Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

ASIEN/904: Pakistan - Militäroffensive im Norden löst Fluchtwelle aus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 25. Juni 2014

Pakistan: Militäroffensive im Norden löst Fluchtwelle aus

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Vertriebene, die bei 45 Grad Celsius am Rande der Straßen ausharren
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, Pakistan, 25. Juni (IPS) - Shaukat Ali hatte einen kleinen Laden in Miramshah im Bezirk Nord-Waziristan in den pakistanischen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA). Doch seit Mitte des Monats, dem Beginn einer neuerlichen Militäroperation gegen die Taliban, sind er und die Seinen mittel- und heimatlos.

Einen Tag lang war die zehnköpfige Familie unterwegs, bis sie endlich die provisorische Lehmhütte außerhalb von Peshawar, der Hauptstadt der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, beziehen konnte.

Wie Ali gegenüber IPS berichtet, ist die Lage in Waziristan, einer Taliban-Hochburg, "verzweifelt". In Scharen seien die Familien mit Sack und Pack aufgebrochen, um den am 15. Juni angelaufenen Luftangriffen der pakistanischen Armee zu entkommen. Die Militäroperation habe vor Ort zu Nahrungsmittelengpässen und Panik in der Bevölkerung geführt. "Fünf Stunden waren wir zu Fuß unterwegs, bis wir ein Fahrzeug bis nach Peshawar mieten konnten. Von dort aus ging es weiter nach Bannu", berichtet der Familienvater.

Etwa 100.000 Vertriebene befinden sich derzeit in einer ähnlichen Lage. Auch sie harren in Khyber Pakhtunkhwa aus. Die Regierung hat bisher 65.000 Zelte bereitgestellt. Viele haben während der Flucht ihre Angehörigen verloren. Zu ihnen gehört Zainab Khatoon. Sie vermisst ihren Mann und einen Sohn. "Kaum wurde der Waffenstillstand der Regierung gelockert, sind wir in Richtung Bannu aufgebrochen", erzählt die 42-Jährige. "Mein Mann und mein Sohn blieben zurück, um auf die nächste Nahrungslieferung zu warten. Doch nach drei Tagen waren sie immer noch nicht da.


Angst vor dem langen Arm der Taliban

"Die vielen Meldungen über vermisste Angehörige bereiten uns Kopfzerbrechen", meint Jawad Ahmed, ein Beamter im Flüchtlingslager. Viele Ankömmlinge ließen sich nicht registrieren, um nicht gegen das Verbot der Taliban zu verstoßen, die Hilfe der Regierung in Anspruch zu nehmen.

Bis zum 22. Juni waren 394.000 Menschen auf der Flucht. "Angenommen wird, dass viele über die Grenze nach Afghanistan geflohen sind", berichtet Muhammad Rahim von der Nationalen Katastrophenschutzbehörde. Weitere Ziele sind die pakistanischen Dörfer Lakki Marwat, Tank, Karak und Hangu.

"Khyber Pakhtunkhwa hat bisher mindestens 7.000 Familien beziehungsweise 100.000 Menschen aufgenommen", erläutert der Behördenvertreter Sajjid Khan. Einige der Flüchtlinge versuchten sich bis nach Lahore und Karachi im Süden Pakistans durchzuschlagen.

Im Vorfeld der jüngsten Militäroperation hatte die Regierung eine Milliarde US-Dollar für die Versorgung der Flüchtlinge bereitgestellt. Die Gelder werden für Zelte, Toiletten und provisorische Schulen für die Kinder ausgegeben.

Shoaib Sultan, politischer Analyst an der Universität von Peschawar, befürchtet, dass die Militäroperation noch eine Weile weitergehen wird und sich die Zivilbevölkerung auf harte Zeiten vorbereiten muss. "Die unerträgliche Hitze mit Temperaturen von 45 Gad Celisus wirkt sich unterschiedlich auf die Menschen aus. "Viele haben gerade genug Kraft, um sich in den Schatten der Bäume am Rande der Straßen zu retten."

Mit der Armeeoperation 'Zarb-e-Asb' ('Das Schwert des Propheten schlägt zu') reagiert die Regierung unter anderem auf den Anschlag der Rebellen auf den internationalen Flughafen von Karachi in diesem Monat, bei dem 18 Menschen ums Leben kamen.

In Pakistan gibt es viele, die den Militäreinsatz gegen den fortgesetzten Terrorismus begrüßen. Doch den Preis zahlt die Zivilbevölkerung. Aus diesem Grund gibt es Politiker wie Imran Khan von der Partei 'Pakistan Tehreek-e Insaf' (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) die eine Unterbrechung der Operation fordern, bis die Zivilisten aus dem Kriegsgebiet evakuiert sind.


Unterbringungsmöglichkeiten erschöpft

Seit 2005 versucht das Militär in sporadischen Abständen, die Rebellen in der Grenzregion vernichtend zu schlagen. Nach dem Einmarsch der USA in Afghanistan hatten die Taliban in den Gebirgsregionen des benachbarten Pakistans Unterschlupf gefunden. Als die Bevölkerung in die Schusslinie von Armee und Milizionären geriet, trat sie die Flucht an.

Der seit neun Jahren mehr oder minder ununterbrochene Massenexodus aus den FATA hat bereits 2,1 Millionen Menschen in Bewegung gesetzt. Die Behörden in der Nachbarprovinz Khyber Pakhtunkhwa, wohin sich die meisten zu retten versuchen, bemühen sich verzweifelt, die vielen Menschen zu versorgen.

Viele leben seit Jahren unter verheerenden Bedingungen. Der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und Sanitärversorgung ist beschränkt. Dem lokalen Gesundheitsbeamten Fayaz Ali zufolge gibt es jedoch keine Alternativen.

Bereits vor der neuen Flüchtlingswelle hatte Bannu 50.000 vertriebene Familien beherbergt. Die Nachfrage nach Wohnraum sei dramatisch gestiegen, berichtet ein lokaler Immobilienhändler. Wer sich kein Haus leisten könne, müsse mit Lehmhütten Vorlieb nehmen.

Regierungsvertretern zufolge sind die Möglichkeiten für die Unterbringung der neuen Flüchtlinge erschöpft. Die vielen, oftmals kranken Menschen werden vorübergehend in Schulen untergebracht. "Wir behandeln die Vertriebenen auf Krankheiten, die von verkeimtem Wasser und Hunger herrühren", berichtet Rehmat Shar, ein in Bannu tätiger Arzt. "Wir haben etwa 650 Patienten behandelt, darunter 200 Frauen und 300 Kinder. Die meisten Patienten waren dehydriert", berichtet Shah, der am Bezirkskrankenhaus arbeitet.

"Wir leben jetzt ohne Strom in einem kleinen Haus aus Lehm und Steinen", sagt Shaukat Ali. "Und meine Kinder müssen zum Wasserholen sehr weit laufen." Nun gehe es nur noch darum, aus dem Nichts ein neues Leben zu beginnen. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/06/military-offensive-deepens-housing-crisis-in-northern-pakistan/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 25. Juni 2014
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2014