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FRAGEN/032: Rückblick mit dem scheidenden Botschafter Ecuadors, Jorge Jurado, in Berlin - Teil 2 (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Rückblick mit dem scheidenden Botschafter Ecuadors in Berlin - Teil 2

Interview von Sabine Bock, 25. Mai 2016 [*]



Jorge Jurado und Sabine Bock - Bild: © Tobias Baumann

Bild: © Tobias Baumann


Bewältigung der Flüchtlingspolitik und Menschenrechte in Ecuador

Sabine Bock: Was für Maßnahmen hat Ecuador in Fragen der Flüchtlingspolitik in Lateinamerika unternommen? Wie wurden die Probleme bewältigt? Wie viele Flüchtlinge sind in Ecuador aufgenommen worden?

Jorge Jurado: Wir haben zahlreiche Maßnahmen in der Flüchtlingspolitik in den letzten neun Jahren erarbeitet und umgesetzt. Wir haben Hunderttausende Flüchtlinge, die aus den benachbarten Kriegsgebieten, wie z. B. aus Kolumbien kamen, in Ecuador empfangen können. Wir wurden mehrmals für unsere Flüchtlingspolitik von der UNHCR-Stelle der Vereinten Nationen ausgezeichnet, die dafür zuständig ist. Wir haben mehr als 70.000 politische Flüchtlinge mit vollem Recht anerkannt. Etwa 120.000 Flüchtlinge leben schon in Ecuador und werden derzeit integriert. Wir haben fast 500.000 Kolumbianer und Peruaner aufnehmen können. Obwohl wir längst nicht die politischen, noch die wirtschaftlichen oder institutionellen Möglichkeiten besitzen wie die Bundesrepublik Deutschland. Aber unsere Regierung hat die Aufnahme der Flüchtlinge garantiert, wie es auch derzeit in Europa verstanden wird. Interessant ist aber, wie aufgeschlossen die Flüchtlinge von unserer Bevölkerung empfangen wurden. Selbstverständlich gibt es auch bei uns einige Vorurteile gegen Fremde. Weil wir aber die gleiche Sprache sprechen und die Mentalität der Menschen sich ähnelt, ist es für uns einfacher, die Menschen "Willkommen" zu heißen. Dass fast 500.000 Flüchtlinge bei uns wohnen und arbeiten dürfen, ist ein Paradebeispiel für unsere Flüchtlingspolitik der Regierung.

Sabine Bock: Was würden Sie in der Flüchtlingspolitik für Europa empfehlen?

Jorge Jurado: Ich würde es mir nicht erlauben, eine Empfehlung auszusprechen, aber ich beobachte sehr genau, was hier in Europa und Deutschland passiert. Es bereitet mir sehr viel Sorge, was manche Politiker von sich geben und welche rechten Strömungen es hier gibt. Im Allgemeinen sollte man weniger Angst vor fremden Menschen haben, die aber oft geschürt wird. Fremde Menschen bringen meistens eine Bereicherung für die eigene Gesellschaft mit. Daraus können durchaus bessere Bedingungen für alle entstehen. Die Mischung ist immer eine Bereicherung. Ängste entstehen zumeist auch aus Unzufriedenheit und vor allem aus Unwissenheit. Sie sind leider immer sehr präsent, wenn es eine schlechte Kommunikation gegenüber der eigenen Bevölkerung in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen gibt. Menschen könnten sich sonst noch besser kennenlernen. Selbstverständlich gibt es immer Probleme bei der Integration, das ist nicht zu leugnen. Aber die Bereicherung durch verschiedene Kulturen ist ein Vorteil für die Gesellschaft.

Sabine Bock: Zurück zur Flüchtlingspolitik. Die Regierung von Ecuador hat einen sehr bekannten Asylsuchenden in ihrer Botschaft in London aufgenommen. Es handelt sich dabei um den Begründer und Chefredakteur der Internetplattform WikiLeaks, Julian Assange. Er ist im Juni 2012 in die Botschaft der Republik Ecuador geflohen, weil er befürchtet, aus politischen Gründen und wegen seiner Enthüllungen über die kriminellen Machenschaften der Regierungen von Schweden an die USA ausgeliefert zu werden. Bei "Pressenza" haben wir immer viel darüber berichtet. Wie sieht die Situation für Herrn Julian Assange in der Botschaft in London aus?

