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INTERVIEW/031: Sterben nach Plan - siechen und im Stich gelassen ...    Bodo de Vries im Gespräch (SB)


Gespräch am 23. September 2017 in Münster


Am 23. September fand an der Katholischen Hochschule (KatHO) Nordrhein-Westfalen in Münster die Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" statt, zu der das Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien BioSkop e.V., die Hospiz-Stiftung OMEGA Bocholt e.V. sowie das Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik IFF in Wien eingeladen hatten. Zu den interessierten Experten im Publikum, die sich an der Diskussion beteiligten, gehörte auch der Sozialwissenschaftler Dr. Bodo de Vries aus dem Vorstand des Evangelischen Johanneswerks [1]. Am Rande der Konferenz beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Situation in der Altenpflege, zur Kritik am Konzept des Advance Care Planning (ACP) [2], zum Umgang mit dem Pflegenotstand in Politik und Gesellschaft sowie zu möglichen Lösungsansätzen.


Stehend im Veranstaltungssaal - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bodo de Vries
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr de Vries, könnten Sie bitte Ihren beruflichen Wirkungskreis kurz umreißen?

Bodo de Vries (BdV): Ich bin im Vorstand des Evangelischen Johanneswerks tätig. Wir versorgen täglich 3500 Menschen in der stationären Altenpflege, bestimmt 2500 ambulant und circa 1500 Menschen mit Behinderungen. Fragestellungen von Tod und Sterben gehören deshalb zu unserem Alltag.

SB: Sie haben in Ihrem Diskussionsbeitrag angedeutet, wie die Situation insbesondere in der Altenpflege heute beschaffen ist. Könnten Sie das näher ausführen?

BdV: Wir müssen in der stationären Altenhilfe, die es ja seit vielen Jahrzehnten gibt, feststellen, daß sich die Zielgruppen verändert haben. Die Zielgruppe der Menschen, die in die stationäre Altenpflege kommen, verändert sich, weil die ambulante Versorgung einfach besser geworden ist. Das heißt aber auch, daß die Konsequenz eine verkürzte Verweildauer ist, und das bedeutet konkret, daß die Begleitung Sterbender - übrigens auch die Begleitung von Angehörigen, die palliativpflegerische Versorgung und die hospizliche Versorgung - an Bedeutung gewinnt. Vor diesem Hintergrund sind wir dankbar, daß der Gesetzgeber mit dem Paragraphen 132g [3] reagiert und somit die Überlegung, wie Vorsorge- und Sorgegespräche geführt werden, in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird. Völlig unzufrieden sind wir natürlich mit den Ergebnissen, die das bewerkstelligen sollen, weil hier eine Situation geschaffen wird, die für die Einrichtung letztlich wenig hilfreich ist.

SB: Was kritisieren Sie im einzelnen an dieser Form der Durchführung?

BdV: Wir müssen Angst vor den Standards haben, die hier entstehen könnten, die auf völlig einzigartige individuelle Situationen, Biographien, aber auch Familiensituationen gestülpt werden. Hier hoffe ich, daß Gestaltungsspielraum bleibt, hier glaube ich auch, daß noch nicht alles festliegt. Sehr ärgerlich finde ich aber jetzt schon die Ressourcen, die bereits definiert sind. Es soll eine Stellenfestlegung geben, die eine Achtelstelle auf 50 Bewohner hervorbringen wird. Ein Standardaltenheim in Nordrhein-Westfalen hat 80 Bewohner. Das bedeutet, wir haben 0,2 Stellen für diese sehr komplexe Aufgabe, die in der Kommunikation mit den Bewohnern, in der Vernetzung vor Ort, zu den anderen Hilfegruppen und Ärzten wirken soll, aber auch innerhalb des Hauses. Hier werden viel zu wenig Ressourcen mit der Gießkanne ausgeschüttet, das ist unerträglich. Es ist deshalb unerträglich, weil Häuser, die eine gute palliative Versorgung gewährleisten, eben auch häufigere Sterbefälle haben. Das kann ich beurteilen, wir haben 35 stationäre Altenhilfeeinrichtungen. Wir haben Häuser, in denen die durchschnittliche Verweildauer 42 Monate beträgt, dort werden vor allem auch Frauen und Menschen mit Demenz versorgt, und wir haben Häuser mit einer durchschnittlichen Verweildauer von zwölf Monaten. Diese Häuser mit einer geringen Verweildauer machen eine gute Palliativversorgung, haben Verbindungen zu Palliativnetzwerken, zu Krankenhäusern und sind dafür bekannt. Das heißt, je besser sie werden, desto mehr werden sie personell bestraft, weil sie auch nur 0,2 Stellen haben wie das Haus, in dem die Leute für die doppelte oder dreifache Verweildauer bleiben.

