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EUROPA/767: Schluß mit der roten Misere (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2009

Schluss mit der roten Misere
Die niederländische Erfahrung als Negativfolie

Von Frans Becker/René Cuperus


Wie weiter? Was brauchen wir? Neue Führung, neue Denker, neue Ideen, neue Parteien? Mitte-Links steckt in einer Doppelkrise, ist in der Defensive gegenüber mehr oder weniger weichen Konservativen wie Berlusconi, Sarkozy und Cameron und verliert dabei den Kampf um Ideen und Vertrauen.


In vielen Ländern ist Mitte-Links eingeklemmt zwischen einer starken moderaten Rechten, die die bessere Wirtschsftsleistung für sich beansprucht, und populistischen Bewegungen sowohl von links, die sich als die "echte" sozialdemokratische Linke darstellen, wie auch von rechts, die die kulturelle Kluft zur weniger qualifizierten Arbeiterklasse instrumentalisieren. Genau das ist der Fall in den Niederlanden: die niederländische PvdA (Partij van de Arbeid) ist eingepfercht zwischen einer starken Christdemokratie und einer starken Linken, während die rechten Populisten bereits im Hinterhalt lauern.

Wir sind in einer paradoxen Situation. In Zeiten von Globalisierung, Migration und wachsender Unsicherheit müssten die Sozialdemokraten - mit ihrem Fokus auf sozialer Unterstützung und Mobilität, Gleichheit und Solidarität - die führende und nicht die unterlegene politische Kraft sein. Was ist los mit Mitte-Links?

So wie die 90er Jahre als eine allgemeine Periode des Erfolgs für Progressive in Europa und in den USA bezeichnet wurden, erscheint die Stagnation in diesen Tagen als ihr gemeinsames Problem. Trotz immenser Unterschiede in den politischen Positionen und in der psychologischen Perspektive gibt es in der Situation von Mitte-Links auch einige gemeinsame Elemente:

(a) Mangelndes Zutrauen und Vertrauen in großen Teilen der von den Franzosen classes populaires genannten Schicht, dass ihr Schicksal bei den Sozialdemokraten in guten Händen liegt. Sozialdemokratische Eliten haben das Gespür für die weniger gebildete Wählerschaft verloren, was ein Leck hin zu den Populisten ergibt.

(b) Mangel an robuster Führungskraft, die die Parteien wieder "in die Spur" bringt. Die neue Generation an der Macht scheint über weniger politische Kompetenz, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verfügen und macht mehr Fehler. Darüber hinaus trennen Berufsabschluss und Habitus die Mitte-Links-Politiker von der Arbeiterklasse. Für die Modernisierer in ihren Reihen wäre ein Schritt zurück zum klassischen sozialdemokratischen Reformismus schwer.

(c) Das Fehlen eines klaren, attraktiven und unterscheidbaren Kurses, einer klaren Verbindung zwischen Identität und Klassenpolitik, zwischen Programmatik und Geschlechterpolitik.

(d) Eine starke Konkurrenz von Mitte-Rechts, ob christdemokratisch oder neokonservativ, von Cameron über Merkel bis Sarkozy. Mitte-Links ist technokratisch und Mitte-Rechts anteilnehmend, werteorientiert und dynamisch geworden.

Es gibt natürlich eine Reihe von Elementen, die nur bei einigen wenigen Parteien oder Ländern zu finden sind:

(a) Das Links-Populisten-Syndrom: eine starke linke Opposition, die das Erbe der klassischen Sozialdemokratie vor dem "Dritten Weg" für sich beansprucht (Deutschland: Linkspartei gegen SPD, Niederlande: Sozialistische Partei gegen PvdA).

(b) Das Post-Reform-Syndrom: Mitte-Links-Parteien, die ihre Wohlfahrtsstaaten modernisiert ond dabei ihre altbekannten Verdienste, soziale Unterstützung ond soziale Sicherheit, verloren haben (Labour, SPD, PvdA, entsprechende Parteien in Skandinavien usw.).

(c) Das Nicht-Reform-Syndrom: Parteien, die es versäumt haben, den öffentlichen Sektor zu reorganisieren (PD in Italien, PS in Frankreich).

