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ASIEN/788: Nordkorea - Der kleine Führer auf der Titanic (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2012

Nordkorea - Der kleine Führer auf der Titanic

von Siegfried Knittel


Auf dem Höhepunkt des "Kriegs gegen den Terror" und des verbalen Kampfes gegen die "Achse des Bösen" wollten George W. Bush und seine neokonservative Kamarilla den Sturz des nordkoreanischen Führers Kim Jong-il lieber früher als später. Das aber sollte sich schnell ändern. Bereits nach Kims Schlaganfall 2008 war die Sorge vor einer unkontrollierbaren Situation in Nordkorea im Falle seines Ablebens größer als die Hoffnung, ihn endlich loszuwerden. Kim Jong-il schien der Garant vor einer chaotischen Situation zu sein, in deren Verlauf sich US- und chinesische Truppen wie im Koreakrieg hätten gegenüberstehen können - diesmal allerdings, um die nordkoreanischen Atomwaffen zu sichern. Als Sohn des charismatischen Staatsgründers Kim Il-sung besaß Kim Jong-il die Autorität, die verschiedenen Machtgruppen Nordkoreas zusammenzuhalten. Angesichts seiner schwindenden Gesundheit versuchte er in den letzten drei Jahren, seinem Sohn Kim Jong-un zu einer eigenen Machtbasis zu verhelfen und ihn als einen starken Nachfolger aufzubauen.

Davon kann heute jedoch, nach dem Tode Kim Jong-ils, nicht die Rede sein: Kim Jong-il war beim Tode seines Vaters reife 52 Jahre alt, sein Sohn aber ist erst 28. Wie den Vater und den Großvater suchen seine Berater ihn mit einer quasi-religiösen Legitimation auszustatten. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass die nordkoreanische Bevölkerung mit Kim Jong-il vor allem den Niedergang des Landes verbindet. Deshalb versuchte man, Kim Jong-un eine Autorität vor allem mit Bezug auf seinen Großvater zu verschaffen, was sich an seinem heutigen Aussehen ablesen lässt: Er musste sich sprichwörtlich die Figur seines Großvaters anfressen und trägt sogar dieselbe Frisur wie dieser.[1]

Wegen seiner mangelnden Regierungspraxis und der daraus resultierenden Schwierigkeit, sich als junger Mann gegenüber den mächtigen Militärs zu behaupten, die oft seine Urgroßväter sein könnten, sollen die Schwester Kim Jong-ils, Kim Kyong-hui, und ihr Mann Jang Song-thaek den Machtübergang sichern. Extra zu diesem Zweck wurde Kim Kyong-hui 2010 zur Vier-Sterne-Generalin ernannt und ihr Mann im selben Jahr Stellvertreter Kim Jong-ils in der Nationalen Verteidigungskomission. Bezeichnenderweise ging Jang Song-thaek im Trauerzug mit dem Sarg auf einem Auto direkt hinter Kim Jong-un.

Von Kim Kyong-hui heißt es aber, sie sei krank, und Jang Song-thaek werden auch eigene Ambitionen auf die Macht nachgesagt, nicht zuletzt deshalb, weil Kim Jong-il ihn in der Vergangenheit zweimal kaltgestellt hatte. Sollte sich Kim Jong-un eines Tages von ihm bevormundet fühlen, könnte es zu einem blutigen Machtkampf mit seinem Onkel kommen.


