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LATEINAMERIKA/1192: Venezuela - Willkommene Kapitalisten, brasilianische Großfirmen landesweit präsent (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. November 2010

Venezuela: Willkommene Kapitalisten - Brasilianische Großfirmen landesweit präsent

Von Humberto Márquez


Caracas, 23. November (IPS) - In Venezuela zeigen brasilianische Großkonzerne mit Baukränen, Brücken, Großbaustellen, Hafenanlagen, Raffinerien und anderen Industrieanlagen landesweit Flagge. Im Land des von Staatspräsident Hugo Chávez propagierten 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts' sind kapitalkräftige Investoren aus dem Nachbarland Brasilien hoch willkommen.

Anders als die 220 inländischen und ausländischen Unternehmen, die die Regierung in Caracas allein im Laufe dieses Jahres nationalisiert hat, haben brasilianische Unternehmen keine Verstaatlichung zu befürchten. Dies hatte Chávez selbst in einem 2009 unbeabsichtigt mitgeschnittenen Gespräch mit dem damaligen brasilianischen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva versichert. Die brasilianischen Konzerne sind als verlässliche Partner für Ausbau und Modernisierung der venezolanischen Infrastruktur unentbehrlich. Venezuela dient ihnen zudem als Brückenkopf, von dem aus sie den karibischen Raum erobern wollen.

Allen voran der brasilianische Baukonzern Odebrecht. Das Privatunternehmen hat in Venezuela für viele Milliarden US-Dollar mindestens 15 Großprojekte hochgezogen. Gegenüber IPS erklärte der Direktor der venezolanisch-brasilianischen Industrie- und Handelskammer, Fernando Portela: "Brasiliens Baukonzerne kommen mit der venezolanischen Regierung gut aus, zumal ihnen die Integrationspolitik der brasilianischen Regierung und die brasilianische Zentralbank (BNDES) den Rücken stärken."

Seit jeher ging es Venezuela beim Ausbau seiner Infrastruktur vorrangig um den Erdölexport. Die international hohen Ölpreise brachten Südamerikas Erdölproduzenten Nummer eins in die günstige Lage, Brasilien technische Dienste und Partnerschaften in der Schwerindustrie und im Handel anbieten zu können.

"Bei brasilianischen Unternehmen besteht ein großes Interesse am Einstieg in große venezolanische Industriekomplexe und in den Markt, entweder durch Firmenübernahmen oder durch Partnerschaften. So lässt sich ein großes Wirtschaftsgebiet erschließen, das von Nordbrasilien nach Venezuela und bis in die Karibik reicht", betonte Portela.

"Ob Chávez regiert oder nicht, für uns gibt es noch Arbeit für mindestens zehn Jahre", erklärte der venezolanische Geschäftsmann Luis Berlioz. Sein Unternehmen COMOPA beliefert brasilianische Firmen mit Bauteilen aus Beton.


Große Brücken und Staudämme

Weithin sichtbare, spektakuläre Ikone der venezolanisch-brasilianischen Wirtschaftspartnerschaft ist die zweite, drei Kilometer lange Autobahnbrücke über den Orinoco. Das zwischen 2001 und 2006 gebaute Großprojekt kostete einschließlich der Zufahrtsrampen und Anschlussstraßen umgerechnet 1,28 Milliarden Dollar. Allein die Brückenkosten lagen am Ende bei 886 Millionen Dollar, fast doppelt so viel wie die anfangs veranschlagten Kosten von 480 Millionen Dollar.

Von der neuen Autobahnbrücke profitieren zwei Millionen Menschen, die im Südwesten des Landes leben. Mit ihrer Nähe zur 500 Kilometer von Caracas entfernten Industriestadt Ciudad Guyana ist sie eine wichtige Verbindung zu den Karibikhäfen im Nordosten Venezuelas.

Auch bei anderen venezolanischen Großprojekten, an denen der brasilianische Bauriese Odebrecht beteiligt ist, geht die Zahl der Nutzer in die Millionen. So etwa wird der Tocoma-Staudamm am Unterlauf des Caroni-Flusses im Südosten bei seiner Fertigstellung die Leistung des angrenzenden Wasserkraftwerks um 2.000 auf fast 14.000 Megawatt steigern.

In Caracas und seinen Nachbarstädten baut Odebrecht neue U-Bahn- und Busstrecken sowie im Osten der Stadt und in Maracaibo eine Abwasser- und Kläranlagen. Odebrecht ist auch Bauherr der Telefericos, der Seilbahn, die Touristen von Caracas aus auf die umliegenden Berge bringt. Im Südosten baut der brasilianische Großkonzern einen Komplex mit 11.000 Wohneinheiten, eine Raffinerie sowie Hafenanlagen und eine dritte Brücke über den Orinoco.

