. Daß wir weggepackt und von der Öffentlichkeit ferngehalten wurden, habe ich schon als Kind erfahren.

Ich wurde 1966 am Heiligen Abend bei Kerzenschein geboren, weil gerade Stromausfall war, und wurde sofort beiseite geschafft. Meine Eltern bekamen mich erst einmal überhaupt nicht zu sehen und sollten mich auch nicht mit nach Hause nehmen, da man mich gleich ins Heim bringen wollte. Meine Eltern mußten von Anfang an für mich kämpfen. Daß ich nach Hause kam, daß ich in einen normalen Kindergarten gehen durfte, war nicht selbstverständlich. Daß ich in eine normale Schule gehen konnte, war ein Riesenkampf. Meine Eltern wurden zwangsverpflichtet, mich in eine Sondereinrichtung zu geben, aber ich habe dort nur Ärger gemacht und bin nach einem Vierteljahr abgehauen. Das war wohl die entscheidende Wende in meinem Leben, daß ich nicht bis zum 18. Lebensjahr in dieser Knastsituation geblieben bin, sondern in eine normale Schule gehen konnte.

Im Nachhinein kann ich als Sozialpädagoge und Peer Counselor sagen, daß ich auch eine kleine Macke hatte, weil ich mich 25 Jahre lang als nichtbehinderter Mensch gesehen habe. Das war meine Schutzfunktion, um dort zu überleben und nicht darüber nachzudenken. Dafür ist es dann später gekommen, und ich habe es aufbereitet. Wenn ich damals einen behinderten Menschen gesehen habe, wechselte ich lieber die Straßenseite - völlig schizophren, aber es war mein Muster, damit umzugehen.

SB: Dich selber als Menschen mit einer Behinderung zu sehen, ist also eine Emanzipation gewesen?

MN: Ja klar. Und das habe ich nur hinbekommen, indem ich Sozialpädagogik studiert habe, später Peer Counselor geworden und jetzt als Ausbilder für Behindertenberater tätig bin, was ja einen hohen Anteil an Selbsterfahrung erfordert. Wenn du diesen Prozeß nicht für dich selbst gemacht hast, kannst du damit nicht frei umgehen, dann hast du immer Blockaden. Das war ein harter Prozeß, aber ich bin froh, daß ich das gemacht und hinter mir habe. Davon profitiere ich bis heute, da ich das politisch leben und umsetzen kann, weil mich vieles einfach nicht mehr anficht.

SB: Da hast berichtet, wie viele Jahre es dauert, um diesen Prozeß in Gang zu bringen, und daß es dabei des öfteren Momente gibt, wo es dir "bis hierhin" steht. Andererseits hast du daraus aber auch die Kraft geschöpft weiterzumachen?

MN: Es gibt solche Momente, und ich bin froh, daß ich viele Freunde in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung habe, mit denen ich mich austauschen kann. Das ist für mich Heimat - nicht in politischer Hinsicht, weil sie eher den Grünen zuneigen - aber trotzdem fühle ich mich da geborgen, weil es Menschen meines Geistes und meiner Sinne sind, die auch diesen Prozeß durchgemacht haben. Uns vereint, daß wir diese Entwicklung auch politisch umsetzen. Das vermisse ich in anderen Zusammenhängen und leider mitunter auch bei Der Linken oft. Nur behindert zu sein, ist keine Qualifikation, keine Voraussetzung, da gehört einfach mehr dazu.

SB: Du bist von Neonazis angegangen worden, die zweimal dein Büro angegriffen und Ende August die Reifen deines Autos zerstochen haben. Überdies stand dein Name in der sogenannten Todesliste des NSU. War dir diese Bedrohung schon längere Zeit bekannt und präsent?

MN: So dicht an mich herangekommen war sie vorher nicht. Ich hatte es befürchtet, weil ich mich über zehn Jahre lang dafür eingesetzt habe, daß an den Stätten der Euthanasie in Thüringen endlich Gedenktafeln angebracht werden, daß wir der Opfer gedenken und das auch wissenschaftlich aufarbeiten. Daß es ähnlich wie jetzt bei der Inklusion zehn Jahre gedauert hat, zeigt ja, daß man nicht begeistert ist, so etwas zu tun. Viele Menschen reden nicht darüber, aber denken sich ihren Teil. Du kannst ja bei vielen nicht hinter die Fassade schauen. In Meiningen, wo ich mein Büro hatte, gab es schon eine starke rechte Bewegung und daraufhin auch eine linke Gegenbewegung. Wenn du dich da positionierst, gerätst du automatisch in die Auseinandersetzungen. Daß ich auf der Liste des NSU stehe, hat mich schon sehr erstaunt, weil ich dachte, so wichtig bist du ja nun auch wieder nicht. Daß meine Reifen zerstochen wurden, hat mir schon Angst gemacht, weil es vor meinem Haus, auf meinem Hof, in meinem unmittelbaren privaten Umfeld passierte. Daß nicht einmal das heilig ist und geschützt werden kann, macht Angst.