Die Macht der Militärs

Eine der wichtigsten Aufgaben Kim Jong-uns wird die Ausbalancierung des Machtverhältnisses von Militär und Partei sein. Nordkorea-Spezialisten wie Bradley K. Babson und Rüdiger Frank vermuten, dass es zu einer völligen Neugewichtung kommen wird: Die Songun-Ideologie, die "Military-First-Politik" Kim Jong-ils, würde demnach von einer Politik abgelöst, bei der die Partei der Arbeiter Koreas (KdAW) wieder die führende Rolle in der nordkoreanischen Politik spielt - wie schon unter Kim Il-sung.[2]

Babson zufolge hätte ein stärkerer Einfluss der Arbeiterpartei auf die nordkoreanische Politik eine größere Annäherung an China und an den dortigen Modernisierungskurs zur Folge. Das ist allerdings nicht mit den Interessen des Militärs zu vereinbaren, das den größten Teil der gesellschaftlichen Ressourcen beansprucht, zugleich aber ein wirtschaftliches Eigenleben in Nordkorea führt. Zwar drängt China auf eine Abkehr von der Military-First-Politik zugunsten einer Liberalisierung der Wirtschaft, aber der Besuch Kim Jong-uns bei einer Militäreinheit unmittelbar nach dem Ende der Trauerfeierlichkeiten hat deutlich gemacht, dass er am politischen Vorrang des Militärs festhalten wird.

Andrei Lankov von der Kookmin-Universität in Seoul zufolge kann Nordkorea den chinesischen Weg auch deshalb nicht gehen, weil die Liberalisierung der Wirtschaft unweigerlich einen massiven Informationsfluss nach Nordkorea zur Folge hätte. Dieser würde der Bevölkerung die Wohlstandskluft zum südkoreanischen Bruderstaat schlagartig deutlich machen. Damit wäre Nordkorea, so Lankov, wie einst die DDR zum Untergang verurteilt. Dies würde das Ende des privilegierten Lebens der Kim-Familie, der Nomenklatura und des Militärs bedeuten. Schon deshalb muss das Regime, wenn es denn überleben will, an seiner Politik der Abschottung und an einer maroden Wirtschaft festhalten, die der Bevölkerung kaum das Überleben ermöglicht.

Lankov zufolge ist Nordkorea eine zum Untergang verurteilte Titanic. Zwar mag das Land mit Hilfe Chinas voraussichtlich noch geraume Zeit überleben, aber die Diskrepanz zum reichen Südkorea wird letztlich immer größer werden - mit der Folge, dass die Nordkoreaner irgendwann so viel über den reichen Süden wissen, dass sie nicht mehr in ihrem Staat leben wollen.[3]


Verurteilt zum Untergang?

Die entscheidende Frage, für Nordkorea wie die ganze Region, ist bei alledem, wie groß das Chaos im Falle des Untergangs sein wird. Auch motiviert durch diese Sorge begab sich Chinas Führer Hu Jintao nach Bekanntwerden des Todes von Kim Jong-il unverzüglich in die nordkoreanische Botschaft, um sich dort ins Kondolenzbuch einzutragen. Die chinesische Führung will unbedingt die Kontinuität in den Beziehungen zu Nordkorea aufrechterhalten und begrüßte daher einen baldigen Besuch Kim Jong-uns in China.

Die eindringliche Mahnung des chinesischen Außenministeriums an die Botschafter der USA, Japans und Südkoreas, gegenüber Nordkorea Zurückhaltung zu üben, hat deutlich gemacht, wie sehr China an einem störungsfreien Machtwechsel in Nordkorea gelegen ist.[4]

Gleichzeitig belastet dies die chinesischen Beziehungen zu Südkorea, wie der jüngste Besuch des südkoreanischen Präsidenten Lee Myung Bak in Peking zeigte.[5] Was Nordkorea betraf, redeten Lee Myung-bak und Chinas Präsident Hu Jintao völlig aneinander vorbei: Während Hu Südkorea Hilfe bei der Verbesserung der Beziehungen zum Norden anbot, forderte Lee wie gewohnt die Denuklearisierung Nordkoreas - eine Forderung, deren Erfüllung das innere Machtgefüge Nordkoreas gefährden würde.

