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ASIEN/562: Pakistan - Wegmarken einer turbulenten Geschichte (inamo)


inamo Heft 56 - Berichte & Analysen - Winter 2008
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Wegmarken einer turbulenten Geschichte

Von Jorge Scholz


Lässt man die Geschichte Südasiens seit dem Untergang des Britischen Kolonialreichs vor 61 Jahren Revue passieren, so scheint es beinahe, als würde sich auf dem Subkontinent von Epoche zu Epoche, von Staat zu Staat eine Art Spaltungs-Virus verbreiten: 1947 die Teilung Indiens, 1971 die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan - und irgendwann die erneute Teilung Pakistans? Tatsächlich bedrohen auch heute erhebliche Fliehkräfte, die von den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in den paschtunischen Stammesgebieten entlang der afghanischen Grenze, den separatistischen Tendenzen in der Provinz Balutschistan, der ungelösten Kaschmirfrage und der anhaltenden Terrorwelle militanter Islamisten ausgehen, die Existenz der Islamischen Republik. Sucht man nach den Gründen dieser Instabilität stößt man rasch auf die Traumata der pakistanischen Gründungsgeschichte, die eine schwere Hypothek darstellen und dieses äußerst fragile staatliche Gebilde bis in die Gegenwart einer permanenten Zerreißprobe aussetzen.


Wenn man die historische Bürde Pakistans etwas genauer betrachtet, lassen sich vier entscheidende Belastungsfaktoren unterscheiden: das Trauma des opferreichen Bevölkerungsaustauschs von 1947, die Territorialstreitigkeiten mit Indien um Kaschmir, die Nachteile der eigenen geographischen Lage und die in die Wiege gelegten weiteren Sollbruchstellen.


Unabhängigkeit und Teilung: das Trauma von 1947

1940 verabschiedeten der spätere pakistanische Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah und seine Muslim League eine Pakistan-Resolution, die auf der Basis der "Zwei-Nationen-Theorie" die Gründung eines separaten Staates für die indischen Muslime in den mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebieten im Nordwesten und im Nordosten Britisch-Indiens vorsah. Zu diesem Zeitpunkt hatte Nehrus Indian National Congress (INC) im Ringen um die Struktur des späteren unabhängigen Indiens endgültig das von den Muslimen favorisierte föderative Staatsmodell zurückgewiesen, nach dem sich die mehrheitlich muslimischen Provinzen hätten selbst verwalten können. Und der Gegenentwurf einer starken Zentralregierung mit nur marginalen Kompetenzen für die Provinzen galt bereits als offizielle Parteilinie des INC. Dies weckte bei den Muslimen die Befürchtung, dass die Hindu-Nationalisten nach dem Abzug der Briten mit Hilfe der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit die gesamte Macht an sich reißen könnten. So wurden endgültig die Weichen für eine Entwicklung gestellt, die zur Spaltung der Einheit Indiens und zur Gründung Pakistans führen sollte.

Die Briten akzeptierten die Resolution der Muslim League von 1940 als Grundlage für die Grenzziehung von 1947. Der letzte britische Vizekönig Lord Mountbatten, Nehru und Jinnah hatten sich im Vorfeld der Unabhängigkeit darauf geeinigt, die Grenzziehung anhand vorliegender demographischer Statistiken aus dem Jahr 1941 durchzuführen.

Alle mehrheitlich von Muslimen bewohnten Distrikte Britisch-Indiens sollten dem pakistanischen Territorium zugeschlagen werden, wenn sie eine direkte räumliche Verbindung zu den muslimischen Zentren im Nordwesten und im Nordosten des Subkontinents besaßen. Mit der Umsetzung wurde ein britischer Richter namens Sir Cyril Radcliffe betraut, der eigens aus London anreiste und sich zum ersten Mal in Indien aufhielt. Man gab ihm 35 Tage Zeit, auf der Basis der ihm vorgelegten Statistiken und Kartenmaterialien die völkerrechtlich verbindliche Grenze zwischen Indien und Pakistan zu fixieren.

