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AFRIKA/700: Die unheilvollen Konsequenzen der Migrationskontrolle (Archipel)


Archipel Nr. 166 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - Dezember 2008

DOSSIER IMMIGRATION:
Der Hahn, der Adler, der Drache und die Gazelle

Von Nicholas Bell (EBF)


In seinem letzten Buch, «Der Hass des Westens», beschreibt Jean Ziegler (1) die Geschichte von über fünfhundert Jahren westlicher Herrschaft über unseren Planeten.

«Vier Systeme folgten eines auf das andere: Das erste war das der Eroberungen. Danach kam das des berühmt-berüchtigten 'Dreieckshandels'; die massive Deportation von Schwarzafrikanern nach Amerika, das infolge der Massaker an den Indianern entvölkert war. Das dritte war das der militärischen Besetzung, die den direkten Zugriff zu den bergbaulichen und landwirtschaftlichen Rohstoffen garantierte. Das vierte schließlich, das weitaus grauenvollste der Unterdrückungssysteme, ist die Herrschaft des globalisierten Kapitals über den ganzen Erdball.» (2)


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Am 25. November 2008 wird in Paris die «zweite Euro-Afrikanische Ministerkonferenz über Migration und Entwicklung» stattfinden. Der arrogante Beschluss der europäischen Staaten, den afrikanischen Ländern eine Politik aufzuzwingen, die den Interessen ihrer Völker völlig entgegengesetzt ist, kann nur als zusätzliches Element in der langen Geschichte der Unterdrückung gesehen werden.

Einige Gespräche während der zweiten regierungsunabhängigen Europa-Afrika-Konferenz zum Thema Migration, die am 17. Oktober 2008 in Montreuil, einem Vorort von Paris, stattfand (3), haben mir Einblick in die unheilvollen Konsequenzen dieser Migrationskontrolle gegeben, die nun auch in Afrika angewendet werden soll.

Hicham Rachidi sagt dazu: «Die Mauer, die gebaut wird, betrifft nicht nur unsere Länder und die Menschen, die in ihnen leben. Sie bedroht auch eine Reihe von Errungenschaften und kann die afrikanische Diaspora in Europa in eine prekäre Situation stürzen. Um z.B. von meinem Land zu reden: Es leben mehr als drei Millionen Marokkaner in Europa. Diese Entwicklung hat sich, seit die Rückführungsverordnung von der Europäischen Union angenommen wurde, die bis zu 18 Monate Haft von Papierlosen, einschließlich Minderjähriger, beinhaltet, enorm beschleunigt. Wenn man Mauern baut, um sich vor den Anderen zu schützen, schließt man sich in Wirklichkeit selber ein.»


Kontrollmaßnahmen

Hicham Rachidi ist Mitglied des Vereins GADEM (4), der in Folge der Ereignisse in Ceuta und Melilla im Oktober 2005 gegründet wurde, als mehrere Migranten beim Versuch, über die Gitterabsperrung zwischen Marokko und den spanischen Enklaven zu klettern, getötet wurden. Ihm zufolge bedeutet das «Programm für mehrjährige Zusammenarbeit», das am 25. November in Paris beschlossen wird, die Ausdehnung des Dispositivs, das seit einigen Jahren in Marokko ausprobiert wurde, auf Westafrika und den ganzen Maghreb.

Einige der geplanten Maßnahmen (5):

Die Gründung von «Zentren im Dienste des Kampfes gegen illegale Einwanderung», verstärkte Ausbildung und intensiveres Sammeln von Auskünften, Vernetzung dieser Tätigkeiten.

«Die integrierte Verwaltung der Grenzen», die Gründung und Ausstattung von Grenzposten in Afrika, wobei das Gewicht auf gemeinsame oder direkt nebeneinander liegende Grenzposten, mit der Beteiligung von Verbindungsagenten aus der Europäischen Union, gelegt wird.

«Die Förderung von Rücknahmen und freiwilliger Rückkehr.»
«Die Verbesserung der Datenverwaltung und der Kampf gegen die Fälschung von Dokumenten, mit Hilfe von Informatik und Biometrie sowie mobile Handhabung der Registrierung», das heißt, dass die Funktionäre bis in die hintersten Winkel des Landes vordringen werden, um Angaben über die Bevölkerung zu sammeln.