Der chinesische Staatspräsident kann seinerseits keine wirklich guten Beziehungen Südkoreas zu Nordkorea wollen, weil dies die Gefahr einer Wiedervereinigung mit sich brächte. Hu Jintao will vielmehr die wirtschaftliche Anbindung Nordkoreas an China. Bisher allerdings ohne großen Erfolg: Jene Wirtschaftskooperationen, die Kim Jong-il 2010 bei seinen beiden Besuchen in China vereinbart hat, sind größtenteils wieder zum Stillstand gekommen. Denn Kim Jong-il wollte nur Hilfsgüter, aber keine echte wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dennoch garantiert das überragende Interesse Chinas an der Aufrechterhaltung des politischen Status quo in Nordkorea auch die Unterstützung des neuen Präsidenten. An dieser kooperativen Koexistenz wird auch die Tatsache nichts ändern, dass es in diesem Jahr auch in China zu einem Führungswechsel kommen wird, wenn Präsident und Parteichef Hu Jintao im Herbst als Staatschef zurücktritt und Vizepräsident Xi Jinping an seine Stelle tritt.


Südkoreanisches Desinteresse

Anders, nämlich wesentlich gespannter, ist die Lage in Südkorea: Die Zeiten von Kim Dae-jungs Sunshine-Politik, als Regierung und große Teile der Gesellschaft den Traum eines vereinten Korea träumten, sind längst vorbei. Mit seinen Nuklear- und Raketentests hat das Regime in Pjöngjang die südkoreanische Bevölkerung nachhaltig desillusioniert. Gleichzeitig wurde den Südkoreanern bewusst, dass sie die Zeche einer Wiedervereinigung zahlen müssten, wodurch ihr neu erworbener Wohlstand in Frage stünde. Besonders die junge Generation, deren wirtschaftlicher Überlebenskampf im reichen Südkorea bereits ungeheuer hart ist, hat kein Interesse an einer Vereinigung. Sie unterstützt zwar mehrheitlich Wirtschaftshilfe für den Norden, will sich damit aber auch die armen Brüder vom Hals halten.

Mit ihrer kompromisslosen Politik - wirtschaftliche Hilfe nur gegen atomare Abrüstung - hat die konservative Regierung unter Präsident Lee Myungbak die politischen Fronten zwischen den beiden Staaten verhärtet.[6] Allerdings hat sich der politische Wind seit Kurzem gedreht. Wegen ihrer unternehmerfreundlichen Wirtschaftspolitik - bei wachsenden sozialen Spannungen - ist die Regierung in die Defensive geraten. Dabei wird im kommenden April ein neues Parlament gewählt und im Dezember ein neuer Präsident. Sollten die Liberalen vor allem die Präsidentschaftswahl gewinnen, hätte dies auch für die Nordkoreapolitik Konsequenzen. Ein liberaler Präsidentschaftskandidat würde zwar nicht wegen seiner konzilianteren Einstellung zu Nordkorea gewählt werden, sondern wegen seiner sozialeren Wirtschaftspolitik, aber er würde mit Sicherheit die Hilfslieferungen an den Norden wieder aufnehmen und den Dialog bezüglich der umstrittenen Seegrenze im Gelben Meer suchen. Der nordkoreanische Parlamentspräsident Kim Yong-nam forderte jedenfalls bereits die Umsetzung der 2007 zwischen den beiden Koreas vereinbarten Wirtschaftskooperation. Die Folgen wären aber auch hier höchst gefährlich für die Führung Nordkoreas: Jede Wirtschaftsbelebung hätte einen größeren Informationsfluss zur Folge, der der Bevölkerung die Rückständigkeit des eigenen Landes vor Augen führen und zu einer Massenflucht und politischen Unruhen führen könnte.


Die Rolle der USA

In entscheidendem Maße wird die weitere Entwicklung von den USA abhängen. Auch dort finden im November Wahlen statt. Ein konservativer Präsident, so er an die Macht gelangen sollte, könnte dann wie einst George Bush in seiner ersten Amtszeit versuchen, mit einer harten Linie gegenüber Nordkorea Erfolg zu haben.