Radcliffe zeichnete die Karte in völliger Unkenntnis der Örtlichkeiten und ohne betroffene Bevölkerungsgruppen zu befragen. Diese wurde erst drei Tage nach der eigentlichen Unabhängigkeit beider Länder bekannt gegeben. Da sie dennoch in etlichen Fällen mitten durch zusammenhängende Siedlungsgebiete der einen oder anderen Religionsgemeinschaft verlief, eskalierten erste Übergriffe zwischen den Religionsgruppen rasch zu furchtbaren Massakern und Pogromen, an denen Muslime, Hindus und Sikhs beteiligt waren. Ganze Flüchtlingszüge und die Bewohner dutzender Dörfer wurden vor allem entlang der indisch-pakistanischen Grenze niedergemetzelt. Die Zahl der Toten lag nach wenigen Tagen nach sehr vorsichtigen Schätzungen bei 250.000 Menschen.

Die Zahl der Flüchtlinge wird in der Literatur mit zwischen zwölf und 20 Millionen angegeben. Damit war der Exodus im Gefolge der indisch-pakistanischen Teilung eines der schrecklichsten Ereignisse dieser Art im 20. Jahrhundert.


Wechselseitige Reaktionsketten

Der entstandene Riss zwischen den Religionsgemeinschaften war so tief und radikal, dass es auch heute noch auf lokaler und regionaler Ebene immer wieder zu Übergriffen bis hin zu Pogromen an Muslimen kommt - besonders in Indien, wo noch weit über 100 Millionen Muslime leben. Aber auch in Pakistan kann die kleine Hindu-Minderheit im Falle von Ausschreitungen gegenüber Muslimen in Indien jederzeit ins Fadenkreuz von Racheakten geraten. Diese wechselseitigen Reaktionsketten, die in Windeseile über Landesgrenzen hinweg eine kaum noch zu steuernde Gewaltspirale auslösen können, sind auch für die bilateralen Beziehungen Indiens und Pakistans eine schwere Belastung. Radikale Gruppen - und bisweilen auch die Geheimdienste beider Länder - nutzen diese empfindliche Wunde immer wieder, um über Anschläge oder durch gezielt geschürte Übergriffe auf religiöse Minderheiten die Außenpolitik des eigenen Landes oder auch die der anderen Seite zu beeinflussen oder zu torpedieren. Die diplomatischen Turbulenzen im Gefolge der Terroranschläge in Mumbai vom 27. November 2008 gehörten in diese Konfliktkategorie. Umgekehrt können die Regierungen ein betont konfrontatives Auftreten gegenüber dem Nachbar auch nutzen, um innenpolitische Zwecke zu verfolgen, beispielsweise um bei Wahlen die eigene nationalistisch gesonnene Wählerklientel zu überzeugen. Die bestehenden Feindbilder verhindern auch die Weiterentwicklung der Südasiatischen Staatengemeinschaft SAARC, die bei ihrer Gründung einmal als eine Art Europäische Union Südasiens gedacht war.


Ost- und Westpakistan...

Die Teilungskriterien von 1947 führten dazu, dass Pakistan bei seiner Gründung aus zwei völlig verschiedenen Landesteilen (Ost- und Westpakistan) bestand, die mehr als 1.500 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt lagen. Indien verweigerte von Beginn an die Überflugrechte, sodass die Verbindung nur auf dem Seeweg und auf dem Luftweg via Sri Lanka gehalten werden konnte. Außerdem brachte es die Grenzziehung mit sich, dass die eigentlich für ein einheitliches Staatsgebilde geschaffene Infrastruktur durch die neuen Grenzen durchtrennt wurde. Dies betraf die Straßen- und Eisenbahnnetze ebenso wie die Abtrennung landwirtschaftlicher Anbauflächen für Baumwolle und Jute, die nun zu Pakistan gehörten, und den dazugehörigen weiterverarbeitenden Betrieben, die Indien zugeschlagen wurden. Ähnliches galt für das überlebenswichtige Bewässerungssystem im Punjab. Die Bewässerungsflächen gehörten zu Pakistan, die dazugehörigen Stauwerke und Verteilungsanlagen zu Indien. Die hohen Kosten für eine technische Lösung konnten nur durch Investitionen ausländischer Geldgeber getragen werden, was wiederum eine Auslandsverschuldung brachte, die den Finanzhaushalt bis heute belastet.


... die problematischen Außengrenzen zu Iran, Afghanistan und China  ...

In der Folge der historischen Entwicklung war Pakistan nach der Islamischen Revolution im Iran und nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan über Jahrzehnte hinweg faktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Die klassische und kulturell so wichtige Verbindung zu den mittelasiatischen Ländern war ebenfalls durch die Konfliktkonstellation des Kalten Krieges unterbrochen, was im Prinzip durch den Bürgerkrieg in Afghanistan noch bis heute gilt. Es besteht eine umstrittene Kolonialgrenze, die ursprünglich afghanisches Territorium heute Pakistan zuteilt.