Jorge Jurado: Die Regierung von Ecuador garantiert den persönlichen Schutz und die Unversehrtheit von Julian Assange, solange er in unserer Botschaft in London bleibt. Alle anderen Versuche, die wir auch durchgeführt haben, bestanden darin, eine Möglichkeit zu bieten, damit eine Befragung von Julian Assange durch die schwedische Justiz durchgeführt werden kann. Das unheimlich Schlimme daran ist, dass dieser Mensch Julian Assange vielleicht der einzige Häftling in der EU ist, der ohne Urteil dazu gezwungen ist, in einem engen, kleinen Raum seit fast vier Jahren ohne frische Luft, regelmäßige Bewegung und Sonnenschein bleiben zu müssen. Es wurde seitens der schwedischen Justiz nicht einmal nachgefragt, was er nun tatsächlich gemacht haben soll oder nicht.

Sabine Bock: Es ist auch bekannt geworden, dass Julian Assange unter körperlichen Schmerzen leidet und diese unbedingt einer medizinischen Untersuchung in einem Krankenhaus bedürfen. Dies wird ihm seitens der britischen Regierung verwehrt. Was konnte seitens der Botschaft gegen seine Beschwerden getan werden? Wie kann überhaupt eine medizinische Versorgung jetzt gewährleistet werden, wenn er die Botschaft nicht frei verlassen darf?

Jorge Jurado: Ja, das ist wirklich sehr schlimm. Die vielen Fakten sind mir bekannt und es tut mir sehr leid. Die jetzige medizinische Versorgung von Herrn Assange erfolgt notdürftig über die Botschaft in London. Aber dies ist nicht dasselbe, wie eine medizinische Behandlung in einem Krankenhaus, die notwendig wäre. Das wird ihm seitens der britischen Regierung nicht gewährt. Die Menschenrechte von Herrn Julian Assange werden wieder mit Füßen getreten. Und das geschieht hier mitten in Europa! Das ist wirklich unglaublich ungerecht! Das ist auch der Eindruck, der bei der Bevölkerung über die britische Regierung entsteht.

Sabine Bock: Was hatte die UN-Arbeitsgruppe im Februar entschieden?

Jorge Jurado: Am Freitag, 5. Februar 2016, hat die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen (WGAD) öffentlich ihre Entscheidung im Fall Julian Assange gegen Großbritannien und Schweden bekannt gegeben. Sie hält den Aufenthalt von Herrn Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London für illegal. Die Festsetzung verstoße gegen internationale Konventionen, erklärte der Vorsitzende der UN-Arbeitsgruppe, welche aus fünf Mitgliedern bestand, in Genf.

Die juristischen Aktionen Schwedens und Großbritanniens bestehen aus einer willkürlichen Inhaftierung, so argumentiert die UN-Arbeitsgruppe. Zudem müsse er für seinen willkürlichen Arrest sogar entschädigt werden, heißt es in dem UN-Gutachten.

Sabine Bock: Was wird aus ihm, wenn im nächsten Jahr Wahlen in Ecuador stattfinden? Wie sieht nun die Zukunft für Julian Assange aus? Wann wird es Wahlen in Ecuador geben?

Jorge Jurado: Es wird im nächsten Jahr im Februar Präsidentschaftswahlen in Ecuador geben. Der jetzige Staatspräsident Rafael Correa kann aufgrund des ecuadorianischen Gesetzes nicht erneut kandidieren. Es wird vieles unternommen, um die bürgerlich demokratische Revolution der letzten neun Jahre in Ecuador weiterzuführen.

Wir sind sehr zuversichtlich, dass sich die Menschenrechte auch für Julian Assange durch die Entscheidung der UN-Arbeitsgruppe, die ihm die sofortige Freiheit bestätigen, erfüllen werden. Sie können vergewissert sein, dass wir alles diplomatisch und juristisch Mögliche dazu beitragen, damit er bald seine Freiheit erhält.

Wir sind sehr stolz darauf, was wir politisch und wirtschaftlich in den letzten neun Jahren in Ecuador erreicht haben. Diese progressistische Linie weiter fortzuführen, wird uns helfen, mit einem neuen Kandidaten die Wahl des Präsidenten unserer Bewegung zu gewinnen.

Sabine Bock: Gibt es schon einen geeigneten Kandidaten aus Ihrer demokratischen, revolutionären Bewegung?