SB: Hältst du die offizielle Version für glaubwürdig, es habe sich beim Umgang mit dem NSU um eine lange Kette von Pannen des Verfassungsschutzes gehandelt?

MN: Ich habe es zum Teil als Abgeordneter erlebt, war danach aber drei Jahre in Berlin, so daß ich die Vorgänge in Thüringen nicht mehr unmittelbar verfolgen konnte. Ich habe es lange so empfunden, daß Polizei und Justiz auf dem rechten Auge blind sind. Wann immer die Extremismusdebatte geführt wurde, ging es zuallererst gegen die Linken und erst im zweiten Schritt gegen die Rechten. Das wurde bewußt und gezielt in diese Richtung betrieben. Die CDU-Mehrheit hat das ausgiebig genutzt und was sie heute erzählt, ist für mich nicht glaubwürdig.

SB: Wie schätzt du die Stimmung in der Bevölkerung Thüringens ein? Haben rechtsgerichtete Kräfte eine Basis in diesem Bundesland, und wie würdest du den Übergang zwischen Konservativen und Rechten beschreiben?

MN: Mancherorts haben die Rechten eine regelrechte Basis, was auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen zeigen, bei denen NPD-Leute in Stadträte, Gemeinderäte und Kreistage eingezogen sind. Sie gehen clever zu Werke und fischen im sozialen Bereich. Es gibt viele Menschen, die das intellektuell nicht erkennen oder es nicht erkennen wollen, und die gehen ihnen auf den Leim. Es ist schon eine recht ausgeprägte Basis vorhanden, zumal die Konservativen das gerne zugedeckt haben.

SB: Wir haben heute des öfteren die Frage aufgeworfen, warum die Mehrheitsgesellschaft so zögerlich umdenkt und die Verwaltung nicht schneller reagiert. Ist das aus deiner Sicht eher Gleichgültigkeit oder sogar böser Wille, der einer bestimmten Interessenlage geschuldet ist, beispielsweise den eigenen Arbeitsplatz gegen mutmaßliche Konkurrenten zu verteidigen?

MN: Es ist eine Gemengelage aus beidem. Am schärfsten finde ich es immer, wenn es um das persönliche Budget von Menschen mit einer Behinderung geht. Wo kommen wir denn da hin, wenn ich den Behinderten das Geld zur freien Verfügung gebe und die damit machen können, was sie wollen? Das sind doch unsere Steuergelder. Das muß doch kontrolliert werden! Diese Denkweise ist in Deutschland besonders stark präsent, eine derart ausgeprägte Kontrolle findet man in anderen europäischen Ländern nicht. Der Grundgedanke der Wohlfahrt lautet, wir wissen, was für euch gut ist. Es wird lange dauern, das zu verändern, und da muß auch mal in der Verwaltungsausbildung und nicht nur in der Lehrerausbildung oder bei Erziehern etwas passieren. Solange dieses Denken vorherrscht, das sich auf ein medizinisch-defizitäres Behindertenbild stützt, statt die vorhandenen Stärken der Menschen zu unterstützen, wird sich in der Verwaltung nichts ändern. Ich will ja nicht sagen, daß sie alle böse sind, aber die Mehrzahl denkt und handelt noch so, und die wenigen, die es anders handhaben wollen, werden in die Schranken gewiesen. So funktionieren die Strukturen auf die sattsam bekannte Weise. Und sind wir doch mal ehrlich - am Ende geht alles ums Geld!

SB: Die deutsche Geschichte ist in hohem Maße von einer Ausgrenzung behinderter Menschen bis hin zu ihrer massenhaften Vernichtung im Zuge der Euthanasie geprägt. Glaubst du, daß diese Tendenz in Deutschland nach wie vor latent vorhanden ist und wieder zum Ausbruch kommen kann?

MN: Ja, weil es immer noch eine Unterscheidung in lebenswertes und lebensunwertes Leben gibt. Also ist der Weg nicht weit, zumal die Möglichkeiten heute wesentlich verfeinerter sind. Ich denke schon, daß wir sehr wachsam bleiben müssen.

SB: Maik, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] http://www.maik-nothnagel.de/


Bisherige Beiträge zur Tagung "Inklusion in der Kommune" in Münster im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/020: Inklusionsportale - Dschungelfreiheit ... (SB)
BERICHT/021: Inklusionsportale - Klassen- und barrierefrei ... (SB)

9. November 2014