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LATEINAMERIKA/1179: "Freie Software"-Republik Brasilien (DGVN)


Eine-Welt-Presse Nr. 1/2010
Nord-Süd-Zeitung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN)

"Freie Software"-Republik Brasilien

Die Geschichte der Verwendung kostenloser Software

Von Fernanda Weiden


Brasilien ist weltweit ein Vorbild für die Unterstützung von Freier Software durch zahlreiche Regierungseinrichtungen. Von Computer-Betriebssystemen über Textverarbeitungs- bis hin zu Buchhaltungsprogrammen - kostenlose und frei zugängliche Software ist in Brasilien nicht nur ein Plan oder eine gute Absicht. Es ist zu einer Realität geworden, ein integraler Bestandteil des Lebens vieler Menschen innerhalb und außerhalb des staatlichen Bereichs.


1999 hat die Regierung von Rio Grande do Sol, des südlichsten Bundesstaates des Landes, die Entscheidung für Freiheit und Unabhängigkeit getroffen. Sie hat beschlossen, für die Informationstechnologie-Infrastruktur des Bundesstaates Freie Software einzuführen. Dabei wurden zwar einige Fehler gemacht, aber die gewichtige Entscheidung hat dennoch die Geschichte der IT-Industrie in Brasilien grundlegend verändert. Die Regierung des Bundesstaates hat sich dadurch große Verdienste erworben, dass sie ein Gesetz einführte, durch das der Freien Software in Regierungseinrichtungen eine bevorzugte Stellung eingeräumt wurde. Außerdem werden regelmäßig die Konferenzen "Internationales Freie Software Forum" durchgeführt, die größten Treffen, die ich auf diesem Gebiet jemals erlebt habe.

Die Konferenzen wurden mithilfe lokaler Initiativen initiiert und zunächst für einige Jahre von der Regierung des Bundesstaates gefördert. Im Laufe der Zeit haben die Initiativen das Vorhaben ganz von der Regierung übernommen, eine sehr gesunde Entwicklung. Das Forum wird jetzt von einer Nichtregierungsorganisation durchgeführt, deren Mitglieder über das ganze Land verteilt leben. Abgesehen von dem Exekutivsekretär oder der Exekutivsekretärin und einer befristet beschäftigten Person wird die gesamte Konferenz ehrenamtlich organisiert. Ich selbst bin seit sieben Jahren Mitglied dieser Gruppe und helfe nun auch von Europa aus dem Programmausschuss bei seiner Arbeit.

In diesem Jahr wird die Konferenz bereits zum elften Mal durchgeführt und findet viel Beachtung bei allen, die sich mit Freier Software beschäftigen, darunter sozialen Bewegungen, Regierungsstellen, Industrie und individuellen Nutzern. Das Forum hat den Gedanken einer Freien Software wach gehalten, sodass Präsident Lula nach seiner Wahl diese Initiative aufnehmen und Freie Software in den Regierungseinrichtungen des ganzen Landes einführen konnte - ein Arbeitsbereich, in dem heute viele Freie Software-Aktivistinnen und -Aktivisten beschäftigt sind.


Regierung und Parlament werden überzeugt

Ende 2003 unternahm die neue brasilianische Regierung einen ersten wichtigen Schritt auf dem Gebiet der IT-Infrastruktur und organisierte die "Erste Woche der Freien Software des Senats". Mitglieder sozialer Bewegungen erhielten die Möglichkeit, den Parlamentsabgeordneten die Vorteile der Freien Software vorzustellen, damit sich dieser Gedanke in ihren Köpfen festsetzte. Außerdem wurden einige Freie Software-Aktivistinnen und -Aktivisten eingeladen, den strategischen Plan der Regierungen für die Einführung von Freier Software mit zu formulieren.

Zahlreiche Ministerien und Regierungseinrichtungen begannen damit, zur Verwendung von Freier Software überzugehen. Die IT-Industrie musste sich anpassen und begann damit, Freie Software-Produkte anzubieten. Es lässt sich zweifellos sagen, dass all dies die Ausrichtung der IT-Industrie in Brasilien grundlegend verändert hat. 2003 stellte die Regierung 60 Prozent der gesamten geschäftlichen IT-Nachfrage des Landes. IBM eröffnete damals ein Entwicklungsbüro für Freie Software in Brasilien, das "Linux Technology Center", in dem inzwischen mehr als 50 Personen beschäftigt werden.

