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ASIEN/574: Gandhi und das heutige Indien (Südwind)


Südwind Nr. 4 - April 2009
Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung

Gandhi und das heutige Indien

Von Maryam Schumacher


Welche Rolle spielt der Vater der indischen Nation heute im Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der Erde? Es scheint, als würde die Krise der Märkte und der Werte zu einer Renaissance von Gandhis Denken führen.


Vor genau 100 Jahren hat Mahatma Gandhi "Hind Swaraj" (*) veröffentlicht, jenes politische Manifest, welches das Konzept der Selbstbestimmung definierte und die Loslösung von der britischen Fremdherrschaft propagierte. Doch dieser Jahrestag wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. In Umfragen wird Gandhi zwar noch immer als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts genannt, nicht zuletzt wegen seines Engagements für eine friedliche Unabhängigkeitsbewegung. Und seine Prinzipien sind bekannt - jedoch weitgehend aus der gegenwärtigen politischen Praxis verschwunden.

Für eine Politik im Sinne Gandhis wären soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung relevant - sowohl bezogen auf die Geschlechter als auch auf das Kastensystem -, verbunden mit dem Konzept der Gewaltlosigkeit. Die herrschende politische Klasse und die Gesellschaft haben sich jedoch weitgehend vom Vater der Nation entfernt. Indiens Politik heute definiert sich vor allem durch Ausbau von Macht: Indien will nicht nur als Regionalmacht gesehen werden, sondern als ein Global Player in einer multipolaren Weltordnung. Die Volkswirtschaft wächst mit großen Schritten - gleichzeitig jedoch auch die soziale Ungleichheit. Eine wachsende neue Mittelschicht sonnt sich im Rausch des Aufschwungs und lässt dabei jegliches soziale Bewusstsein vermissen. Glitzernde Malls stehen wie schillernde Seifenblasen in unmittelbarer Nachbarschaft zu ausufernden Armutsvierteln. Da stellt sich die Frage, ob der Gandhismus und die Ideen aus Hind Swaraj überhaupt noch zeitgemäß sind.


Als Gandhi 1909 Hind Swaraj schrieb, wollte er hinduistischen Extremisten einen Denkzettel für ihre Terrorakte verpassen. Für Gandhi war jede Form von Gewalt, sowohl die der Briten im Namen des Imperialismus als auch die der hinduistischen Extremisten im Namen der Unabhängigkeit nicht akzeptabel. Das kleine Büchlein war insofern revolutionär, weil mit svaraj ein Konzept eingeführt wurde, welches Moral auf politischer und individueller Ebene etablierte, für den demokratischen Staat und für den freiheitsliebenden Menschen. Inspiriert von svaraj versuchte Gandhi eine indische Zivilisation zu entwerfen, die in ihrem Kern nicht anti-westlich war, aber die westlichen Eigenschaften ablehnte und sich auf die eigene spirituelle und gewaltfreie Seele berief. Gandhi kritisierte die westliche Zivilisation für ihre Verherrlichung von Gewalt und für die Verherrlichung einer fortschreitenden Industrialisierung, die im Namen der Entwicklung und des Wachstums die menschliche Arbeitskraft zerstöre. "Nicht Massenproduktion, sondern Produktion der Massen" ist ein Leitspruch Gandhis, mit dem er das in svaraj enthaltene Konzept der Selbstversorgung definierte. Es war aber auch eine konsequente Weiterführung des passiven Widerstandes gegen die Briten: Boykott ihrer Produkte und gleichzeitig Förderung der indischen Wirtschaft.

Gewiss, Indien hat sich seit seiner Unabhängigkeit 1947 grundlegend gewandelt: Heute ist das Land die größte Demokratie mit einer Bevölkerung von über 1,1 Milliarden Menschen und der drittgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Das Wirtschaftswachstum beträgt derzeit, trotz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, noch immer beachtliche sieben Prozent. Allerdings geht dieses Wachstum zu Lasten eines Großteils der Bevölkerung und der ländlichen Regionen. Die soziale und ökonomische Kluft wächst. In Indien leben nach UN-Berechnungen an die 350 Millionen Menschen von weniger als einem US-Dollar pro Tag. Hinzu kommt, dass Armut immer noch vorwiegend gruppen- und regionalspezifisch verteilt ist. Notorisch arme Regionen wie Bihar sind von Indiens Aufschwung überhaupt nicht betroffen. Über die Hälfte der Bevölkerung Bihars ist völlig verarmt. Armut ist auch entsprechend der Hierarchie in der hinduistisch geprägten Gesellschaft verteilt. 75% der Armen sind Adivasi (Indigene) und Dalits (Kastenlose). Und natürlich hat Armut auch in Indien ein Frauengesicht.


