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ASIEN/555: Indiens Blick auf den "globalen Amerikaner" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008

Indiens Blick auf den "globalen Amerikaner"

Von Martin Kämpchen


Fasziniert schaute Indien auf den amerikanischen Wahlkampf. Seit Januar verging kein Tag, an dem nicht in den nationalen Tageszeitungen und in den Fernsehnachrichten wenigstens eine Neuigkeit über Clinton, Obama oder McCain veröffentlicht wurde. In der Presse waren es meist Agenturberichte oder Übernahmen von grossen amerikanischen und britischen Zeitungen, denn einen eigenen Korrespondenten in Washington können sich nur wenige indische Zeitungen leisten. Aber dazu kamen ausführliche, meinungsstarke Editorials und Stimmungsberichte indischer Journalisten. Woher stammt diese Faszination?


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Indien nennt sich zwar mit Stolz die "größte Demokratie der Welt", doch ist sich jeder gebildete Inder - oft uneingestanden - der Defizite seiner Demokratie bewusst. Alle fünf Jahre findet zwar eine Parlamentswahl statt, die wegen ihres schieren Ausmaßes und ihres enormen organisatorischen Aufwands höchst beeindruckend ist. Doch besteht wenig innerparteiliche Demokratie und Auseinandersetzung. In Amerika dagegen wird innerparteiliche Demokratie monatelang vor den Augen der Welt vorgeführt. Die Kandidaten wagen es, sich ihre Schwächen und Fehler vorzuhalten. Niemand verbietet ihnen den Mund aus Gründen der "Parteidisziplin". Es geht mehr um den besten Kandidaten und um die Lösung von Problemen als um andere strategische Erwägungen. Die indische Öffentlichkeit weiß, dass indische Kandidaten nicht nur nach ihren Meriten ausgewählt werden. Eine wesentliche Rolle spielen ihre Kaste und Unterkaste, ihre Muttersprache, Familie und Religion. Das Wahlvolk möchte von einem der Ihren vertreten werden. Deshalb sind Mehrheiten und Minderheiten in einem Wahldistrikt von ausschlaggebender Bedeutung. In den Vereinigten Staaten dagegen schafft es ein Afro-Amerikaner, dessen Familie keinerlei Machtstellung besitzt, in die erste Reihe amerikanischer Politiker vorzudringen. Er repräsentiert keineswegs nur die afro-amerikanische Minderheit, sondern er zeigt sich dazu fähig, das gesamte Volk zu repräsentieren.

Dass eine Frau die Nation leitet, wäre im Kontext des indischen Subkontinents keine Neuigkeit gewesen. In Indien war es Indira Gandhi, in Pakistan Benazir Bhutto, die das Land regiert haben. Ebenso waren in Bangladesch und Sri Lanka früher Frauen an der Macht. Hillary Clinton als Präsidentin war darum keine ungewöhnliche Vorstellung, zumal sie - wie sämtliche Regentinnen im indischen Subkontinent - zunächst im Schatten eines Mannes gestanden hat. Indira Gandhi wie auch Benazir Bhutto waren durch ihre Väter in Machtpositionen aufgestiegen.

Sympathisch wirkt auf indische Beobachter die Betonung der Familie. Die Kinder und Ehefrauen der Wahlkämpfer zeigen sich, kämpfen mit und spielen zusammen glückliche Familie. Das so familien-freundliche, Familienwerte lobpreisende Indien wagt es jedoch selten, mit Ehepartner und Kindern in den Wahlkampf zu ziehen. Familie kann so viel Öffentlichkeit offenbar nicht ertragen, es sei denn, ein Familienmitglied soll auch zum Politiker herangezogen werden, wie Rahul Gandhi, der Sohn von Sonia Gandhi, der Präsidentin der Congress-Partei. Viele der bedeutendsten indischen Politiker sind sogar alleinstehend. Der letzte Premierminister, Atal Behari Vajpayee, wie der letzte Präsident, Abdul Kalam, waren Junggesellen. Sonia Gandhi ist verwitwet. Eine Reihe mächtiger Regionalpolitiker haben nie geheiratet. Dem Zölibat hängt auch bei politischen Personen eine guruhafte Aura von Macht und Herrschaftsanspruch an.

Barack Obama hatte die indische Öffentlichkeit für sich gewonnen, als er Ende März seine jetzt schon als historisch geltende Rede zum amerikanischen Rassenkonflikt hielt. Seine Offenheit und Differenziertheit, sein Mut, Risiken einzugehen, wurde in zahlreichen Editorials bewundert. So schrieb Barkha Dutt wehmütig in der Hindustan Times: "Wann werden wir je unseren eigenen Obama bekommen? Was Rasse für die Amerikaner ist, ist Religion und Kaste für Indien. Doch der politische Diskurs in unserem Land ist immer in Polaritäten gedrängt worden. Wir waren entweder religionsbewusst oder säkular, liberal oder konservativ, kapitalistisch oder kommunistisch, kastenstolz oder egalitär. Unsere Antworten auf politische Debatten über Kaste und Religion sind entweder zu platt und politisch korrekt oder schrecklich vorurteilsvoll und bigott."

In unseren vom Fernsehen dominierten Gesellschaften, der amerikanischen wie auch der indisch-urbanen, sind Qualitäten wie Eloquenz, Charisma, Charme unwägbar wichtige Instrumente für einen Wahlsieg. Obamas Hautfarbe ist für Fernsehzuschauer in den Ländern der Dritten Welt das unübersehbare Signal, dass seine Lebensgeschichte Kenia und Indonesien, also Afrika und Asien, mit einbezieht, dass ein "globaler Amerikaner" Präsident wird.


Martin Kämpchen arbeitet als freier Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Journalist in Indien.
M.Kaempchen@gmx.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008, S. 18-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2009