Abgesehen davon, dass Freie Software in Regierungseinrichtungen eingeführt wurde, entstanden auch verschiedene Projekte, die dabei helfen, Freie Software zu den Menschen vor Ort zu bringen. Ich selbst schätze vor allem zwei dieser Projekte: "Kulturpunkte" des Kulturministeriums und "Computer für alle" des Ministeriums für Wissenschaft und Technologie.


"Kulturpunkte" - eine brasilianische Erfolgsgeschichte

"Kulturpunkte" (im Portugiesischen "Pontos de Cultura") ist ein Programm, mit dem das Ziel verfolgt wird, die kulturellen Aktivitäten lokaler Gemeinschaften im Lande zu stärken. Typischerweise entwickelt eine in der lokalen Bevölkerung verankerte Nichtregierungsorganisation ein Projekt mit kulturellen Inhalten und baut dann eine Partnerschaft mit dem Ministerium auf, um das Vorhaben finanziert zu bekommen. Von einem Teil der empfangenen Gelder wird Ausrüstung für multimediale Produktionen gekauft, und auf diesen Geräten wird dann Freie Software installiert.

Die Programmkoordination vermittelt den Mitgliedern der lokalen Gemeinschaften anschließend, wie die neue Technologie genutzt werden kann. Inzwischen gibt es mehr als 650 "Kulturpunkte", verteilt über das ganze Land. Sie ermöglichen es den lokalen Gemeinschaften, ihre Abhängigkeit von den Mainstream-Kulturprodukten abzubauen und selbst zu Medienakteuren in ihrer Region zu werden. "Kulturpunkte"-Programme wurden zunächst von einer Gruppe von Hackern entwickelt und dann vom Kulturministerium übernommen. Das ist meiner Meinung nach der Grund, dass das Programm überall im Land von den lokalen Gemeinschaften so positiv aufgenommen worden ist.


Computer für 20 Euro im Monat

Das andere Programm, "Computer für alle", ist ein Projekt, das Computerherstellern Steuervergünstigungen offeriert, die PCs mit Freier Software auf den Markt bringen. 26 Anwendungsbereiche müssen in dem Softwarepaket enthalten sein. Es ist möglich, solche Computer für monatliche Raten von umgerechnet 20 Euro zu erwerben. Dieses Programm hat die IT-Industrie dazu veranlasst, mehr Freie Software zu entwickeln und dafür auch ein Support-System für die Nutzerinnen und Nutzer aufzubauen. Inzwischen sind etwa 18 Hersteller an diesem Programm beteiligt.

Heute ist die Mitwirkung der Regierung an Treffen der Freien Software-Gemeinschaft keine überraschende Nachricht mehr. Im letzten Jahr hat Präsident Lula eine Ansprache beim "Internationalen Freie Software Forum" gehalten und damit erneut das Engagement der Regierung für diese IT-Politik zum Ausdruck gebracht. 2010 finden Präsidentschaftswahlen in Brasilien statt, und es bleibt abzuwarten, ob dieses Engagement den Präsidentenwechsel überdauern wird. Brasilien hat sich ohne Zweifel einen Namen in der Geschichte der Freien Software gemacht, und ich hoffe, dass die Freie Software weiterhin ein Teil der brasilianischen Geschichte bleiben wird. Wir können der neuen Regierung nur die richtigen Fragen stellen und hoffen, dass sie die richtigen Antworten darauf geben wird.


Fernanda Weiden ist Brasilianerin und seit vielen Jahren "Free Software"-Aktivistin. Sie ist Vizepräsidentin der "Free Software Foundation Europe" und arbeitet für Google in der Schweiz.

Übersetzung des Beitrags aus dem Englischen: Frank Kürschner-Pelkmann


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Quelle:
Eine-Welt-Presse Nr. 1/2010, 27. Jahrgang, Seite 7
Nord-Süd-Zeitung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010