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INTERVIEW/035: Pränataldiagnostik - Rechts- und Verhaltensentwicklung fragwürdig ...    Oliver Tolmein im Gespräch (SB)


Gespräch am 16. Juni 2018 in Essen


Dr. Oliver Tolmein ist Rechtsanwalt und Mitbegründer der Kanzlei Menschen und Rechte, die sich auf die Vertretung von Menschen mit Behinderung spezialisiert hat. In seiner journalistischen Tätigkeit als freier Autor unter anderem für FAZ und konkret hat er umfassend zu Fragen der Bioethik und Biomedizin gearbeitet, aber auch zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Linken in der BRD veröffentlicht [1]. Nach seinem Vortrag auf der Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Essen beantwortete Oliver Tolmein dem Schattenblick einige Fragen zur aktuellen Situation von Menschen mit Behinderung.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Oliver Tolmein
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Tolmein, inwiefern hat das Arbeitsgebiet Ihrer Kanzlei Menschen und Rechte mit dem Thema Behinderung zu tun?

Oliver Tolmein (OT): Wir sind eine Kanzlei in Hamburg, die überregional arbeitet, und vertreten ganz überwiegend die Interessen von Menschen mit Behinderung. Wir haben die Kanzlei Menschen und Rechte genannt, weil wir natürlich den Anklang an die Menschenrechte erzielen, gleichzeitig aber auch klarmachen wollten, daß Rechte immer auch Rechte von Menschen sein müssen und daß es uns darauf ganz im Kern ankommt. Menschen mit Behinderungen haben tatsächlich viele Probleme mit ihren Rechten, die ihnen zwar zugeschrieben worden sind, die sie aber oft nur sehr schwer und mit viel Mühen in Anspruch nehmen können.

SB: Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die den Leistungsgedanken enorm vorantreibt, sind mit einer starken Rechten konfrontiert, die ein bestimmtes Menschenbild propagiert, und einem biomedizinischen Fortschritt, der das Leben von Menschen mit Behinderung zusätzlich in Frage stellt. Wie beurteilen Sie die Situation von Menschen mit Behinderungen unter den heutigen Bedingungen?

OT: Wir haben eine ganz paradoxe Situation, wie ich finde. Auf der einen Seite haben wir eine ganze Reihe von rechtlichen Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen, die Anfang der 1980er Jahre, als ich mich mit dem Thema das erste Mal befaßt habe, überhaupt nicht vorstellbar waren. Wir haben heute das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen im Grundgesetz, wir haben eine Vielzahl von konkreten Antidiskriminierungsregelungen im Arbeits- und Verwaltungsrecht, wir haben auch sozialrechtlich eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für Leistungen, die so Anfang der 1980er Jahre nicht zu erhalten waren. Von daher ist die Situation von Menschen mit Behinderungen heute rechtlich an sich besser abgesichert.

Gleichzeitig ist es so, daß wir das in der Gesellschaft nicht etwa als Erleichterung erleben und sagen, wenn man Menschen mit Behinderungen nur eine Basis gibt, können sie ganz viel erreichen. Vielmehr sehen wir, daß eine Behindertenfeindlichkeit in weiten Teilen der Gesellschaft nicht verschwindet, in manchen Teilen sogar wieder stärker wird. Die AfD ist neben allem anderen eben auch eine behindertenfeindliche Partei mit einer Massivität, die erschreckend ist, daß so etwas heute wieder existiert. Und wir haben darüber hinaus eine technokratische Ebene, beispielsweise in der Diskussion um die Einführung des Praenatests als flächendeckende Kassenleistung, die die Existenz von Menschen mit Behinderungen bedroht, und zwar nicht im Rahmen einer Euthanasie, sondern im Rahmen einer Verhinderung, daß sie überhaupt zur Welt kommen, und das stößt auf breite gesellschaftliche Akzeptanz. In dieser Gemengelage davon auszugehen, daß die Situation von Menschen mit Behinderungen heute schlechter ist, würde ich so nicht sagen, sie ist aber, obwohl sie eigentlich viel besser ist, in neuem Maße ganz stark bedroht. Daher müssen wir schauen, wie wir damit umgehen und wie wir die Verbesserung der rechtlichen Lage auch materiell festklopfen, bewahren und immer noch weiter ausbauen. Denn natürlich ist die Situation heute für viele Menschen mit Behinderungen nach wie vor dramatisch schlecht.

SB: Sie sagten im Vortrag, das Recht auf Leben sei rechtlich einschränkbar. Das einzige, was sich nicht einschränken lasse, sei die Menschenwürde. Wir haben es heute zum Beispiel in den Niederlanden mit Fällen zu tun, wo nicht einwilligungsfähige Menschen aktive Sterbehilfe bekommen. Inwieweit ist die Durchsetzbarkeit von Recht und Gesetz in bezug auf solche gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt möglich?

OT: Ja, im Bereich der Sterbehilfe haben wir es mit Entwicklungen zu tun, die bedenklich sind. Zwar ist das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung neu ins Strafgesetzbuch eingeführt worden, aber auch da gibt es Ansätze von Gegenbewegungen. Die Rechtsprechung des dafür zuständigen XII. Senats des Bundesgerichtshofs zur Frage der Patientenverfügung, die ein Anknüpfungspunkt für so ein freiwilliges Aus-dem-Leben-scheiden ist, wo man allerdings gar nicht weiß, wie freiwillig das ist, ist in den letzten Jahren etwas strenger geworden. Wir befinden uns in einer Phase der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Im Augenblick ist die interessante Frage - und die kann man prognostisch nur sehr schwer beantworten -, wie weit dieses zivilisatorische Minimum, was wir in den letzten Jahren errungen haben und das seinen Ausdruck in genau diesen Antidiskriminierungsregelungen gefunden hat, stabil erkämpft ist, ob es einfach wieder zurückgedrängt werden kann oder ob es einen Punkt gibt, hinter dem nichts mehr zurückgeht, was so ein bißchen meine Hoffnung ist. Ich würde heute dafür aber meine Hand nicht ins Feuer legen.

Doch genau dieses Feld müssen wir in den nächsten Jahren hier ausmessen und ausloten. Geht es weiter voran? Der Bereich beispielsweise der schulischen Inklusion ist dafür ein ganz wichtiges Feld. Die Idee der Behindertenrechtskonvention ist ja eine inklusive Gesellschaft. Wir haben aber ein Schulsystem, das auf Exklusion und Segregation aufbaut. Das Gymnasium ist keine inklusive Schulform. Die Frage ist, schafft man es oder schafft man es nicht, sich gegen diese ganz konservativen traditionellen Ansätze zur Wehr zu setzen? Das wird für die Frage, wie es hier weitergeht mit Blick auf Menschen mit Behinderungen, ganz entscheidend sein, und das ist auch ein Indikator für andere Gruppen. Wir haben das Psychisch-Kranken-Gesetz gerade in Bayern in der Diskussion gehabt, das eine weitgehende Erfassung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen vorgesehen hat. Das konnte auch in Bayern nicht durchgesetzt werden, aber es war ein harter Kampf, allein, daß es auf die Tagesordnung kam. Doch wir stehen im Augenblick nicht an einem Punkt, wo man sagen kann, es geht eindeutig da lang oder es geht eindeutig hier lang. Wir stecken quasi mitten in den Auseinandersetzungen.

SB: Herr Tolmein, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


[1] https://www.tolmein.de/bioethik.html


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