(d) Das Langzeit-Macht-Syndrom: Es scheint einen "natürlichen" Überdruss der Öffentlichkeit an Parteien zu geben, die lange an der Macht waren (Sozialdemokraten in Schweden, New Labour in GB).

(e) Das Immigrations-/Integrations-/Islam-Syndrom (Dänemark, Niederlande, Flandern).

(f) Das Junior-Partner-Syndrom (SPD, PvdA).

(g) Das Hoffnungslos-gespalten-Syndrom (die meisten Parteien, seit mehr als einem Jahrhundert).

(h) Das "Amateurpolitische-Organisation"-Syndrom (den meisten traditionellen sozialdemokratischen Kaderparteien mangelt es an modernen Kampagnen- und Führungsqualitäten und -kompetenzen).

Wider Erwarten ist nicht die Machtposition ausschlaggebend dafür, in welcher Situation sich eine Partei befindet: Ob Sozialdemokraten allein an der Macht sind, in einer Koalition regieren oder in der Opposition sind, scheint keinen großen Unterschied zu machen. Die großen Projekte der Erneuerung fundamentaler Werte oder von Grundsatzprogrammen (SPD, PvdA, PSOE, SPÖ) haben nicht die ausschlaggebende, positive Wende gebracht. Die einzige Methode, die für kurze Zeit hilft - und mitunter von der Boulevard-Presse erzwungen wird -, ist ein personeller Wechsel in der Führung (Österreich, Deutschland).


Das Beispiel Niederlande

Die PvdA ist Juniorpartner in einer Koalition, die kleinere Reformen im öffentlichen Sektor und beim Wohlfahrtsstaat mit einem starken Gemeinschafts-Ethos verbindet. Demokratische Reformen sind von der Agenda gestrichen, und eine der höchsten Prioritäten ist es, sozial schwache Wohngegenden wieder zu beleben. Die Regierung ist unpopulär; sie hat ihre Mehrheit in den Umfragen komplett eingebüßt. Doch die PvdA übertrifft sie noch in ihrer Unbeliebtheit. Einige Umfragen zeigen eine Wählerunterstützung von 15 oder gar 10% - weniger als bei den ersten Wahlen in den Niederlanden 1920.

Einer der Hauptgründe dafür ist der Mangel an Vertrauen in die Politik und Führungskraft der PvdA. Nur ein paar eingefleischte Anhänger bleiben ihrer Partei treu. Vor allem die Unterschicht und die untere Mittelschicht haben das Vertrauen in die PvdA verloren. Dieser Vertrauensverlust zeigte sich bereits im Wahlkampf 2006, als der Parteivorsitzende Wouter Bos die Zukunft der staatlichen Rente in Frage stellte. Die Vertrauenskluft vergrößerte sich unter der Balkenende-Bos-Regierung, als diese darauf verzichtete, ein Referendum zur neuen EU-Verfassung und eine Untersuchung der niederländischen Beteiligung am Irak-Krieg durchzuführen.

Ein grundlegendes Problem scheint zu sein, dass ein großer Teil der Wählerschaft eher auf der linken Seite der sozialökonomischen Dimension (Einkommensverteilung, staatlich regulierter Markt) steht und Vertrauen in den kontinentalen Wohlfahrtsstaat setzt, die niederländischen politischen Eliten und Entscheidungsträger, einschließlich Sozialdemokraten, sich aber in den 90ern mehr nach rechts bewegt haben, mit der EU als einer der bestimmenden Marktkräfte im Hintergrund. Es gibt bei der Wählerschaft einen wachsenden Widerstand gegen die EU und die Migration. Seit mehr als einem Jahrzehnt vertritt eine breite Mehrheit der niederländischen Wähler die Meinung, Immigranten sollten sich der niederländischen Lebensart anpassen. In dieser Frage vertritt die PvdA eine libertäre Position. Die Unsicherheit, die sich in der Unter- und unteren Mittelschicht durch die großen Veränderungen ("high skill society"), ausgebreitet hat, wurde unbeabsichtigt durch das für Veränderungen offene sozialdemokratische Reformprogramm noch verstärkt.