Und das zweite ist natürlich, daß die Strukturierung der Prozesse, die Seelsorge, die Fachlichkeit, die wir entwickeln, mit diesen Budgets, die hier in der Stelle vorgesehen sind, gar nicht geleistet werden können. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß es die Menschen, die diese Tätigkeit ausüben könnten, einfach nicht gibt, diese Qualifikation gibt es nicht. Gut gemeint, aber schlecht gemacht - das wäre meine Bewertung dessen, was da auf uns zukommt.

SB: Welche mutmaßlichen Gründe liegen Ihres Erachtens dieser Vorgehensweise zugrunde? Die sogenannte Überalterung der Gesellschaft wird ja auf politischer Ebene fortgesetzt diskutiert. Werden daraus keine angemessenen Konsequenzen gezogen?

BdV: Eine Mutmaßung ist sicherlich, daß wir alle zu freundlich sind und es der Politik durchgehen lassen. Die in diesen Fragestellungen liegende Empörung angesichts dessen, was überhaupt nicht unseren gesellschaftlichen Zielen oder unseren ethischen Werten entspricht, muß mehr in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskussion treten. Das passiert viel zu wenig, selbst im Wahlkampf, obwohl die Pflege jetzt 2017 wenigstens mal genannt worden ist, wenngleich unerträglich rudimentär. Der zweite wesentliche Punkt ist natürlich, daß es einfach zu viele betroffene Menschen sind. Wir haben in Deutschland 2017 mit dem neuen Pflegebegriff eine gestiegene Anzahl von Pflegebedürftigen, und wenn wir hier Begleitung in besonderer Weise vorsehen, dann ist die Anzahl der Menschen, die dafür notwendig sind, und damit letztlich das Geld, das erforderlich ist, einfach viel zu gering. Darüber hinaus muß man sagen, daß der demographische Wandel das Ganze noch einmal viel, viel teuerer macht. Wenn wir das bereits heute fragile, prekäre Versorgungsniveau auf 2030 hochrechnen, kommen wir zu der Einschätzung, daß die Menschen, die 2030 pflegen sollten, gar nicht geboren worden sind, das kann man 2017 schon sagen.

Das kann man jedoch nicht offen aussprechen, wenn man alle fünf Jahre gewählt werden will. Das Bedauerliche ist, daß uns dieser Umstand von den Konzepten abhält, die wir alternativ entwickeln müßten, um auf einem höchstmöglichen ethischen und fachlichen Niveau die Versorgung sicherstellen zu können. Eine Offenheit in dieser Problematik würde uns guttun und das Potential entfalten, auch noch 2030 eine gute Sterbebegleitung machen zu können mit der Palliativversorgung, die wir wollen, mit der Hospizversorgung, die wir wollen, mit der Aktivierung der Zivilgesellschaft und der Angehörigen, die wir brauchen. Diese Themen könnten wir mit einer anderen Offenheit auch gesellschaftlich diskutieren.

SB: Erika Feyerabend [4] hat kritisch angesprochen, daß mit den ACPs die Entscheidungsmöglichkeit in der Weise verengt wird, daß man von vornherein auf bestimmte Behandlungsmöglichkeiten verzichtet. Würden Sie die Gefahr auch sehen, daß Menschen möglicherweise in die Richtung geschoben werden, bestimmte Behandlungen nicht mehr in Anspruch zu nehmen?