Das damals zwischen Briten und Afghanen verhandelte Grenzregime wird von der aktuellen Karzai-Regierung in Kabul, die sofort nach ihrem Antritt die Ansprüche auf die betreffende pakistanische Provinz NWFP geltend machte, in Frage gestellt. Seitdem schwelt also auch zwischen Pakistan und Afghanistan ein Territorialkonflikt. Die Grenze zu China wiederum ist vor allem aus topographischen Gründen eine nur schwer zu überbrückende Barriere. Die einzige asphaltierte Straße, der 1986 fertiggestellte Karakorum Highway, ist wegen der monatelangen Wintersperre für einen regen Handelsaustausch nicht geeignet.


... und der "Binnennationalismus"

Zu den erwähnten Sollbruchstellen, die Pakistan in die Wiege gelegt wurden, gehören insbesondere die auf koloniale Strukturen zurückgehenden Grenzziehungen zwischen den Provinzen sowie die diversen Gebiete mit einem politischen Sonderstatus. Da die Grenzen zumindest annähernd ethnischen Kriterien gerecht werden, entsteht auf die Dauer innerhalb der Provinzen eine Art "Binnennationalismus". Streitigkeiten um Zuständigkeitsfragen und jeder Versuch der Zentralregierung, ihren Einfluss zu vergrößern, schüren Konflikte und nähren separatistische Strömungen. In den Northern Areas, die über eine Art semi-koloniale Verwaltungsstruktur verfügen, gären Ressentiments gegen ein Zuviel an zentraler Verwaltung.


Die Abspaltung Bangladeschs 1971 und die Folgen

Die zweite Wegmarke der pakistanischen Geschichte ist ein Ereignis, das schon bei der Staatsgründung als potentielle Sollbruchstelle erkennbar war. Die Schwierigkeiten zwei so verschiedene Landesteile wie das damalige Ost- und Westpakistan auf Dauer über eine so große Entfernung hinweg zusammenhalten zu können, waren absehbar. Im Grunde bot nur der muslimische Glaube eine schwache Basis für das Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat, was allerdings durch voneinander abweichende religiöse Traditionslinien in den beiden Landesteilen beeinträchtigt wurde. Zum entscheidenden Stolperstein wurde der Sprachenstreit. Das Dekret Jinnahs, das auf der arabischen Schriftsprache beruhende Urdu zur alleinigen Amts- und Nationalsprache zu erklären, provozierte die banglasprachige Bevölkerung, die eine eigene Schriftsprache besitzt. Innerhalb weniger Jahre kam es zur offenen Konfrontation. Hinzu kam, dass die Hauptstadt, die Armee und die Verwaltung klar der westpakistanischen Landeshälfte zugeordnet waren. Immerhin gelang es, für die 1955 verabschiedete Verfassung durchzusetzen, dass nach einer Übergangsfrist von 20 Jahren Bangla zumindest versuchsweise gleichberechtigt an die Seite von Urdu rücken sollte. Ayub Khans Militärputsch von 1958 bereitete jedoch den Autonomieträumen der Awami League (Volksliga) ein jähes Ende.

Der in langen Jahren der Militärdiktatur aufgestaute Ärger über die Bevormundung durch die westpakistanische Administration und Armee sowie das Versagen der westpakistanischen Behörden während einer furchtbaren Flutkatastrophe mit mehreren 100.000 Opfern brach sich bei den demokratischen Wahlen von 1970 Bahn, die der Führer der League, Mujibur Rahman, mit einem Erdrutschsieg für sich entscheiden konnte. Er gewann fast alle Mandate in Ostpakistan, was ihm bezogen auf ganz Pakistan mit einer absoluten Mehrheit die Voraussetzung für eine Übernahme der Regierungsgeschäfte schuf. Dies wurde ihm verweigert.