Jorge Jurado: Das ist noch nicht entschieden. Diese Hauptrichtung der demokratischen, revolutionären Bewegung wird weiter fortgeführt werden. Wie Sie bereits wissen, ist es derzeit in Lateinamerika sehr gefährlich, wie sich einige Regierungen stark nach rechts drehen und die Oberhand gewinnen. Das ist eine politische Folge der Außenpolitik und des Drucks der USA, dem sich diese Regierungen unterwerfen. Das ist ganz klar. Man kann nicht leugnen, dass wir auch Fehler in der Politik gemacht haben, deshalb sind einige Menschen unzufrieden. Wir haben allerdings daraus gelernt und als links-progressistische Regierung sind wir weiter auf dem Weg der Erneuerung. In Ecuador sehen wir auch die Entwicklung in den anderen Ländern Lateinamerikas - was in manchen südamerikanischen Ländern geschieht, ist teilweise diktatorisch und gefährlich. Ich glaube, wir können sehr vieles verbessern, bis dann die Wahlen im Februar 2017 in Ecuador stattfinden werden.


Mehr Demokratie mit DiEM25 und eine volksnahe Wirtschaftspolitik

Sabine Bock: In Europa gibt es neue progressistische demokratische Bewegung. Sie nennt sich DiEM25 und gründete sich u.a. durch den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Die Gründungsversammlung fand in Berlin statt, wo Yanis Varoufakis und auch Julian Assange (Videolink) gesprochen haben. Die Ausrichtung der politischen Prominenz ist groß. Es sind auch neben den Parteien wie die Linke, Sozialdemokraten, Grüne, Piraten, links-progressistische Kräfte und neue Strömungen dabei. Was können Sie dazu sagen? Was erhoffen Sie sich von DiEM25?

Jorge Jurado: Ich bin selbst bei der Gründungsversammlung im Februar von DiEM25 im Theater der Volksbühne in Berlin dabei gewesen. Es war sehr beeindruckend.

Die Veränderungen in einer Gesellschaft entstehen aufgrund verschiedener Situationen der Ungerechtigkeit. Wenn diese Verhältnisse sich zuspitzen, lässt sich das die Bevölkerung nicht gefallen. Sie unternimmt neue Schritte, eine Veränderung herbeizuführen. Die sozialen Zustände sollen sich verbessern. Aber man muss immer achtsam bleiben, dass diese sozialen Bewegungen der "Unzufriedenheit" nicht in andere radikale Richtungen umschlagen. Es gibt sehr gute Beispiele wie mit Varoufakis in Griechenland oder auch die neuen Strömungen in Spanien, die gegenwärtig in Europa passieren.

Es gibt eine neue Generation von engagierten Menschen, die mit sehr guten Argumenten und mit sehr guten Kenntnissen in der Lage sind, sehr viele gesellschaftliche Fragen zu stellen und neue Konzepte für eine bessere Gesellschaft zusammenzutragen. Ich hoffe sehr, dass diese Argumentation tatsächlich für die breite Bevölkerung zur Verfügung steht.

Mit dieser breiten Unterstützung und unter demokratischen Regelungen ist es möglich, vieles zu verbessern und zu betätigen. Sehr klar muss aber sein, was hinter dieser Politik steht und jetzt befinden wir uns leider im neoliberalen Kapitalismus. Es gibt kaum ein Land in Lateinamerika, außer Ländern wie Ecuador und den ALBA-Staaten, das nicht diesen neoliberalen Kapitalismus verfolgt. Und wir haben uns klar dagegen gestellt!


"Economía popular - Ein volksnahes und solidarisches Wirtschaftssystem

Sabine Bock: Was können Lateinamerika, die ALBA-Staaten und Ecuador aus den Erfahrungen und den Fehlern des damaligen "real existierenden" Sozialismus in der DDR und dem ehemaligen Ostblock lernen? Die Produktionsmittel müssen im Staatseigentum sein?

Jorge Jurado: Ich stimme Ihnen zu, dass der Sozialismus ein gerechter Weg ist. Aber man darf nicht außer Acht lassen, dass in den sozialistischen Gesellschaften bis 1990 hier in Europa auch sehr viele Fehler gemacht wurden. Dies sind auch die Erfahrungen, die man nicht mehr machen darf. Wir, in Ecuador und den ALBA-Ländern, arbeiten an einer neuen Politik, um neue Theorie zu schaffen für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts! Dieser Sozialismus, den wir uns vorstellen, ist vollkommen anders als jener, der in Osteuropa existierte.

Sabine Bock: Der Besitz der Produktionsmittel soll beim Staat liegen ... Wie sinnvoll war eine Planwirtschaft?

