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EUROPA/818: London Riots - Aufstand der Jugend (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

London Riots: Aufstand der Jugend

Von Sabrina Schmidt und Karl-Heinz Spiegel


Im Sommer erschütterten immer neue Bilder aus England, die brennende Autos, geplünderte Geschäfte und verwüstete Straßen zeigten. Ausgangspunkt war der friedliche Protest gegen den Tod des farbigen Rappers und Taxifahrers Mark Duggan durch Schüsse der Polizei. Doch wie konnte diese Situation so eskalieren und wie kann so etwas in Zukunft verhindert werden? Diese Fragen stellen sich viele, kommen dabei aber zu sehr unterschiedlichen Antworten.


Anfang August 2011 beherrschte Gewalt die Straßen Englands. Von Tottenham im Norden Londons ausgehend waren zunächst in weiten Teilen der Metropole und dann auch in anderen Städten Englands und Wales Aufstände ausgebrochen. Insgesamt wurden fünf Menschen getötet, zahlreiche verletzt und hunderte von Geschäften, Autos und Wohnungen mutwillig zerstört.

Der anfängliche Konsens über die Verurteilung der Ereignisse zerbrach in der weiterführenden Analyse immer mehr. Premierminister David Cameron schreibt die Ursachen der Aufstände vor allem individuellen Verhaltensweisen, fehlendem Verantwortungsbewusstsein und einem Zerfall der Moral in der Gesellschaft zu. Ed Miliband von der Labour Party teilt zwar die Auffassung einer fehlenden Moral, sieht die Gründe aber primär in gesellschaftlichen Faktoren wie großer Ungleichheit und fehlenden Zukunfts- und Aufstiegschancen für benachteiligte Jugendliche.

In der Diskussion um die Ursachen gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Begründungsmuster. Ein solches ist das fehlende Verantwortungsbewusstsein in allen Bereichen der Gesellschaft. Es wird kritisiert, dass sich viele Menschen nicht mehr darum kümmern, dass die Gesellschaft als Ganzes funktioniert, sondern sich nur noch rücksichtslos selbst bereichern und das eigene Wohlbefinden im Blick haben. Dazu gehört, dass auch die Eliten keine Vorbilder in Sachen Moral mehr abgeben, sondern zeigen, dass sie sich alles erlauben können, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dementsprechend würden auch in den unteren Schichten Disziplin und Ehrgeiz fehlen und stattdessen ein Anspruchsdenken herrschen, das sich in der Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat und der Vernachlässigung von Pflichten äußert. Aus dieser Perspektive wird den Plünderern häufig unterstellt, dass sie nur das genommen haben, was ihnen zusteht, der Staat ihnen aber nicht verschafft. Diese Begründung ist vor allem bei Konservativen sehr beliebt, da sie gleichzeitig dem von ihnen abgelehnten starken Staat Schuld an den Ereignissen gibt.

Eine andere Richtung schlägt hingegen das Begründungsmuster ein, das sich im weitesten Sinne mit sozialer Exklusion auseinandersetzt, ausgelöst durch Armut, Arbeitslosigkeit, Deprivation und fehlender sozialer Mobilität. Diese Faktoren führen natürlich nicht automatisch zu Gewalt, aber sie erhöhen die Unzufriedenheit mit den Lebensumständen und damit das Risiko für Aufstände. Dies spiegelt sich darin wider, dass Jugendarbeitslosigkeit und Kinderarmut in den am stärksten von den Aufständen betroffenen Gebieten weit über dem nationalen Durchschnitt liegen. Bei den bisher vor Gericht verhandelten Fällen handelt es sich bei über 90% um Personen, die weder einen Arbeitsplatz haben noch sich in einer Ausbildung befinden. Obwohl Fairness und gleiche Lebenschancen von allen Politikern propagiert werden, nehmen viele Menschen in benachteiligten Gegenden genau das Gegenteil davon wahr: Die Einkommensunterschiede steigen seit Jahren bzw. Jahrzehnten und auch das Bildungssystem verstärkt die Ungleichheit, da Universitäten und gute Schulen hohe Gebühren verlangen, die sich immer weniger Familien leisten können. Viele Jugendliche haben also aus ihrer Sicht ohnehin keine Zukunftschancen und nichts zu verlieren, was die Hemmschwelle für Gewalt und Kriminalität deutlich sinken lässt.