Eine massive Budgeterhöhung von Frontex für die Überwachung der Meereswege und das Abfangen von Migranten, die versuchen nach Europa zu kommen.

«Die Sensibilisierung der Bevölkerung der Herkunftsländer bezüglich der Gefahren von ungeregelter Immigration durch Erziehungs- und Schulprogramme, die berufliche Ausbildung und Aktionen in Form von audiovisueller Kommunikation.»

«Hilfsprogramme für die Rückkehr, in Verbindung mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Migrantenvereinigungen, nichtstaatlichen Organisationen und internationalen Partnern.»

Hicham fühlt sich auch persönlich betroffen: «In ein paar Jahren, wenn meine Tochter in die Schule kommt, wird man ihr nahelegen, auf keinen Fall von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen, da sie ihr Leben riskiert. Man wird ihr Bilder zeigen, um ihr Angst zu machen und um sie zu schockieren.»

Er zeigte mir seine neue Identitätskarte, die mit europäischen Unterstützungsgeldern finanziert wurde: «Das ist eine magnetische Karte mit meinen Fingerabdrücken, mit meinem Zivilstand, dem Namen meines Vaters, meines Großvaters, meiner Mutter und ihres Vaters, sowie meiner familiären Situation. Was sie noch darauf gesetzt haben, weiß ich nicht, das ist ein Abschnitt, den nur sie lesen können. So können sie meinen Lebenslauf und mein Leben verfolgen. Das ist eine Verletzung meines Privatlebens, und ich verstehe nicht, warum mein Staat diese Informationen an andere Staaten, insbesondere an die europäischen, weitergeben sollte.»


Selbstorganisation in Afrika?

Auch Alassane Dicko vom malischen Verein der Ausgewiesenen (AME) (6) fürchtet die Folgen der Ausweitung dieser Politik in seinem Land. Die EU und Mali haben am 6. Oktober 2008 in Bamako das CIGEM (7), das erste Zentrum für den Kampf gegen illegale Einwanderung in Afrika, eröffnet. Hinter schönen Worten über die Notwendigkeit, die Entwicklung und Beschäftigung in Mali zu fördern, verbirgt sich vor allem der Plan, Aktionen zur Verhinderung von Emigration durchzuführen. Dafür bietet die EU den nichtstaatlichen Organisationen Malis bedeutende Summen an. Gemeinsam sollen die Migrationsströme gelenkt werden. Das könnte jedoch zu Spaltung und zu Spannungen in der Zivilgesellschaft führen.

Schon seit mehreren Jahren brüsten sich die EU und einige ihrer Mitgliedstaaten mit ihren Entwicklungshilfeprogrammen für afrikanische Länder. Angeblich werden darin die wirtschaftlichen Projekte unterstützt, die die Menschen dazu bringen, im Land zu bleiben. In Wirklichkeit spielt sich etwas ganz anderes ab. Mignane Diouf, Koordinator des Senegalesischen Sozialforums: «Am Sozialforum haben wir viele junge Leute empfangen, die Projekte in der Landwirtschaft, der Geflügelzucht und dem Kleinhandel beginnen wollen. Vergebens haben wir versucht, diese Projekte im Rahmen der Abkommen mit Spanien finanzieren zu lassen. Es war nicht möglich. Viele der Jungen waren darüber sehr enttäuscht, und einige von ihnen überlegen sich, wieder nach Spanien zu gehen. Wenn Sie einmal durch die afrikanischen Länder reisten, würde Ihnen bewusst, dass sich Tausende von Jungen, die aus der Emigration nach Europa wieder in ihre Heimat gekommen sind, organisiert haben. Sie wollen arbeiten und suchen vergeblich nach einer Möglichkeit finanzieller Unterstützung für den Start. An welchen Heiligen sollen sie sich wenden? Für sie ist diese Situation eine Katastrophe, die Verzweiflung, Entmutigung und Angst in ihnen auslöst.»

Dies ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass, unter dem Deckmantel von Entwicklungshilfe, ultra-restriktive Politik in Sachen Einwanderung gemacht wird.