Im März 1971 proklamierte deshalb die Awami League die Unabhängigkeit und gab damit das Signal zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der bengalischen Zivilbevölkerung und der (west-)pakistanischen Armee. Indische Armeeeinheiten intervenierten Anfang Dezember zugunsten der bengalischen Aufständischen und brachen damit den dritten und vorerst letzten indisch-pakistanischen Krieg vom Zaun, der schon wenige Wochen später noch im Dezember 1971 mit der Kapitulation Pakistans und dem Verlust der östlichen Landeshälfte endete. (Siehe auch Seite 8-10)


Zwischen Demokratie und Diktatur: von Bhutto zu Zia, von Bhutto zu Musharraf

Die dritte Wegmarke betrifft ein Phänomen, das praktisch die gesamte pakistanische Geschichte durchzieht: der sich in zyklischen Schleifen durch die Dekaden ziehende Wechsel von demokratischen Phasen und Perioden diktatorischer Regimes. Welchen Gesetzmäßigkeiten unterliegt dieser Mechanismus? Und wie ist es um das Verhältnis zwischen diesen beiden Regierungsformen und deren wichtigsten Repräsentanten bestellt? Gibt es nicht auch über allen Wandel hinweg Kontinuitäten, die die historische Genese Pakistans wie ein roter Faden durchziehen?

Wir betrachten an dieser Stelle einen Zeitraum von nicht ganz 40 Jahren: vom Beginn der Ära Zulfikar Ali Bhuttos, des Vaters von Benazir Bhutto, bis hin zu Präsident Pervez Musharraf, der sich 1999 als damaliger Generalstabschef an die Macht putschte und nach den Wahlen vom 18. Februar 2008 zum Rücktritt gezwungen wurde. Wenn man zunächst einmal die Beständigkeit und Verweildauer der von der einen oder anderen Regierungsform gestellten Regierungen betrachtet, fällt auf, dass die demokratisch legitimierten Regierungen grundsätzlich deutlich kürzer im Amt blieben als diktatorische Regimes. Den unangefochtenen Rekord in der Wertung der demokratischen Politiker hält Zulfikar Ali Bhutto mit sechs Jahren an der Macht, gefolgt von Benazir Bhutto und Nawaz Sharif, die von 1988 bis 1999 beide jeweils zweimal rund zweieinhalb Jahre regieren durften. Die Zwischenzeiten verteilen sich auf diverse Übergangsregierungen nach Amtsenthebungen und können hier vernachlässigt werden. Eingerahmt werden diese turbulenten elf Jahre demokratischer Regierungen von der Militärdiktatur unter Zia-ul Haq von 1977 bis 1988 sowie von Musharraf von 1999 bis 2008. Zia-ul Haq behauptete sich also genauso lange an der Macht, wie vier demokratische Regierungen zusammengenommen. Die Diktatur Musharrafs brachte es auf neun Amtsjahre.

Zulfikar Ali Bhutto ist die Ausnahme von dieser Regel. Die Gründe: Bhutto wurde nicht wirklich in sein Amt gewählt, sondern als früherer Außenminister einer Militärregierung von der Armeeführung eingesetzt, und zwar unter Kriegsrechtsbedingungen. Zur Legitimation zog man das Ergebnis der Parlamentswahlen von 1970 heran. Anschließend regierte Bhutto eineinhalb Jahre per Ausnahmezustand, bis es 1973 zur Verabschiedung einer wirklichen Verfassung kam. Diese neue Verfassung setzte Bhutto jedoch sofort per erneut verhängtem Ausnahmezustand außer Kraft und erreichte so das Jahr 1977, in dem die laut Verfassung fälligen Wahlen stattfanden. Diese ließ er zu seinen Gunsten massiv fälschen, was prompt zu blutigen Unruhen in mehreren Landesteilen führte und Zia-ul Haq, dem kurz zuvor von Bhutto selbst ernannten Generalstabschef, den Vorwand lieferte, selbst nach der Macht zu greifen.

Zulfikar Ali Bhutto ist das Musterbeispiel für einen zivilen Politiker, der sich von den Methoden her kaum von einem Diktator wie Musharraf unterscheidet (Ähnliches kann man auch über Nawaz Sharifs zweite Amtszeit von 1997 bis 1999 sagen). Allerdings gehört er zu den Wenigen in der pakistanischen Geschichte, die sich an ein so wichtiges, aber auch hochbrisantes Thema wie Landreformen wagten - und dies, obwohl er selbst zur betroffenen Klasse der Feudalherren gehörte. Dafür griff auch Bhutto ähnlich wie Musharraf ausgesprochen hart gegenüber den Paschtunen in der NWFP und den Balutschen in Balutschistan durch und ließ viele seiner politischen Gegner im Gefängnis verschwinden.