Welche Faktoren außerdem eine Rolle spielen könnten:

(a) Das Post-Reform-, Post-Dritte-Weg-Gefühl, dass die Errungenschaften des Wohlfahrtstaats bei der PvdA nicht gut aufgehoben sind.

(b) Die Preisgabe des Staatssektors mit seinen professionellen Standards und seiner öffentlichen Moral zugunsten modischer Phänomene wie New Public Management und des Marktes.

(c) Das Raue-Manieren-Problem: Progressive Politik hat das libertäre Erbe der 60er und 70er übernommen, während Sicherheit Hauptanliegen der Öffentlichkeit bleibt.

(d) Das Immigrations-Integrationsproblem: der Preis für Immigration wurde vor allem von der klassischen Wählerschaft der Arbeitspartei gezahlt, was ein tiefes Gefühl der Vernachlässigung und des Misstrauens verursachte.

(e) Der Globalisierungspessimismus: Während die Reformpolitiker der Arbeitspartei die Vorteile der Globalisierung betonten, wuchs der Leistungsdruck auf die geringer Qualifizierten, was Unsicherheit und Zukunftssorgen verursachte.

(f) Die Zunahme des Populismus: Misstrauen in die Elite, die Politik und die politischen Institutionen unter den niedriger qualifizierten Wählern - geschürt von neokonservativen Diskursen und kommerziellen Medien.

(g) Konkurrenz für die PvdA, die von drei Seiten attackiert wird: Populismus auf der rechten, solide Konkurrenten auf der linken und die Christdemokraten, die moderate Modernisierung mit Achtbarkeit und Familienwerten kombinieren.

(h) Politik als Praktikum: ein unerfahrenes Regierungsteam, mit geringem Mehrwert in den Augen der Öffentlichkeit.


Wie Weiter?

Alle Mitte-Links Parteien in Europa stehen vor der gleichen Frage: Welcher Weg führt uns aus der Krise? Brauchen wir große Projekte, einen neuen Optimismus und Glauben an die Zukunft, einen Obama?

(a) Angesichts des Stellenwertes personalisierter politischer Führung (Personen sind die Verkörperung von Programmen geworden), gibt es nur einen Weg aufwärts: Nur eine neue Führung, die nicht das Gewicht der problematischen Reformpolitik trägt, kann die Kluft zur klassischen Wählerschaft der Arbeiterklasse überbrücken und neue Koalitionen schmieden. Eine Führung mit Visionen und Werten.

(b) Die Neuerfindung von Mitte-Links: der Mangel an klaren politischen Positionen, die Anpassung an die Marktkräfte und die zu weit gehende Modernisierung hat dazu geführt, dass sozialdemokratische Positionen in wichtigen Punkten umformuliert und die Verbindung zur sozialdemokratischen Tradition erneuert werden muss.

(c) In ganz Europa sind die Parteien als Bindeglied zwischen sozialem Leben und politischer Arena erodiert. Sozialdemokraten sollten ihre Organisationen verbessern (exzellente Rekrutierung und politische Bildung, Verwurzelung in Unternehmen, Wohngebieten und Drittem Sektor, Kampagnen für soziale, kulturelle und ökonomische Koalitionen).

(d) Effektivere Wahlstrategien (auch zwischen den Wahlen den Kontakt zu den geringer Qualifizierten wiederherstellen, Koalitionen zwischen ihnen und der Mittelschicht bilden, zwischen Immigranten und Einheimischen).

Mit einem Wort: Holt die Seele in die Bewegung zurück!


Frans Becker (* 1948) ist stellvertretender Direktor der Wiardi-Beckman-Stiftung. 2008 Mit-Herausgeber des Buches In Search of Progressive America.
fbecker@wbs.nl

René Cuperus (* 1960) ist Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen und Senior Research Fellow bei der Wiardi-Beckman-Stiftung, der Denkfabrik der niederländischen PvdA.
rcuperus@pvda.nl

Aus dem Englischen von Julia Máté


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2009, S. 23-26
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2009