Jorge Jurado: Nein, nicht ganz. Der Staat soll tatsächlich die Obhut über die strategisch wichtigen Produktionsmittel behalten und den Besitz von großen Infrastrukturen wie Banken, Rohstoffen und erzeugender Industrie, aber auch die Bereiche der Bildung, des Gesundheitswesens und des Bauwesens stärken. Aber das heißt nicht, dass die Initiative des kleinen Unternehmens nicht gefördert wird. Der Staat ist unfähig, sämtliche Nachfragen und Bedürfnisse der Bevölkerung zu regeln. Das hat sich bis heute bewahrheitet. Dass dabei Fehler passiert sind, und die Menschen manchmal unzufrieden waren, ist die Folge einer Planwirtschaft. In Ecuador unterstützen wir deshalb sehr das freie Unternehmertum, z.B. die Handwerksbetriebe und die Dienstleistungsbranche.

Aber Infrastrukturen wie Erdöl und Bergbau gehören zum Eigentum des Staates. Wir arbeiten in diese Richtung weiter und wollen eine höhere Beteiligung der Menschen erreichen. Wir haben es in den letzten fünf Jahren geschafft, mehr als 1,5 Millionen Menschen von der extremen Armut direkt in eine Mittelschicht zu katapultieren. Dies ist aufgrund der direkten staatlichen Unterstützung geschehen. Es wurden viele Mikrounternehmen direkt in Gang gesetzt.

Wir haben einen neuen wirtschaftlichen Sektor geschaffen: "Economía popular", die wir als volksnahe und solidarische Wirtschaft bezeichnen.

Im Bildungswesen haben wir es geschafft, dass die staatlichen Schulen kostenfrei sind. Aber es wurde eine kulturelle Neuerung eingeführt, das einheitliche Tragen von Schulkleidung für die Kinder. Es ist ein gutes Prinzip, um eine Gleichheit zu schaffen. Jedes Kind hat so eine Schuluniform und dadurch gibt es keine gesellschaftliche Trennung. Die Kinder bekommen alle ein warmes Mittagessen und die Schulbücher gestellt. Sehr vieles davon wird von kleinen Unternehmen aus den lokalen Gemeinschaften hergestellt, geliefert und organisiert. Die Mütter und Eltern haben sich zusammen organisiert und kochen nach alten, einheimischen Kochrezepten für die Schulkinder. Dadurch erhalten die Kinder sehr gute Nahrung als Schulspeisung und kein Fastfood. Das ist eine Leistung der Mütter und dieser Kleinunternehmen.

Sabine Bock: Als Kommunalpolitikerin und Bezirksverordnete im Bereich Schule und Sport bin ich selbst in Berlin engagiert. Wir bemühen uns auch, eine Chancengleichheit der Schülerinnen und Schüler zu erzielen. Wir bieten sogar einen kostenfreien Kitaplatz für jedes Kind ab 3 Jahren in Berlin an. Aber was mich so an Ecuador fasziniert, ist diese hohe Motivation und Lehrbereitschaft der Kinder und Studenten, einen guten und bestmöglichen Bildungsabschluss zu erreichen. Das ist vor allem auch durch die Bildungspolitiker Ihres Landes erreicht worden, sich für das lebenslange Lernen einzusetzen. Wie hat Ecuadors Regierung sich für die Bildungspolitik eingesetzt?

Jorge Jurado: Wir haben in der Bildungspolitik keine Bremse. Im letzten Jahr haben wir mehr als 14.000 Stipendiaten an die besten Universitäten der Welt schicken können. Wenn die Absolventen zurückkommen, sind sie nicht verpflichtet, für den Staat zu arbeiten. Hauptsache, sie kehren nach Ecuador zurück. Sie können selbst Unternehmer werden. Sie können für die Privatwirtschaft oder auch für den Staat arbeiten. Die einzige Bedingung für die Stipendianten ist es, wieder nach Ecuador zurückzukommen und wenigstens die doppelte Zeit, die sie im Ausland studiert haben, hier in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen zu arbeiten. Es werden Projekte für diese Kleinunternehmen geschaffen, damit sie ein Startkapital und ein Darlehen haben. Die Verträge schließen die Kleinunternehmen mit dem Staat. Sie wären sonst der freien Marktwirtschaft ausgeliefert.

In den Jahren 2013 / 2014 hatte der Staat Ecuador mehr als 10 Milliarden US-Dollar an direkten Verträgen in diese Mikrounternehmen investiert. Das heißt, das ist die wahre Förderung der Mikrounternehmen. Wir helfen nicht nur mit kleinen Investitionen, sondern wir haben großzügig die Produktion gefördert und unterstützt.