Tatsächlich kam Kim Jong-ils Tod für die Regierung Obama zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Bereits vor Monaten hatten beide Länder einen Dialog aufgenommen, der amerikanische humanitäre Hilfe für Nordkorea mit der Wiederaufnahme der Sechsparteiengespräche verknüpfte. Bei diesen sollte vor allem über die Beendigung des nordkoreanischen Programms zur Urananreicherung verhandelt werden. Die USA betrachten die Urananreicherung als gefährlicher als die Plutoniumanreicherung, weil sie mit weniger Aufwand betrieben werden kann und die dafür notwendigen Anlagen deshalb besser versteckt werden können. Zudem könnten Nordkorea und der Iran, der offenbar auf gleichem Wege eine Atombombe zu bauen versucht, hier gut zusammenarbeiten.

Momentan spricht allerdings wenig für eine derartige militärische Eskalation. Überraschend schnell hat Nordkorea nach dem Tode Kim Jong-ils sein Interesse an der Aufnahme von Verhandlungen mit den USA über humanitäre Hilfe signalisiert. Auch mit Japan hat das Regime den Kontakt zwecks humanitärer Hilfe gesucht. Das scheint auf eine sehr schlechte Versorgungslage im Lande hinzudeuten. Ob das auch die Bereitschaft zur Wiederaufnahme der Sechser-Gespräche bedeutet, ist allerdings nicht ausgemacht.

Da sich nordkoreanische Politiker nicht öffentlich zu politischen Fragen äußern, ist die Position Kim Jong-uns und seines Onkels Jang Song-thaek in der Frage der Atomrüstung und der künftigen Außenpolitik völlig unbekannt. Allerdings gehen die meisten Beobachter davon aus, dass Kim Jong-un sich zuerst um seine Machtsicherung nach innen kümmern wird, bevor er außenpolitisch aktiv werden wird. Gerade deshalb ist allerdings die Befürchtung in den Nachbarländern groß, dass er versuchen könnte, sich mit einem militärischen Coup gegenüber den Militärs Respekt zu verschaffen. Dies könnte ein weiterer Nukleartest sein, der die Erprobung miniaturisierter Atomsprengköpfe zum Ziel hätte. Es könnte aber auch, im schlimmsten Fall, ein Militärschlag gegen Südkorea sein, der allerdings eine massive südkoreanische Reaktion mit unabsehbaren Folgen hervorrufen würde.

Kim Jong-un ist ein junger Mann. Theoretisch könnte er Nordkorea viele Jahrzehnte lang diktatorisch regieren. Fest steht aber auch: Der ökonomische, politische und gesellschaftliche Wandel in Ostasien wird an Nordkorea nicht spurlos vorbeigehen. Einen schrittweisen Wandel des Landes kann man sich kaum vorstellen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass, wenn einmal der Virus der Veränderung in Nordkorea Einzug gehalten hat, es kein Halten, keinen geordneten Wandel mehr geben wird. Es wird das abrupte Ende des Systems bedeuten - und Südkorea, China und Japan werden dafür zu zahlen haben.


Anmerkungen:

[1] North Korea invokes Great Leader Kim Il-sung in power transfer to grandson, in: "Washington Post", 24.12.2011.

[2] Bradley O. Babson, Reform or retrenchment in North Korea? In: "38 North", 26.2.2010; Rüdiger Frank, The Party as the Kingmaker The Death of Kim Jong-il and its Consequences for North Korea, in: "38 North", 21.12.2011.

[3] Andrei Lankov, Challenges in post Kim Jong-il era, in: "Korea Times", 25.12.2011.

[4] Beijing showing signs of playing guardian to North Korea, in: "Hankyoreh", 26.12.2011.

[5] Hu, Lee vow to work for stability, in: "Global Times", 10.1. 2012.

[6] Die Versenkung der Korvette Cheonan und der Beschuss der Insel Yeonpyeong durch nordkoreanische Artillerie im Gelben Meer im Jahr 2010 muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.


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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2012, S. 23-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2012