Hind Swaraj ist aber mehr als eine Doktrin für staatliches Handeln - es ist auch als moralisch anspruchsvoller Lebensentwurf für jeden einzelnen Menschen gedacht und geeignet. Noch in den 1950er Jahren wurde Indien international als moralische Autorität wahrgenommen. Der passive Widerstand gegen die britischen Kolonialherren gilt bis heute als eines der wenigen Beispiele, dass friedliche Unabhängigkeitsbewegungen erfolgreich sein können - eine Errungenschaft der Menschheit, in der die Vernunft siegt. Zudem spielte Indien bei der Bandung-Konferenz auf Java 1955, der Geburtsstunde der Blockfreienbewegung, eine wichtige Rolle und war Vorbild für viele asiatische Staaten, weil es totalitären Versuchungen nicht nachgegeben hatte, sondern demokratischen Grundsätzen und Prinzipien gefolgt war. Dieses Bild hat sich stark verändert. Indien ist heute offen kapitalistisch, seine Unabhängigkeitskämpfer sind in Vergessenheit geraten und die Blockfreienbewegung hat für Indien jegliche Relevanz verloren.

In den letzten Monaten berichteten die Medien wieder vermehrt über Gandhi. Ein New Yorker Auktionshaus versteigerte die Brille, Taschenuhr und Sandalen Mahatma Gandhis. Prompt löste dies eine Welle der Empörung auf dem indischen Subkontinent aus. Als historisches, nationales Erbe müssten Gandhis persönliche Gegenstände an Indien zurückgegeben werden, heißt es. Was ist jedoch von Gandhis intellektuellem Erbe geblieben?


Mit der Unterzeichnung des Atomabkommens mit den Vereinigten Staaten im Jahr 2005 wurden nicht nur sämtliche internationale Bemühungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen zunichte gemacht, sondern Indien verspielte auch seine moralische Autorität. Es hat sich damit endgültig von seinem pazifistischen politischen Erbe entfernt. Dafür hat es nicht nur in der internationalen Gemeinschaft Kritik gehagelt, sondern auch im eigenen Land. Die oppositionelle BJP sprach von einem "Bruch der Souveränität" - sie sah darin eine wachsende Annäherung an die US-Politik. Die vier größten linken Parteien schlossen sich zu einer Kampagne zusammen und warfen der Regierung vor, sie habe mit ihrer "Obsession mit dem Nuklear-Deal" das Wählervertrauen missbraucht. Und sie entzogen der Regierung ihre Unterstützung. StudentInnen traten sogar in den Hungerstreik, was die prominente Schriftstellerin Arundhati Roy öffentlich als "bewundernswerten und moralischen Akt" gegen ein Abkommen, das einen "Suizid" für Indien bedeute, bezeichnete. Es kann auch als weiteres Beispiel dafür gesehen werden, dass die Ideen des Hind Swaraj zwar in Intellektuellenkreisen noch en vogue sind, auf die Tagespolitik jedoch keinen prägenden Einfluss mehr haben.


Womöglich aber erlebt Hind Swaraj doch eine Renaissance. Der Kollaps der globalen Finanzmärkte lässt Gandhis Worte wie eine Prophezeiung erscheinen. Die Frage, wie sich Moderne und Gandhis Philosophie vereinen lassen, tritt wieder in den Vordergrund. Manindra Thakur, Professor für Politikwissenschaften an der Jawaharlal Nehru-Universiät in Delhi: "Indien übt eine Politik aus, in der die wachsende Mittelklasse in ihrem Konsumismus gefördert wird. Es fehlt heute ein ähnlich charismatischer Führer wie Gandhi, der das svaraj-Konzept wieder belebt. Dieses darf nicht als ein rigides Konstrukt verstanden werden. Es ist ein dynamisches Konzept und muss ständig weiterentwickelt werden."

Auf einer internationalen Konferenz in Delhi haben sich Mitte Februar an die 300 WissenschaftlerInnen versammelt, um den 100. Geburtstag von Hind Swaraj zu feiern und kritisch zu würdigen. Und pünktlich zum Geburtstag ist eine dreisprachige Edition von Hind Swaraj erschienen, auf Englisch, Hindi und Gujarati. Vielleicht trägt das dazu bei, das Interesse an Gandhis politischen Visionen neu zu entflammen.


Maryam Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin. Unter anderem ist sie seit 2009 freie Mitarbeiterin bei der indischen Tageszeitung "Indian Express" und nahm in Neu-Delhi am Hind Swaraj-Kongress teil.

Informationen zum Kongress:
www.csdindia.org/study-groups/

(*) "Swaraj" in der Zusammensetzung mit "Hind", da es Gandhi selbst ins Englische übersetzte; als indischer Ausdruck jedoch "svaraj".


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Quelle:
Südwind - Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung
30. Jahrgang, Nr. 4/2009 - April 2009, Seite 14-15
Herausgeber: Südwind-Entwicklungspolitik (ehem. ÖIE)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009