In der pakistanischen Geschichte hat es noch nie einen Regierungswechsel durch eine Wahl gegeben. Der Erdrutschsieg der oppositionellen PPP bei den Wahlen vom 18. Februar 2008 ist hier die große historische Ausnahme. Bis dahin wurden sämtliche demokratischen Regierungschefs entweder von Präsidenten oder auch durch den jeweiligen Generalstabschef abgesetzt. Sowohl im Falle Zulfikar Ali Bhuttos als auch im Falle Nawaz Sharifs wurde der Putsch von den Generälen organisiert, die die Regierungschefs selbst in dieses Amt befördert hatten. Der jeweilige Generalstabschef ist also immer auch ein potentieller Kandidat für die Position des Staatschefs.

Bei den bisherigen Wechseln von der Diktatur zur Demokratie dankten die Militärmachthaber wiederum niemals freiwillig ab (auch hier bilden die Umstände des Rücktritts Musharrafs die historische Ausnahme von der Regel). Entweder waren es von den Militärs verantwortete nationale Katastrophen (wie bei Yahya Khan nach einem verlorenen Krieg und der Spaltung des Landes) oder der eigene - gewaltsame - Tod (wie bei Zia-ul Haq), die den Abschied von der Macht erzwangen. Im Falle Musharrafs kündigte eine neue Armeeführung dem Regimechef die politische Gefolgschaft auf und forcierte so dessen Rücktritt.

Schaut man sich die Gestaltungsfreiheiten der mit breiten Mehrheiten legitimierten Regierungen näher an (Benazir Bhutto und Nawaz Sharif), so fällt auf, dass sie während ihrer Amtszeiten eng von Armeekreisen nahestehenden Netzwerken überwacht wurden. Benazir Bhutto war davon insbesondere während ihrer ersten Amtszeit betroffen. Ihr Spielraum in der Kaschmir- und auch Afghanistanpolitik tendierte fast gegen Null. Ein noch von Zia-ul Haq handverlesener Präsident, Ghulam Ishaq Khan, agierte als verlängerter Arm der Militärführung und sorgte mit der permanenten Drohung der laut Verfassung möglichen Amtsenthebung für die erwünschte Zurückhaltung Bhuttos.

Interessant ist auch die zweite Amtszeit von Nawaz Sharif, der 1997 mit einer Zweidrittel-Mehrheit ein fulminantes Comeback feiern konnte. Diese Gelegenheit nutzte er sofort, um in einer seiner ersten Amtshandlungen wesentliche Verfassungsänderungen durchzusetzen. Im Kern stellte er die ursprüngliche Verfassung von 1973 wieder her, die zwischenzeitlich von Zia-ul Haq mit einer Reihe von Dekreten in wesentlichen Punkten verändert worden war. Dies führte dazu, dass statt des Präsidenten wieder der Premierminister sämtliche Leitlinienkompetenzen erhielt.

Vor allem verlor der Präsident das Recht, den Premierminister und die Regierung entlassen zu können, was bis dahin wie ein Damoklesschwert über den Köpfen pakistanischer Premiers schwebte (und seit dem Machtantritt Musharrafs wieder möglich ist). Nach vollzogenem Husarenstück, das Sharif ungeahnte Gestaltungsfreiräume eröffnete, folgte die Geschichte der leichtfertigen Vergabe der vielleicht größten Chance, die die Demokratie in Pakistan je hatte: Anstatt seine Vollmachten für die seit Langem überfälligen Reformen zu nutzen, steigerte sich Sharif in einen Machtrausch und versuchte eine Säule der Gewaltenteilung nach der anderen zu demontieren - vom Parlament über den Senat bis hin zum Verfassungsgericht. Als er es dann aber wagte, seinen Armeechef Musharraf zu entlassen, was ihm laut Verfassung zustand, reagierte dieser schnell und drehte per Machtübernahme den Spieß um. Das Experiment Demokratie war wieder einmal für längere Zeit beendet.

Die Möglichkeit, über eine Zweidrittel-Mehrheit die Verfassung zu verändern, ist übrigens immer eine Chance für demokratische Parteien, in einem semidemokratischen Plenum wie in den Jahren von 2002 bis 2008 die vollen parlamentarischen Freiheiten wieder herzustellen. Diese potentielle Gefahr ist auch der Grund, warum Musharraf sowohl bei den Wahlen 2002 als auch im Vorfeld der Wahlen 2008 massiv manipulierte, um einen solchen für ihn und die Armee höchst ungemütlichen "demokratischen Betriebsunfall" zu verhindern.

