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AFRIKA/1259: Tunesien - Islamische Partei bricht mit Islamisten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Januar 2014

Tunesien: Islamische Partei bricht mit Islamisten

von Sam Kimball



Tunis, 8. Januar (IPS) - In Ibn Khaldoun, einem Stadtteil von Metlaoui im südtunesischen Gouvernement Gafsa, haben sich Einwohner vor einem einstöckigen Haus versammelt, dem die Razzia im Oktober letzten Jahres noch immer anzusehen ist: Fenster und Türen fehlen, und zahlreiche Kleidungsstücke liegen verstreut im Hof herum.

Einst lebten hier fünf junge Salafisten. Sie wurden bei der Militäroperation festgenommen. Ihr einziges Vergehen sei gewesen, dass sie lange Bärte getragen und fünf Mal am Tag gebetet hätten, berichten ihre Nachbarn. "Die Behauptung, sei seien im Besitz von Waffen gewesen, hat sich als falsch herausgestellt. Später hieß es, sie hätten vorgehabt, welche zu bauen."

Einer der Nachbarn zeigt auf ein Zimmer. "Dort, auf dem nackten Boden, haben die Salafisten gebetet. Sie wurden von niemanden finanziert oder gefördert", versichert er. "Von ihnen ging keine Gefahr aus. Sie haben überhaupt nichts getan." Die übrigen der versammelten Männer beginnen zu murren. Die regierende Ennahdha-Partei sei schuld, sagen sie.

Im Oktober hatte der Anschlag bewaffneter Milizen in einer Tourismushochburg, die Zerstörung des Grabs eines ehemaligen Präsidenten und der gewaltsame Tod von sechs Soldaten der Nationalgarde zu Militäroperationen in den ländlichen Gebieten geführt. Die Kritiker werfen der politisch unter Druck stehenden Ennahdha-Partei vor, die Razzien als Feigenblatt zu benutzen, um sich unliebsamer Gegner zu entledigen.


Ennahdha sucht die Nähe zur Elite

Wie der politische Analyst Fabio Merone erklärt, sucht die einst geächtete Ennahdha die Nähe zur Elite des Landes. Deshalb sei sie nur allzu gern bereit, den Forderungen der Reichen und der Polizei nachzukommen, sich von islamistischen Extremisten zu distanzieren. "Damit jedoch greifen sie die konservative Basis an, die sie 2011 an die Macht brachte."

Nachdem sich im letzten Jahr eine kleine Extremistengruppe an der tunesischen Westgrenze erhoben hatte und zwei prominente linke Oppositionspolitiker ermordet wurden, konnte sich die Ennahdha vor Kritik kaum noch retten. Aus Protest gegen die Ermordung des Linkspolitikers Mohamed Brahmi im Juli verließen 60 Abgeordnete die Verfassunggebende Versammlung, die mit der Ausarbeitung der längst überfälligen Verfassung betraut ist. Dadurch kam der Übergangsprozess gänzlich zum Erliegen, was wiederum noch mehr Menschen gegen die Ennahdha einnahm, die derzeit die Übergangsregierung stellt.

In dem Versuch, die wohlhabenden Liberalen zu beschwichtigen, die sich die Regierung des ehemaligen Präsidenten Zine El Abdine Ben Ali zurückwünschen und sich von den Islamisten bedroht fühlen, hat sich die Ennahdha von ihrer einstigen salafistischen Basis schrittweise abgewandt. Im Mai sagte sie eine Konferenz der ultrakonservativen Gruppe 'Ansar Al Charia' ab, im August wurde die Vereinigung zur Terrorgruppe erklärt. Seitdem stehen auch normale tunesische Salafisten unter Generalverdacht.

Tunesische Familien ziehen aufgrund der willkürlichen Verhaftungen inzwischen Parallelen zwischen der Ennahdha und der Konstitutionellen Demokratischen Sammlung (RCD), die das nordafrikanische Land bis 2011 regierte. Selim Kharrat von der Nichtregierungsorganisation 'Al Bawsala' schließt jedoch nicht aus, dass durchaus Teile der Sicherheitskräfte hinter der Hexenjagd auf die Salafisten stehen könnten. Sie stünden unter dem Einfluss von Anhängern des alten Regimes, die sich vor dem Aufstieg der Salafisten fürchteten.

"Wir befinden uns in einer Vertrauenskrise, in der sich die Islamisten auf der einen und die Liberalen auf der anderen gegenüberstehen", erläutert Kharrat. "Wer immer auch die Strippen ziehen mag, der Krieg gegen den Terror wird auf dem Rücken der Landbevölkerung ausgetragen."


Willkürliche Verhaftungen

In einem Bauerndorf nahe Metlaoui haben sich die Bewohner vor einem Haus inmitten eines frisch gepflügten Feldes eingefunden. Auch dort war es im Oktober zu einer Razzia gekommen. Eine achtköpfige Familie wurde festgenommen, weil angeblich zwei junge Mitglieder Terrorakte geplant hatten. Aufgrund der mageren Beweislage kamen die Betroffenen jedoch schnell wieder auf freien Fuß. Doch mit dem Einsatz hat sich die Regierung, die als Komplizin der Sicherheitskräfte betrachtet wird, Feinde gemacht.

Den Pressesprecher der Ennahdha, Seif Eddine Belabed, lassen die Beschimpfungen kalt. "Es kommt sicher vor, dass von 100 Personen, die wir verhaften, fünf oder sechs unschuldig sind", meint er. "Das ist sicherlich bedauerlich. Doch können immerhin mehr als 90 schlechte Menschen dingfest gemacht werden. So funktionieren Razzien."

Auch Belabed ergreift die Gelegenheit, um sich öffentlich von den Salafisten - ob sie nun gewaltbereit sind oder nicht - zu distanzieren. "Der Eindruck, sie seien Teil der Ennahdha, ist falsch", betont er. "Wir unterscheiden uns methodisch und ideologisch voneinander." (Ende/IPS/kb/2014)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2014