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ASIEN/864: Afghanistan - Familien von Luftangriffsopfern wollen mehr als eine Entschuldigung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Oktober 2013

Afghanistan: Familien von Luftangriffsopfern wollen mehr als eine Entschuldigung

von Giuliano Battiston


Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Malim Said Agha, Dagarwal Khan Agha und dessen Kinder mit einem Foto von Asadullah, der bei einem NATO-Angriff ums Leben kam
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Saracha, Afghanistan, 18. Oktober (IPS) - Auf dem Dorffriedhof von Saracha gibt es drei frische Gräber. Hier liegen Sahebullah, Wasihullah und Amanullah, drei von fünf jungen Männern, die bei einem ISAF-NATO-Luftangriff am 4. Oktober ums Leben kamen.

Zunächst waren die Opfer als "feindliche Kämpfer" hingestellt worden, als "Aufständische", die durch einen "Präzisionsangriff" ausgeschaltet werden konnten. Doch die Schriftzüge auf dem weißen Banner, das über den Gräbern weht, weisen sie als Unschuldige aus, die ihren Tod einem 'Irrtum' verdanken.

Wasihullah und Amanullah waren Brüder. Das Haus, in dem sie aufwuchsen und hinter dem sie sterben mussten, befindet sich in Saracha im Bezirk Beshud in der Nähe von Jalalabad, der wichtigsten Stadt der östlichen Provinz Nangarhar.

Amanullah war zum Zeitpunkt seines Todes 21 Jahre alt gewesen. Er hinterlässt eine Frau und drei Töchter. Sein Vater Qasim Hazrat Khan zeigt ein Dokument vor, das Amanullah als Mitarbeiter der afghanischen Streitkräfte ausweist. Der zehnjährige Wasihullah hatte die High School von Samarkheel nahe Saracha besucht. Den Unglücksabend des 4. Oktobers, einen Freitag, hatten die beiden Brüder mit dem 14-jährigen Sahebullah verbracht, der in Jalalabad eine Ausbildung zum Metallarbeiter machte. Die beiden Teenager Asadullah Delsos und Gul Nabi waren ebenfalls dabei.

Khan zufolge hatten es sich die fünf hinter dem Haus bequem gemacht, nachdem sie mit ihren Badi (Luftgewehren) von der Vogeljagd zurückgekehrt waren. "Gegen 22.00 Uhr hörte ich die ersten von drei lang anhaltenden Raketensalven", berichtet er. Als der Lärm aufhörte, kletterte er auf das Dach, von wo aus er zwei Hubschrauber und weiter entfernt zwei unbemannte Flugzeuge ausmachen konnte.


An Fahrt ins Krankenhaus gehindert

"Als das Feuer erneut losging, befand ich mich wieder im Haus. Ich hörte, wie jemand schrie: 'Bruder, deine Kinder sind tot'." Khan wollte zu ihnen laufen, wurde jedoch von US-Soldaten aufgefordert, auf Abstand zu bleiben. "Erst um 1.40 Uhr in der Früh erreichten wir das Hauptkrankenhaus von Jalalabad", sagt er. "Gegen 2.30 wurden uns die Leichen übergeben."

Am darauffolgenden Samstag erhielt Asadullahs Vater Dagarwal Khan Agha einen Anruf. Der Logistiker eines Gefängnisses hatte seinen Sohn im Haus seiner Eltern gewähnt. "Dann erklärte man mir, ich solle ins Krankenhaus kommen. Doch dort hieß es, mein Sohn sei im Leichenschauhaus."

Der ältere Bruder von Dagarwal Khan Agha, Malim Said Agha, kann sich immer noch nicht erklären, wie es zu der tödlichen Verwechslung gekommen sein kann. "Sie waren doch noch Kinder", meint er und fügt hinzu, dass die afghanischen Behörden bestätigt hätten, dass die jungen Männer irrtümlich von US-Amerikanern getötet worden seien.

"Der Vizegouverneur von Nangarhar, Mohammed Hanif Gardiwal, hat ebenso wie Präsident Hamid Karzai einen Gesandten nach Beshud geschickt. Beide sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die fünf jungen Männer rein gar nichts mit Aufständischen zu schaffen hatten", bekräftigte der Vizegouverneur von Nangarhar, Mohammed Hanif Gardiwal, auf Anfrage von IPS.

Bisher haben ISAF und NATO den folgenschweren Luftangriff noch nicht als Irrtum eingeräumt. Dazu meinte Oberstleutnant Will Griffin, Pressechef im ISAF-Hauptquartier, man werde sich nicht äußern, solange der Vorfall nicht hinreichend untersucht worden sei.


Schuldeingeständnisse von vielen Seiten

Nach Angaben der Opferfamilien haben jedoch etliche Vertreter von ISAF und NATO ihren Fehler unter der Hand gestanden. "Einer der Auslandskommandeure vom Flugfeld in Jalalabad bat mich am 8. Oktober in sein Büro, um sich dafür zu entschuldigen, dass meine Söhne zu Opfern einer Fehlentscheidung geworden sind."

Am darauffolgenden Tag wurde der Verdacht auch von Zia Abdulzai bestätigt, einem Sprecher des Gouverneurs von Nangarhar. Anwesend waren unter anderem der ehemalige Gouverneur Gul Agha Sherzai, etliche Vertreter der afghanischen Sicherheitskräfte, der Sicherheitsbeauftragte des Bezirks Beshud und Beamte des Innenministers. Auch Verwandte der fünf getöteten jungen Männer sowie zwei unbekannte "ausländische Gesandte" hatten an dem Treffen teilgenommen.

"Zugegen waren zudem die beiden verantwortlichen US-Amerikaner, die ihre Schuld offen eingestanden", meint Khan. Die ausländischen Gesandten hätten den Opferfamilien und den Behörden Entschädigungen in Aussicht gestellt. "Als wir den Gouverneurspalast verließen, fanden wir Wagenladungen mit Nahrungsmitteln vor, die wir aber abgelehnt haben. Wir werden doch nicht unser eigenes Fleisch und Blut verkaufen."

Khans Forderung an die USA lautet: "Überlasst uns die Hubschrauberpiloten. Wir werden mit ihnen gemäß unserer Kultur, dem Heiligen Koran, und den Hadith-Vorschriften verfahren. Wenn wir sie dann den USA wieder zurückgeben, werden auch wir sagen: 'Es tut uns leid'."

Khan zufolge wurden im vergangenen Jahr viele unschuldige Menschen, auch Frauen und Kinder, von US-Amerikanern getötet. "Sie sagen immer nur 'Es tut uns leid'. Doch ist es an der Zeit, dass sie für ihr Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen werden." (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/10/afghan-families-want-accountability-not-apologies/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2013