Sabine Bock: Ecuador ist einer der größten Mais-Produzenten?

Jorge Jurado: Mais ist für uns eines der Grundnahrungsmittel. Ecuador ist absolut unabhängig vom Import von Mais. In den letzten 50 Jahren ist Ecuador absolut unabhängig von der Einfuhr von Mais aus den USA geworden. Es gibt dort auch viele umstrittene Unternehmen wie z.B. Monsato, die ihr Unwesen mit genmanipulierten Pflanzen getrieben haben.

Sabine Bock: In welchen Bereichen ist Ecuador ebenfalls im Export führend?

Jorge Jurado: Der Export von Erdöl ist immer noch sehr wichtig, aber nicht mehr so sehr, wie es vor 10 Jahren gewesen ist. Wir haben die Erdölabhängigkeit im Bezug auf den Staatshaushalt praktisch um die Hälfte senken können. Heute sind wir noch mit etwa bis zu 24% der Einnahmen im Staatshaushalt vom Export des Erdöls abhängig.

Wir sind immer noch Hauptproduzent von Bananen in der Welt. Ungefähr 49% des Weltmarktes von Agrarprodukten wie Bananen, Kaffee, Kakao, Schokolade, Blumen, aber auch der Meerestiere- und Fischproduktion werden von Ecuador abgedeckt. Sie werden auch bei uns produziert. Wir haben aber heute große Schwierigkeiten, weil der US-Dollar stark aufgewertet wurde. Aufgrund einer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Jahren ab 1992 bis 2000 sind wir eine US-Dollar-abhängige Gesellschaft geworden. Das hat manchmal auch Vorteile gebracht. Aber heute, wo der Dollarkurs so hoch steht, ist es für unsere größten Handelspartner Kolumbien und Peru äußerst schwierig, unsere Produkte zu kaufen. Sie haben ihre eigene Währung abgewertet, um sich zu schützen. Das können wir nicht machen. Kolumbien hat seine Währung um 60% abgewertet. Die Preise unserer Produkte, die wir nach Kolumbien exportieren können, haben sich verdoppelt. Das ist für uns eine sehr schwierige Situation. Dies schlägt sich auch auf unseren eigenen Erdölexport nieder, weil das Erdöl in den anderen Ländern wesentlich billiger geworden ist. Wir haben praktisch sieben Prozent unseres Inlandsproduktes verloren. Aber anhand der Gestaltung unserer Wirtschaftspolitik ist diese viel widerstandsfähiger geworden.

Im letzten Jahr hat sich unser Wirtschaftswachstum um 0,3% erhöht. Das hört sich erst einmal wenig an, aber wir haben einen positiven Anstieg im Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, trotz weltweiter Wirtschaftskrise. Im Jahr 2015 hat der Staat Ecuador hart daran gearbeitet sich weiterzuentwickeln, ohne einen Cent dafür vom Erdöl einzusetzen. Das wissen die Wenigsten. Aber es zeigt, dass wir eine weitere unabhängige Wirtschaft vom Erdöl erzielen, die uns auch eine bessere Zukunft bringen wird. In diesem Jahr werden Maßnahmen getroffen und einige Investitionen auch verlangsamt, damit das Wirtschaftswachstum weiter positiv wächst.

Wir arbeiten sehr stark in Richtung Bildung und mit Unternehmen zusammen. Wir hoffen, in diesem Jahr zu schaffen, ein duales Berufsausbildungssystem wie in Deutschland auch in Ecuador umzusetzen. Dazu arbeiten wir mit einem Zentrum zusammen, welches schon mit der deutschen Schule in Quito kooperiert und ein duales Ausbildungskonzept umgesetzt hat. Dies wird auch mit deutscher Förderung unterstützt und ausgebaut. Dort werden dann die Lehrer der Berufsschulen ausgebildet. Es wurde in Gesprächen mit Studenten aus Ecuador sehr begrüßt, nicht nur die "reine" Lehre vermittelt zu bekommen, sondern auch diese praktische Ausbildung in den Unternehmen und Institutionen kennenzulernen.

Sabine Bock: Wie funktioniert das?

Jorge Jurado: Es gibt ein gesamtes Bildungsprogramm mit über 40 Instituten. Es fehlte uns erst an erfahrenen Lehrern, die dort unterrichten können. Wir haben jetzt diese Zentren aufgebaut, damit die Lehrer ausgebildet werden können. Ich hoffe, dass dieser Traum wahr wird, den ich hier persönlich entwickelt habe. Dieses Bildungsprogramm wird jetzt in unserem Land umgesetzt.