Einen weiteren Auslöser sehen viele Beobachter im Fehlen funktionierender Familien und der steigenden Zahl alleinerziehender Mütter. Es wird argumentiert, dass vor allem Jungen keine Rollenvorbilder mehr hätten, weil in vielen Familien der Vater fehle und die häufig überforderten Mütter sich keine richtige Erziehung leisten könnten. Daher bliebe die Vermittlung von grundlegenden Regeln wie Disziplin, Verantwortungsgefühl und Moral aus. Gleiches gilt für Familien mit einem Alkohol- oder Drogenproblem.

Häufig werden auch die Budgetkürzungen im Sozialbereich als Grund für die Aufstände genannt, da durch diese viele Einrichtungen für Jugendliche schließen oder ihr Programm drastisch reduzieren mussten. Zum einen werden ihnen so Anlaufstellen entzogen, wo sie bisher Unterstützung bei alltäglichen Angelegenheiten suchen konnten. Dies vermittelt ihnen den Eindruck, dass sich niemand um sie kümmert und sie nicht wichtig für die Politik sind. Zum anderen verlieren sie durch die Schließung von Jugendclubs Beschäftigungsmöglichkeiten. Die daraus resultierende Langeweile sollte als Auslöser für die Aufstände nicht unterschätzt werden.

Auch die zunehmende Anzahl von Gangs und der zugehörigen "gangster culture" wird für die Unruhen verantwortlich gemacht. Kriminalität und Gewalt gehören in den von Gangs kontrollierten Gegenden zum Alltag und die Aufstände wurden als Chance gesehen, die Macht der Banden für alle sichtbar zu demonstrieren. In direktem Zusammenhang damit wird der Kampf gegen rassistische Praktiken der Polizei angeführt. Gerade Tottenham hat eine lange Geschichte von Rassismusvorwürfen gegen die Polizei, etwa weil bereits mehrfach Bürger schwarzer Hautfarbe in Polizeigewahrsam gestorben sind. Zudem werden Schwarze deutlich häufiger in so genannten "stop and search"-Aktionen von der Polizei überprüft, ohne dass es einen offensichtlichen Grund dafür gibt. Bei vielen hat sich daher über die Zeit Wut auf die Polizei angesammelt, die nur nach einem Ventil sucht.

Die Polizei steht in der Kritik, zu Beginn der Proteste nicht hart genug durchgegriffen zu haben. Dadurch hätten die Randalierer und Plünderer keine Konsequenzen gefürchtet und wären erst recht zu ihren Taten animiert worden. Viele Beobachter sind der Meinung, dass dies zu einem "opportunistischen" Verhalten geführt habe, dass viele also einfach nur die Gelegenheit ergriffen hätten, umsonst neue Kleidung oder Elektrogeräte zu bekommen. Dies wird vor allem an der Art der gestohlenen Waren deutlich: Es wurden weder lebensnotwendige Dinge gestohlen (was auf Armut hinweisen würde) noch Luxusgüter (politischer Protest). Natürlich hat auch dies einen politischen Hintergrund, da hier die Ungleichheit in der Gesellschaft durch die fehlende Möglichkeit des Konsums verdeutlicht wird, noch dazu in einer stark besitz- und konsumorientierten Gesellschaft. Genauso werden hier aber auch das fehlende Unrechtsbewusstsein und ein Defizit an moralischem Urteilsvermögen deutlich.

Den unterschiedlichen Begründungsmustern entsprechend werden auch verschiedene Lösungen entwickelt. Die kurzfristige Lösung der Regierung bestand darin, die Anzahl der Polizisten auf Londons Straßen zu erhöhen und ihnen die Befugnis für ein härteres Vorgehen gegen Aufständische zu geben. Außerdem wird verstärkt auf die Abschreckungswirkung harter Strafen für gefasste Plünderer und Randalierer gesetzt: Es wurden alleine in London fast 1.900 Menschen verhaftet, von denen über 1.000 in Schnellverfahren verurteilt wurden. Aufsehen erregt vor allem die Härte vieler Strafen, die von vielen als völlig unverhältnismäßig kritisiert werden. Es wird befürchtet, dass dies die Probleme eher verschärft, da die zumeist jungen Menschen im Gefängnis erst recht kriminalisiert würden und ihnen durch eine Vorstrafe jegliche Zukunftsperspektive genommen und der soziale Friede gefährdet würde. Das Justizsystem scheint tatsächlich ein zentrales Problem zu sein: Analysen zeigen, dass fast 75% der Erwachsenen, die angeklagt wurden, bereits Vorstrafen hatten. Die Rehabilitierung von Straftätern scheint also in vielen Fällen fehlzuschlagen. Justizminister Kenneth Clark fordert daher eine Reform des Strafvollzugs, um die "verwilderte Unterschicht" aus der "kriminellen Klasse" von Wiederholungstaten abzuhalten. Gleichzeitig plädiert er dafür, dass die großen sozialen Defizite in der Gesellschaft behoben werden müssten.