Kaum bekannt ist hingegen, dass die Gemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (CEDEAO), 1979 (8) eine Regelung zugunsten der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit zwischen ihren 15 Mitgliedsländern beschlossen hat. Diese Regelung ist ein Stachel im Plan der EU, der entfernt werden muss.

Die zwanghafte Idee von Europa, den afrikanischen Ländern Grenzkontrollen aufzuzwingen und Visumspflicht unter ihnen einzuführen, verletzt tausendjährige Traditionen. «Die Bevölkerung dieses Teils Afrikas ist durch Migrationsbewegungen entstanden. Ihr findet hier die gleichen Völker: Malier, Senegalesen, Sene-Gambier, Bissau-Guineer, Nigerianer, Burkinabe, ... Ihr findet da überall ungefähr die gleichen Ethnien, weil sich diese Völker während Jahrtausenden frei bewegt haben, als Viehzüchter, Fischer, oder Bauern. Das ist die Geschichte der Menschheit. Warum sollen die Grenzen geschlossen, Mauern errichtet und die Völker daran gehindert werden, sich frei zu bewegen? Das ist absurd in Hinblick auf die Geschichte der Menschheit. Der Mensch ist nicht ein Tier, das man irgendwo einsperren kann.»

Eine neue juristische Erfindung trat 2003 in Marokko zum ersten Mal in Erscheinung: Das «Verbrechen» illegaler Auswanderung. Danach auch in Tunesien, Algerien und bald, wenn die Länder weiterhin unter solchem Druck stehen, in Guinea, Senegal...


«Alternative Niger»

Dazu kommt noch die Militarisierung der Sahelzone. Dieses unheilvolle Vorgehen wurde in Montreuil von Ousmane Abderrahmane vom Verein «Alternative Niger» denunziert. Diese Militarisierung wird folgendermassen gerechtfertigt: Durch gewisse Netzwerke, die mit Al Kaïda in Verbindung stehen sollen, durch den Kampf gegen Waffen- und Drogenschmuggel und gegen die illegale Einwanderung. Was jedoch nicht so laut als Grund verkündet wird, ist die beabsichtigte Aneignung strategischer Rohstoffe, insbesondere von Uran in Niger und von Erdöl im Golf von Guinea.

Die USA sind stark daran beteiligt. Erstens mit der Pan-Sahel-Initiative, die 2002 in Angriff genommen wurde, um die Armee vor Ort zu stärken, und zweitens mit einer Trans-Sahara-Initiative, die dem Kampf gegen den Terrorismus dienen soll. Dabei führen neun nationale Armeen gemeinsame Manöver durch. Und schließlich drittens die Einrichtung von 'Africom', das von George W. Bush im Februar 2007 angekündigt und im Oktober gestartet wurde: der erste Kommandant der amerikanischen Armee, der speziell für Afrika eingesetzt wird.

«In der Sahara gibt es Migrationen seit dem achten Jahrhundert. Durch den Handel und Austausch von Waren kamen sesshafte Völker im Süden der Sahara mit Nomadenvölkern aus dem Norden in Kontakt. Die aus dem Norden brachten Salz und Datteln, die sie gegen Hirse, Getreide, Tee und anderes eintauschten. Durch die Militarisierung der Sahel-Zone wird diese Art des Handels stark beeinträchtigt. Es ist äußerst gefährlich, sich in der Zone zu bewegen. Man wird schnell für einen islamistischen Terroristen, einen Rebellen, einen Denunzianten der Armee, einen Drogen- oder Waffenhändler gehalten...und wenn dir das alles nicht passiert, dann trittst du wahrscheinlich auf eine Mine.»

Ein Zitat von Jean Ziegler: «Aimé Césaire hat geschrieben: 'Ich lebe in langem Schweigen, ich lebe in einer tiefen Wunde.' Dieses Schweigen ist heute beendet, die Wunde platzt wieder auf. Die Völker im Süden fordern Reue und Wiedergutmachung. Wir leben in einer Zeit, in der die Erinnerung lebendig wird.»

