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LATEINAMERIKA/1050: Peru - Von der Volksküche zur nationalen Politik (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 109, 3/09

Von der Volksküche zur nationalen Politik
Interview mit der peruanischen Soziologin Ana Tallada

Von Helga Neumayer


Seit vier Jahrzehnten bewährt sich das peruanische Volksküchenmodell bei der Verteilung von Nahrung, Dienstleistungen, Sorgearbeit, beim Empowerment von Frauen und nicht zuletzt als Instrument der Armutsbekämpfung in städtischen Armenvierteln Perus. In Lima sind es täglich schätzungsweise eine halbe Million Menschen, die in einer Volksküche speisen. Und 2003 zählte man bereits 10.000 Volksküchen im ganzen Land, die ca. drei Millionen Menschen versorgten. Helga Neumayer führte mit der Aktivistin des lateinamerikanischen Frauennetzwerks zur Transformation der Ökonomie (REMTE) ein Gespräch(1) über Details und die Grenzen dieses Modells und über die Herausforderungen transantionaler Frauennetzwerke.


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FRAUENSOLIDARITÄT: Was sind Comedores populares?

ANA TALLADA: Die Comedores populares, die Volksküchen, sind vor etwa mehr als 40 Jahren als Antwort auf eine Nahrungsmittelkrise entstanden. Peru ist ein reiches und vielfältiges Land, aber dennoch ist es zu einem großen Teil von Nahrungsmittelimporten abhängig. Damals haben sich Frauen in einer Krisensituation zum Einkauf von Lebensmitteln und zum Kochen zusammengeschlossen, um Kosten zu sparen. Heute handelt es sich bei den Comedores Populares nicht mehr allein um Küchen, sondern um eine lokale, regionale und nationale Organisationsform, um ein Netz sozialer Vorsorge, das nicht nur mit Nahrung und Gesundheit zu tun hat, sondern auch mit Gewaltprävention und anderen Themen.

FRAUENSOLIDARITÄT: Die Comedores Populares werden von Frauen verwaltet undgetragen. Welche Frauen sind das?

ANA TALLADA: Es handelt sich meist um Frauen im mittleren Alter, sie sind durchschnittlich 45 Jahre. Sie geben dadurch der jüngeren Generation die Möglichkeit zu arbeiten, um Geld zu verdienen und ihre Familie und die Kinder zu erhalten. Meist handelt es sich um Frauen, die eine mittlere Schulbildung haben. Und sie haben in der Regel neben ihrer Tätigkeit im Comedor noch andere Famlieneinkommen z.B. aus dem Kleinhandel.

FRAUENSOLIDARITÄT: Diese Frauen arbeiten ohne Bezahlung. Was macht sie zu wirtschaftlichen Akteurinnen?

ANA TALLADA: Das ist ein sehr interessantes Kapitel, denn tatsächlich ist ihre Tätigkeit nicht remuneriert, es ist freiwillige Arbeit. Die Frauen beginnen allerdings Entscheidungen zu treffen. Sie tun dies zuerst in der lokalen Volksküche, dann auf Bezirksebene, denn sie haben auf die Verteilung der Lebensmittel zu achten; dann müssen sie mit dem Bürgermeister über die Planung des kommenden Jahres verhandeln. Sie müssen auch mit dem Wirtschaftsministerium Verhandlungen führen über die Ausgaben für das nächste Jahr.

Am Anfang standen die Frauen mit ihrem kollektiven Vorhaben und erst später haben staatliche Stellen sich mit Hilfsprogrammen angeschlossen. Wir können also sagen, diese Frauen sind wirtschaftliche, aber auch sozialpolitische Akteurinnen in Peru.

FRAUENSOLIDARITÄT: Handelt es sich um ein alternatives Vorbild-Modell für andere Regionen?

ANA TALLADA: Es ist natürlich ein Kritikpunkt, dass die Frauen - nach so langer Zeit - immer noch unbezahlt arbeiten müssen. Sie selbst betonen aber, dass sie dadurch in ihrer Persönlichkeit gestärkt werden, dass sie bestimmte Fähigkeiten entwickeln lernen und dass sie Anerkennung auf Gemeindeebene bekommen, einige wenige sogar auf nationaler Ebene. Natürlich handelt es sich um keine ideale Politik, das System hat seine Grenzen. Aber in Zusammenhang mit der Sorgearbeit und mit der Sorge um die Qualität der Lebensmittel ist dieses kollektive System tatsächlich ein Weg, der in den Städten anwendbar ist.

Dieses Modell wurde auch an anderen Orten studiert, z.B. in Kanada und in Europa, da es die kollektive Antwort der Frauen auf eine Krise ist. Wir müssen dieses Modell auch im Rahmen der Diskussion um die Leistungen in der Sorgearbeit sehen. Denn die Marktökonomie ist auf Profit ausgerichtet, der Comedor popular ist aber eine wirtschaftliche Einheit, die Nahrungsmittel erhält und mit Hilfe der kollektiven Arbeit der Frauen qualitativ hochwertiges Essen in der Gemeinde bereitstellt.

Wir dürfen neben der unbezahlten Arbeit der Frauen in den Privathaushalten diese kollektive Versorgungsarbeit der Frauen nicht vergessen. Sie hat ökonomischen Wert, aber sie hat auch politischen und sozialen Wert, denn die Frauen setzen sich mit ErnährungswissenschafterInnen in Verbindung und treffen dann Entscheidungen über die städtische Nahrungsmittelpolitik.