Der Druck auf die Gerichte von Seiten einiger Politiker und der Öffentlichkeit, schnelle und vor allem harte Strafen zu verhängen, wird ebenfalls problematisiert, da ein solches Verhalten für einen Rechtsstaat mit strikter Gewaltenteilung kaum akzeptabel erscheint. Aus einem ähnlichen Grund wird auch die Idee David Camerons abgelehnt, zukünftig in Krisensituationen soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook abzuschalten und verurteilte Aufständische aus den Netzwerken auszuschließen. Solche Maßnahmen würden einer Zensur gleichkommen und sind daher mit demokratischen Werten kaum zu vereinbaren.

Offiziell bekanntgegebene Vorhaben der Regierung hat der Premierminister als "security fightback" und "society fightback" zusammengefasst. Darunter sind die bereits erwähnten harten Strafen zu verstehen, die Ausweitung der Befugnisse der Polizei und eine "Null Toleranz"-Politik gegen Gangs und Unruhestifter. Die gesellschaftliche Gegenstrategie will er mit Reformen in Erziehung, Bildung und Familienpolitik erreichen. Direkte Hilfen für benachteiligte Familien und von den Aufständen betroffene Gemeinden, Ausweitung des freiwilligen Sozialdienstes und ein "not payback scheme" für Plünderer werden noch genannt. Mit all dem will Cameron sein Hauptziel erreichen: die "kaputte Gesellschaft" zu heilen und die Moral in all ihren Bereichen wieder herzustellen.

Die Strategie der Regierung stößt in allen politischen Lagern, auch im eigenen, auf Kritik. Innerhalb der Konservativen Partei besteht Dissens über die drastischen Kürzungen im Budget der Polizei. Anderen in der Partei gehen die geplanten Maßnahmen nicht weit genug. Auch wird kritisiert, dass David Cameron mit seiner klassisch konservativen "Law and Order"-Politik falsche Prioritäten setze und mit der harten Polizeitaktik nur die äußeren Symptome der Gewalt bekämpfe.

Diese Kritik wird vor allem von Seiten der Labour Party und auch von vielen Sozialarbeitern geteilt, die ihm vorwerfen, die wirklichen Ursachen für die Aufstände zu verleugnen. Sie sehen die Lösung der Probleme eher in der Verringerung der sozialen Ausgrenzung und der Ungleichheit in der Gesellschaft und unterstellen, dass nur dadurch weitere Unruhen in Zukunft verhindert werden könnten. Bessere Zukunftschancen für Jugendliche und eine stärkere Umverteilung von Reichtum eignen sich besser, die verbreitete Armut vor allem unter Kindern und Jugendlichen (die auch die Labour-Regierungen zu verantworten hat) abzubauen und gleichzeitig wieder mehr Eigenverantwortung einzufordern. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass für die meisten Aufständischen wohl kein einzelner Faktor entscheidend war, sondern vielmehr eine Kombination aus verschiedenen Gründen den Ausschlag für die Teilnahme an den gewalttätige Ausschreitungen gegeben hat. Dementsprechend müssen auch die Gegenmaßnahmen breit gestreut und gut überlegt werden, um möglichst viele der Ursachen für die Aufstände zu beseitigen und so zu verhindern, dass sich solche Bilder aus Englands Städten wiederholen.


Sabrina Schmidt (* 1988) studiert derzeit Englisch und Politik auf Lehramt an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
(sabrina_schmidt_1988@gmx.net)

Karl Heinz Spiegel (* 1953) ist Volkswirt und leitet derzeit das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in London.
(spiegel@feslondon.net)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 45-48
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2012