"Odebrecht ist gut für Venezuela, denn der Konzern besteht auf solventen Subunternehmen und auf der Sicherheit seiner Arbeiter", lobte Berlioz. "Es ist nämlich schwierig, Projektbudgets einzuhalten, wenn sich das Baumaterial verspätet oder man es mit bis zu zehn Gewerkschaften zu tun hat, die sich häufig untereinander bekämpfen."

Der brasilianische Baukonzern Camargo Correa ist derzeit dabei, das Wasserleitungsnetz vom Tuy-Fluss, das Caracas mit Trinkwasser versorgt, auszubauen. Die Projektkosten belaufen sich auf umgerechnet 476 Millionen Dollar.

In nordwestlichen Bundesstaat Zulia arbeitet der brasilianische Stahlkocher Gerdau seit 2007 mit dem Sizuca-Stahlwerk zusammen. Hier werden jährlich 300.000 Tonnen Stahl und 200.000 Tonnen Laminatstahl produziert. In der Nähe stellt eine Fabrik der brasilianischen Firma Oxiteno Tenside her, die in Waschmitteln, Kosmetika, Farben und Textilien verwendet werden.

In dieser Region operiert auch Venezuelas staatliches Kohlebergwerk Corpozulia. Als die Geschäftsleitung mit dem brasilianischen Unternehmen Vale de Rio Doce CRVD) einen Fördervertrag für das Gebiet von Perijá abschloss, protestierten vier einheimische indigene Gruppen. Sie wehren sich dagegen, dass die Kohleförderung auf das Traditionsland ihrer Ahnen ausgedehnt werden sollte.


Bilaterale Handelsbilanz fällt zugunsten Brasiliens aus

Neben der in Venezuela allgegenwärtigen Präsenz brasilianischer Investoren hat sich auch der bilaterale Handel zwischen den beiden südamerikanischen Nachbarn zu Gunsten Brasiliens entwickelt. 1999 lag das bilaterale Handelsvolumen mit einem venezolanischen Anteil von 974 Millionen Dollar bei 1,5 Milliarden Dollar. Zehn Jahre später erreichten die brasilianischen Exporte nach Venezuela ein Volumen von 3,6 Milliarden Dollar. Die Importe aus Venezuela machten nur noch 581 Millionen Dollar aus.

"Dieser Trend wird sich auch 2010 fortsetzen. Man rechnet in Venezuela mit Exporten von 600 Millionen Dollar und mit brasilianischen Importen von 3,5 Milliarden Dollar", erklärte Carlos Santana. Er leitet in der brasilianischen Botschaft in Caracas die für die Handelsförderung zuständige Abteilung.

Venezuela importiert aus Brasilien vor allem Nahrungsmittel wie Fleisch, Zucker, Milch und Sojaöl, Autoreifen und -zubehör sowie Mobiltelefone. Im Gegenzug liefert es Brasilien hauptsächlich petrochemische Produkte, Kohle, Koks für die Stahlproduktion sowie Elektrizität aus den Wasserkraftwerken am Caroni-Fluss.

Doch die globale Wirtschaftskrise hinterließ auch bei den in Venezuela operierenden brasilianischen Unternehmen ihre Spuren. Der Petrochemie-Konzern Braskem halbierte die für die Erweiterung seines Werks Propilsur in Ostvenezuela geplante Investition von einer Milliarde Dollar.


Paraguay verzögert Venezuelas Vollmitgliedschaft im Mercosur

Auch der venezolanische Ölkonzern PDVSA (Pétroleos de Venezuela) hat Mühe, seinen 40-prozentigen Anteil an der Vier-Milliarden-Dollar-Raffinerie Abreu e Lima im nordöstlichen Brasilien aufzubringen. Hier sollen täglich 230.000 Barrel Erdöl verarbeitet werden, das größtenteils aus Venezuela geliefert wird.

Portela berichtete: "In Venezuela liegen derzeit rund 36 Projekte mit brasilianischer Beteiligung auf Eis. Sie warten auf bessere Konditionen, die man sich nicht zuletzt vom offiziellen Beitritt Venezuelas zu Mersocur, dem Gemeinsamen Markt Südamerikas, erhofft." Dadurch werde das Zollsystem vereinfacht, der Handel verbessert und für brasilianische Unternehmen in Venezuela gäbe es eine größere Rechtssicherheit", meinte er.

Venezuela hatte den Vertrag über seinen Beitritt zum Mercosur bereits 2006 unterzeichnet. Offizielles Mitglied wird das Land jedoch erst, wenn der paraguayische Kongress seinem Beitritt zustimmt. (Ende/IPS/mp/2010)

Link:
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=53623
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=96885


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 23. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2010