Sabine Bock: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage, wann sind Sie nach Deutschland gekommen? Warum haben Sie gerade hier an der Technischen Universität in Berlin studiert? Was gefällt Ihnen an Berlin?

Jorge Jurado: Es war ein Zusammenspiel von vielen seltsamen und spannenden Situationen, dass ich nach Deutschland gekommen bin. Ich spreche von der Zeit 1970 bis 1971. Es war schon komisch, dass ich auf dem Flughafen Berlin-Tegel mit einer der letzten Maschinen mit der British-European-Airways gelandet bin. Es war mitten im Hochsommer und es war hier ebenfalls sehr schön. Es gefällt mir richtig gut. Und jetzt bin ich mit einigen Unterbrechungen hier in Deutschland.

Ich bin 15 Jahre lang in Berlin geblieben. Erst 1986 bin ich wieder nach Ecuador zurückgekehrt. Zwischenzeitlich hatte ich das große Privileg, ein ausgezeichnetes Studium als Ingenieur für Maschinenbau und Verfahrenstechnik an der Technischen Universität Berlin zu genießen. Ich war total frei, weil ich auch einmal andere Studienrichtungen kennengelernt habe. So habe ich auch Kurse an der Freien Universität zu Berlin wie Politikwissenschaften, Philosophie und Betriebswirtschaft belegt. Das hat mich sehr stark bereichert. Ich habe mein technisches Studium als Ingenieur für Maschinenbau und Verfahrenstechnik an der TU Berlin erfolgreich abgeschlossen. Ich bin dann nach dem Studium zurück nach Ecuador gegangen. Es war keine leichte Situation für mich, aber es war doch eine sehr wichtige Entscheidung, um mehr Erfahrungen zu bekommen, die ich später benötigte.

Sabine Bock: Wie sieht es mit der Akkreditierung in Deutschland, aber auch mit den Nebenakkreditierungen in Luxemburg, Belgien, Tschechien und Polen aus? Was machen Sie zukünftig?

Jorge Jurado: Die Akkreditierungen und Nebenakkreditierungen werden weiter durch meinen nachfolgenden Botschafter übernommen. Ich habe noch keine Ahnung, aber ich hoffe, dass ich als Dozent bzw. Professor Vorträge an verschiedenen Universitäten über Ecuador abhalten werde. Aber auch auf anderen Gebieten werde ich mich engagieren.

Sabine Bock: Vielleicht berichten Sie uns von der Bewegung DiEM25 zwischen Europa und Lateinamerika?

Jorge Jurado: Ich finde DiEM25 sehr interessant. Wenn ich eine Verbindungsmöglichkeit nach Lateinamerika aufbauen kann, würde ich das sehr gern machen. Ich bin überzeugt, dass DiEM25 eine wirklich sehr interessante Alternative für die Demokratie in Europa darstellt. Mit der Erfahrung, die wir in Lateinamerika geschafft haben, können wir einiges dazu beitragen, dies hier mit einfließen zu lassen. Ich freue mich sehr, wenn ich meine Freunde aus Deutschland in Ecuador begrüßen kann.

Sabine Bock: Einen herzlichen Dank für das intensive und ausführliche Interview im Namen der Redaktion von Pressenza Berlin, aber auch einen großen Dank von den Aktivisten von EcuaSoli soll ich übermitteln, deren Initiativen Sie unterstützt haben.

Jorge Jurado: Ebenfalls einen herzlichen Dank an das Solidaritätskomitee EcuaSoli und die engagierte Zivilgesellschaft in Deutschland für das Interesse und die Solidarität mit der ecuadorianischen Bevölkerung.


Über die Autorin

Sabine Bock ist Sportfachwirtin, Vereinsmanagerin, Kommunalpolitikerin und freiberufliche Journalistin mit Abschluss der Freien Journalisten Schule in Berlin. Sie ist als Sozialdemokratin in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin in Treptow-Köpenick. Ihre journalistischen Themenschwerpunkte sind regional bezogen auf die Gebiete Schule, Bildung und Sport sowie internationale Themen wie die Einhaltung der Friedens- und Menschenrechte, Umweltschutz und Ökologie. Aktiv ist sie auch im Solidaritätskomitee "Ecua Soli". Sie schreibt für Pressenza Berlin sowie SPD-Zeitungen.


[*] Der Schattenblick veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Mai 2016

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