Sämtliche Regierungen von Zulfikar Ali Bhutto über Zia-ul Haq, Benazir Bhutto, Nawaz Sharif bis hin zu Pervez Musharraf haben in ihren Amtszeiten in der einen oder anderen Form mit islamistischen Parteien und Bewegungen kooperiert und auch Gesetze auf den Weg gebracht, die einer weiteren Islamisierung der Gesellschaft Vorschub leisten. Besonders Zia-ul Haq versuchte die mangelnde Legitimität seines Regimes mit einer akzentuierten Islamisierungspolitik zu unterfüttern. Aber auch der selbsternannte Sozialist Zulfikar Ali Bhutto stempelte die Sekte der Ahmadis per Gesetz zu Nicht-Muslimen und verbot ihnen den Gebrauch muslimischer Rituale. Damit folgte er einer lang gehegten Forderung der Muslime, die die Ahmadis als Ketzer verurteilen. Der Hintergrund: Der Stifter der Sekte, Ahmad, wird von den Ahmadis als Prophet verehrt. Für "echte" Muslime ist dies Blasphemie. Durch das Gesetz verloren die Ahmadis einen Teil ihrer Bürgerrechte wie das Wahlrecht; außerdem zählt ihre Aussage vor Gericht nur die Hälfte. In der Folge gab es zahlreiche Blasphemieprozesse gegen Ahmadis, aber auch andere religiöse Minderheiten.

Nawaz Sharif tat sich gleich mit mehreren wichtigen Gesetzesinitiativen hervor, darunter auch die Verabschiedung des Scharia-Gesetzes von 1991. Benazir Bhutto unterließ zwar Initiativen zu einer weiteren Islamisierung des Landes, aber sie ging auch nicht auf von Seiten der Zivilgesellschaft herangetragene Forderungen ein, ihre Amtszeit für eine Verbesserung der rechtlichen Situation von Frauen und religiösen Minderheiten zu benutzen. Dies hätte sofort die Islamisten auf die Barrikaden getrieben und vermutlich dazu geführt, dass sich Bhutto noch eher von der Macht hätte verabschieden müssen.

In der Frage der Islamisierung Pakistans gibt es also zwischen den einzelnen Regierungen und Regierungsformen zwar deutliche graduelle Unterschiede, aber niemand stellt den offenbar allgemein akzeptierten Grundkonsens zur Disposition.

Jorge Scholz, Fachjournalist.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 56, Winter 2008

Gastkommentar:
- Islam-Bashing: Nur eine Mode oder Mobilisierung von rechts?

Pakistan
Wegmarken einer turbulenten Geschichte
Teilung des Landes: die Gründung von Bangladesch
Hüter und Herr der Nation: die Armee
Kann Asif Zadari Pakistan retten?
Die Richterbewegung in Pakistan -
Wieviel gewonnen oder wieviel verloren
Die Außen- und Atompolitik Pakistans
Aufstieg und Fall einer Dynastie: Die Bhutt-Saga
Ein Kampf an vielen Fronten: Die politische Partizipation der Frauen
Der Kaschmir-Konflikt
Reden oder bombardieren? -
Die Taliban-Frage ist ein Regionalproblem
Pakistan in Berlin

USA-Iran
- Am 20. März 2008 haben die USA dem Iran den Krieg erklärt

Algerien
- Die Nationale Befreiungsfront Algeriens (FLN) 1954-1962

Tunesien
- Nachruf auf Georges Adda

Westsahara
- Wo eigentlich liegt Marokko?
  Wer rührt an die Grenzen in Nordwestafrika?

Piraterie
- Moderne Enterhaken - Piraterie in Südostasien

Antisemitismus
- Zwischen Antisemitismus und Islamophobie

Wirtschaftskommentar
- Peak oil?: Ölversorgung und Akkumulation

Zeitensprung:
- Das Massaker in Kafr Qasim

Ex libris:
- Unter der Oberfläche / Verlassen / Israel: Ein Staat sucht sich selbst /
 NGOs in Palestine / Perspectives beyond war ...?

Nachrichten//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 56, Jahrgang 14, Winter 2008, Seite 4 - 7
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009