Manche Comedores haben sich auch in kleine Unternehmen verwandelt, denn im Zuge der Staatsreform hat die Regierung versucht, die ursprüngliche Idee der Volksküchen beiseite zu schieben mit dem Argument, dass sie nicht an jene herankämen, die in extremer Armut leben. Tatsächlich aber sind es die Armen, die mit ihrem Beitrag - ein Menü kostet umgerechnet 30 Eurocent für solche, die es sich leisten können - alle die unterstützen, die nicht mal diesen Betrag aufbringen können und dennoch ein Mahl bekommen.

FRAUENSOLIDARITÄT: In letzter Zeit haben wir von Aufständen in einigen Regionen Perus gehört. Worum geht es dabei?

ANA TALLADA: Es handelt sich um den Widerstand der indigenen Völker im Amazonas und um den Zugang zu Land und zu Ressourcen. Die peruanische Regierung hat im Rahmen des Freihandelsabkommens mit den USA 100 Gesetze verabschiedet, ohne die davon betroffenen indigenen Gemeinden zu konsultieren oder einzubeziehen. Diese Dekrete verletzen nicht nur Eigentumsrechte sondern auch die Biodiversität, das Wasser und die Art, mit der Natur in nachhaltiger Weise zu leben. Dieser Aufstand im Amazonas hat sich auf andere Gebiete ausgeweitet. Wir glauben, dass wir diesbezüglich sehr aufmerksam sein müssen, denn der Amazonas ist ja nicht nur für Peru wichtig, er ist eine Angelegenheit der ganzen Welt.

FRAUENSOLIDARITÄT: Du selbst bist in einem transnationalen Netzwerk aktiv, wie schaut das aus?

ANA TALLADA: REMTE, das Frauennetzwerk zur Transformation der Ökonomie, ist in zehn lateinamerikanischen Ländern tätig, in Brasilien, Chile, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Venezuela und in ein paar zentralamerikanischen Ländern. Das Netzwerk wurde 1997 gegründet und ich gehöre zur Gründerinnengeneration. Wir haben damals gesehen, dass die ökonomischen Themen von den Feministinnen nicht aufgegriffen wurden, obwohl es sich um wichtige Themen handelte. So haben wir REMTE gegründet und begonnen uns mit dem Thema Arbeit zu beschäftigen. Gemeinsam mit dem Frauenweltmarsch haben wir zum Thema Ernährungssouveränität zu arbeiten begonnen. Und eines unserer wichtigsten Themen ist die Militarisierung, denn die Entwicklungen in diesem Bereich beunruhigen uns sehr und die ganze Gesellschaft - nicht nur die Frau - ist davon betroffen. Das ganze momentan herrschende Wirtschaftsmodell ist eng mit Militarisierung verbunden. Und wir beschäftigen uns schließlich auch mit der Frage der Sorgearbeit aus den verschiedenen Blickwinkeln.

Die Koordination des Netzwerkes ist im Moment in Brasilien, ab August 2009 wird sie nach Bolivien wandern, so demokratisieren wir die Struktur und erhalten die Einheit.

FRAUENSOLIDARITÄT: Kommen wir zur Sorgearbeit zurück. Gibt es da lateinamerikanische Positionen?

ANA TALLADA: Nun, wir sind ein Kontinent mit grundsätzlichen Ungleichheiten. Es gibt Orte, da sind die Durchschnittseinkünfte wie in Europa; und dann gibt es wieder Regionen, die ähneln eher einem Land südlich der Sahara. Aber der Durchschnitt versteckt ja bekanntlich die vielen Realitäten. Wir müssen schauen, was Sorge im Rahmen der Ökonomie von Sorgearbeit bedeutet und wir müssen darauf achten, was Sorge für die Frauen im Norden und für die Frauen im Süden bedeutet. Wo sind die Begegnungspunkte, wo treffen sich Netzwerke wie REMTE und WIDE und andere internationale Netzwerke. Welche Verantwortungen tragen wir im Süden, welche im Norden. Und was können wir - im Rahmen der Solidarität - gegenüber den Regierungen und den internationalen Organismen tun, um dem Thema der Sorgearbeit politische Wichtigkeit zu verleihen. Denn es ist eine Tatsache, dass die Marktwirtschaft nicht existieren würde ohne Sorgeökonomie. Und für diese tragen zu 80% die Frauen die Verantwortung.

Wir müssen aber auch sehen, wo dabei die Gelegenheiten der Frauen für Weiterbildung, für Einkommen und für ihre Sorge um sich selbst liegen. Und wenn wir von Sorge sprechen, so müssen wir das Augenmerk auch darauf legen, wie in dieser Welt produziert wird und wie konsumiert wird. Es gibt also noch viele Aufgaben, die zu bewältigen sind. Auf jeden Fall müssen wir uns artikulieren und mit unseren Möglichkeiten auf internationaler Ebene gemeinsam aktiv werden.

FRAUENSOLIDARITÄT: Ich danke für das Gespräch!

(Übersetzung aus dem Spanischen: Helga Neumayer)


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Anmerkungen:

(1) Das Interview fand im Rahmen der WIDE-Jahreskonferenz "WE CARE! Feminist responses to the care crises" im Juni 2009 in Basel statt.


Hörtipp:

Del Comedor a la Politica nacional. Entrevista con Ana Tallada (REMTE, Perú): Beitrag im Rahmen der Globalen Dialoge auf Orange 94.0, dem freien Radio in Wien am 6. Oktober 2009 (danach jederzeit abrufbar auf www.noso.at).


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 109, 3/2009, S. 10-11
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Senseng 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2009