In Afrika kommt Widerstand auf. Die Beteiligung der Afrikaner in Montreuil war beachtlich, und das nächste Afrikanische Sozialforum findet vom 25. bis zum 28. November in Niger statt. Von den Hauptstädten der verschiedenen Mitgliedsstaaten der CEDEAO werden Karawanen in Richtung Niamey losziehen, um das Recht auf Bewegungsfreiheit zu demonstrieren. Zudem soll die Öffentlichkeit und insbesondere die Bevölkerung der durchquerten Dörfer vor den Projekten der EU und ihren eigenen Ländern gewarnt werden.

Bereits im Oktober ist eine Karawane aus dem Kongo durch viele Orte nach Marokko gezogen, um an der Gedenkveranstaltung des dritten Jahrestags der blutigen Ereignisse in Ceuta und Melilla teilzunehmen.

«Sicher ist, dass sich ein Land wie Niger in einer misslichen Lage befindet, weil es von Tieren bedroht wird, dessen Grausamkeit nicht erst bewiesen werden muss: vom französischen Hahn, dem chinesischen Drachen und vom US-amerikanischen Adler. Man kann heute aber zwei qualitativ wichtige Veränderungen bemerken: Einerseits ist den Regierenden die Bedeutung Nigers aufgrund der Uranvorkommen bewusst geworden, andererseits ist eine Sozialbewegung im Entstehen, die ihre Fähigkeit beweist, die sehr komplexe Situation zu analysieren. Sie schafft es, auf lokaler Ebene und landesweit die Bevölkerung zu mobilisieren und Einfluss auf die Regierung zu nehmen. Vielleicht gelingt es der nigerianischen Gazelle doch, sich längerfristig diesem bösen Spiel geschickt zu entziehen, und wieder friedlich grasend, geschützt vor den Drachen und Adlern durch den Sahel zu galoppieren - schneller als alle...» (9)


Anmerkungen:

(1) Schweizer Soziologe und Schriftsteller, Berichterstatter der UNO in Ernährungsfragen von 2001 bis 2008

(2) Auszüge aus einem Artikel in Libération. 8.-9.11.2008

(3) Über 1000 Personen aus 36 Ländern haben an dieser Konferenz teilgenommen, um die Politik der EU anzufechten und neue Ansätze in Migrationsfragen zu finden. Die erste Konferenz fand im Juli 2006 in Rabat (Marokko) statt, um gegen die offizielle Konferenz, die gleichzeitig in dieser Stadt abgehalten wurde, zu protestieren

(4) Antirassistische Gruppe für die Betreuung und die Verteidigung von AusländerInnen und MigrantInnen, Rabat. Kontakt: gademm(at)gmail.com

(5) Die Zitate stammen aus einem Dokument des GADEM über das Mehrjährige Kooperationsprogramm 2009-2011

(6) AME wurde 1996 im Anschluss an massive Ausweisungen von Maliern aus verschiedenen afrikanischen und europäischen Ländern gegründet. Es ist die einzige Organisation dieser Art in Afrika, sie wird ausschließlich von ehemaligen Ausgewiesenen geführt. Eine Anlaufstelle befindet sich am Flughafen von Bamako und eine andere in Kidal an der algerischen Grenze. AME betreut und unterstützt Ausgewiesene, welche völlig unbemittelt per Flugzeug oder auf dem Landweg ankommen und oft ihr Land nach einer langen Abwesenheit nicht mehr kennen

(7) Das Zentrum für Information und Verwaltung der Migrationen wird von Europäischen Entwicklungsfonds mit 10 Millionen Euro während drei Jahren finanziert

(8) Mehrere Jahre vor der Unterzeichnung der von der EU so hoch gelobten Schengener Abkommen

(9) Auszug aus dem Gespräch mit Usman Abderrahman mit dem südfranzösischen Regionalsender Radio Zinzine. Die anderen Auszüge stammen ebenfalls aus Interviews. Die Sendung in französischer Sprache (Des ponts, pas des murs!) kann bei Radio Zinzine, F-04300 Limans bestellt werden (10 Euros, inklusive Versandkosten)


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 166, Dezember 2008, S. 1-3
Verleger, Herausgeber, Hersteller, Redaktion: Europäisches Bürgerforum,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2009