BdV: Ich verstehe Erika Feyerabend eher so, daß sie sagt, hier entsteht systemisch eine Konsequenz. Ausschließen möchte ich, und zwar vehement, daß sowohl Pflegekräfte wie Träger diese Intention haben. Den darin liegenden Vorwurf, wenn man das so deuten würde, halte ich für höchst gefährlich. Letztlich - und da müssen wir aufpassen - führt diese Diskussion ja nur dazu, daß wir den Menschen, die sich hier einbringen, sagen, ihr genügt immer noch nicht. Ihr genügt nicht, ihr macht es falsch. Das halte ich für gefährlich und auch für falsch, das ist weder die Selbstwahrnehmung der Träger noch der Mitarbeiter. Ich glaube, daß wir ein großes Problem haben und sich Menschen von diesem Beruf abwenden, weil dieser Druck, der von Angehörigen kommen mag, von Pflegebedürftigen kommen mag, vor allem aber von der Gesellschaft kommt und den Status hier in Frage stellt, als Belastung wirkt und wir allein schon deshalb Schwierigkeiten haben, Menschen zu motivieren, sich als qualifizierte Kräfte in diese Pflegesituation zu begeben. Wir brauchen eigentlich, wenn wir ehrlich sind, mehr und so ziemlich jeden.

SB: Wie könnte eine Bündelung der kritischen Kräfte aus Ihrer Sicht aussehen, um die Mängel in dieser Problematik gemeinsam auszuräumen?

BdV: Die Beiträge auf dieser Tagung haben das an vielen Stellen deutlich gemacht. Es geht nicht um Diskriminierung von Pflegekräften, es geht nicht um Diskriminierung von Trägern. Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie stehen, wir müssen sehen, was unter den Bedingungen machbar ist. Die Bedingungen sind so, wie sie sind. Wir haben in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 erstmalig seit 1996 einen Zuwachs an Pflegekräften in Altenheimen. Das ist gesetzlich definiert. Hier gibt es keinen Träger, der sich da irgendwie etwas in die Tasche stecken kann. Erstmals seit 1996 haben wir 6,8 Prozent mehr Pflegekräfte in den Altenheimen, und ich sage Ihnen, viele Pflegeheime haben diese Menschen noch gar nicht gefunden, die man zusätzlich einstellen müßte, weil es sie einfach nicht gibt. Ich will damit sagen, daß wir eine gesellschaftliche Diskussion brauchen. Konfrontation hilft vielleicht in der Sache intellektuell, und das brauchen wir, weil die darin liegende ethische und fachliche Empörung, auch die wirtschaftliche Empörung kommuniziert werden muß. Was wir aber dringend brauchen, ist, die Menschen da abzuholen, wo sie stehen. Wir brauchen keine Pflegebedürftigen, die Angst haben, keine Pflegenden, die sich abwenden, weil sie denken, sie sind nicht genug für die Aufgabe, die sie zu bewältigen haben. Wir stehen hier vor einer gesellschaftlichen Aufgabe, die eine große individuelle Betroffenheit für den einzelnen hat. Und es geht darum, diese anzupacken. Also Polarisierung gerne in Richtung Politik, Entwicklung von Fachlichkeit gerne auf wissenschaftlicher Basis, auf ethischer und theologischer Basis, aber letztlich geht es darum, was wir unter diesen Bedingungen machen können. Wenn wir hier nicht alle zum Realo werden, wird es noch viel, viel schlimmer.

SB: Herr de Vries, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] https://johanneswerk.de/de/startseite.html

[2] ACP (Advance Care Planning) - "Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase"

[3] Paragraph 132g im Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) regelt das Angebot kassenfinanzierter Beratungen in der Alten- und Behindertenhilfe durch speziell geschulte und zertifizierte GesprächsbegleiterInnen.

[4] Siehe dazu:
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0024.html


Berichte und Interviews zur Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" im Schattenblick unter:
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