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ASIEN/651: Indien - Ehrenmorde in Dörfern nehmen zu, Regierung schaut tatenlos zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2010

Indien: Ehrenmorde in Dörfern nehmen zu - Regierung schaut jedoch tatenlos zu

Von Sujoy Dhar


Neu-Delhi, 10. September (IPS) - In indischen Dörfern fallen immer mehr junge Paare so genannten Ehrenmorden zum Opfer. Bisher fehlen Gesetze, um die Verbrechen einzudämmen. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Regierungsbündnis vor, aus wahltaktischen Gründen keinen Finger zu rühren.

Viele Familien in konservativen Dorfgemeinschaften halten sich streng an alte Bräuche, nach denen eine Eheschließung mit einem Partner aus einer anderen Kaste oder anderen Religion ein unverzeihlicher Fehltritt ist. Um dem Tod zu entgehen, bleibt den Jungverheirateten nur die Flucht.

Oft begeben sich Verwandte auf die Suche nach den flüchtigen Paaren, um sie brutal zu ermorden und damit die Familienehre wieder herzustellen. "Die jungen Leute leben in Angst. Wenn sie nicht ermordet werden, bringen sich viele von ihnen um", sagte Nishi Kant von der Nichtregierungsorganisation (NGO) 'Shakti Vahini'.

Wie Recherchen der NGO belegen, verloren allein in den vergangenen 19 Monaten etwa 45 Menschen ihr Leben, weil sie angeblich die Familienehre beschmutzt haben. Trotz der steigenden Zahl von Morden schaue die Regierung tatenlos zu, kritisierte Kant gegenüber IPS.


Regierungsparteien fürchten Verlust von Wählerstimmen

Das regierende Parteienbündnis 'United Progressive Alliance' verurteilte zwar die Verbrechen, reagierte aber nicht mit entschiedenen Gegenmaßnahmen. Politische Beobachter vermuten, dass die Koalition nicht riskieren will. Wählerstimmen aus dem konservativen Lager zu verlieren.

"Wenn den Parteien die Gunst ihrer Wähler wichtiger ist als der Schutz von Verfassungsrechten, ist dies abscheulich", ereiferte sich die Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Marxisten und Leninisten, Binda Karat.

Andere große Parteien des Landes haben die Ehrenmorde öffentlich angeprangert und angekündigt, einen entsprechenden Gesetzentwurf ins Parlament einbringen zu wollen. Sie wollen erreichen, dass im Ehegesetz harte Strafen für die Verantwortlichen von Ehrenmorden verankert werden. Wie Karat kritisierte, erwarteten "demokratisch eingestellte" Inder, dass die Regierung nicht länger zögere und stattdessen angemessene Gesetze zum Schutz der jungen Paare vorbereite.

Der indische Justizminister M. Veerappa Moily kündigte zwar kürzlich eine Gesetzesreform an, um Ehrenmorde strenger zu ahnden. Wenige Tage später ruderte die Regierung jedoch zurück. Man werde die Angelegenheit erst mit den einzelnen Bundesstaaten besprechen, hieß es aus Neu-Delhi. Beobachter mutmaßen, dass die Regierung wohl kalte Füße bekommen habe.

Im Juli hatte eine Gruppe von Ministern Beratungen zu dem Thema aufgenommen. Bislang konnten sie sich aber noch auf keinen gemeinsamen Gesetzentwurf einigen. Der Regierungschef des nordwestindischen Bundesstaates Haryana, Bhupinder Dingh Hooda, räumte erst kürzlich in der Ministerrunde ein, dass ein Gesetz gegen Ehrenmorde in seinem Staat nur schwer durchzusetzen sei.

Seine Regierung müsse bei allen sozialen Reformen vorsichtig sein, zitierte die englischsprachige Zeitung 'The Hindu' den Politiker. Das geltende Strafrecht reiche seiner Ansicht nach aus, um Ehrenmorde zu ahnden.

In den ländlichen Regionen hat sich unterdessen breiter Widerstand gegen schärfere Gesetze gegen Ehrenmorde formiert. In den Dörfern gibt es so genannte Kastenräte oder 'khap panchayat', die hohen gesellschaftlichen Einfluss, jedoch kein rechtliches Mandat haben. Diese Gremien kündigten an, Änderungen des bisherigen Strafrechts verhindern zu wollen.


Täter bereuen ihr Handeln meist nicht

Erst kürzlich wurde ein Paar ermordet, das der unteren der Kaste der Dalit, der 'Unberührbaren', angehörte. Der Täter war der Onkel des Opfers. "Ich bereue nichts und würde sie wieder auf diese Weise bestrafen", sagte der Mann nach seiner Verhaftung den Medien. Die beiden Eheleute gehörten demselben Familienclan an, weswegen ihnen der Kastenrat die Heirat verwehrte.

In einem anderen Fall wurde ein Paar in Neu-Delhi von dem Bruder der Braut und dessen Freunden umgebracht. Ihre Cousine, die die beiden zusammengebracht haben soll, musste ebenfalls sterben. Der getötete Mann gehörte der höheren Kaste der 'Rajput' an, während die Frau Mitglied der niederen 'Gujjar'-Kaste war.

Der Bruder der ermordeten Frau und sein Cousin wurden festgenommen. Einer der Verwandten der Frau erklärte gegenüber den Medien, er habe vollstes Verständnis für die Täter. "Ein Mord ist zwar nicht hinzunehmen, aber in diesem Fall war es zum Besten der Gesellschaft", betonte er.


Oberster Gerichtshof verlangt Erklärung von Regierung

Wie Kant erklärte, geschehen die Ehrenmorde vor allem in den Gemeinden, in denen insbesondere von Frauen erwartet wird, dass sie den Ruf der Familie aufrecht erhalten. Die NGO 'Shakti Vahini' reichte beim Obersten Gerichtshofs Indiens eine Petition ein, um gegen die Ehrenmorde zu protestieren. Das Gericht forderte daraufhin die Regierung auf, dazulegen, was der Staat zur Verhinderung dieser Verbrechen unternehme. Bislang hat die Regierung darauf aber nicht reagiert. (Ende/IPS/ck/2010)


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http://www.shaktivahini.org/
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2010