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LATEINAMERIKA/1207: Argentinien - Verurteilung von Ex-Diktator beschließt "Jahr der Prozesse" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Dezember 2010

Argentinien: Verurteilung von Ex-Diktator Videla beschließt "Jahr der Prozesse"

Von Marcela Valente


Buenos Aires, 23. Dezember (IPS) - Das Verfahren gegen Argentiniens Ex-Diktator Jorge Rafael, das am 22. Dezember mit der Verhängung einer lebenslangen Haftstrafe zu Ende ging, bildet den bisherigen Höhepunkt einer diesjährigen Prozesslawine gegen Menschenrechtsverletzer in Uniform.

Das zuständige Bundesgericht befand Videla am 22. Dezember der Folter und des Mordes an 31 politischen Gefangenen im Jahre 1976 in der Haftanstalt San Martín für schuldig. Die Opfer waren aus ihren Zellen gezerrt, brutal misshandelt und nach Falschaussagen der Militärs "auf der Flucht" erschossen worden. Zusammen mit Ex-General Luciano Benjamín Menéndez, ehemaliger Kommandant des dritten Armeecorps in Córdoba, muss der 85-jährige Juntachef nun lebenslang hinter Gittern.

In ihrem einstimmigen Urteil kamen die zuständigen Bundesrichter zu dem Schluss, dass die Fälle von Folter und Mord im San Martín-Gefängnis besonders schwer wiegen, weil es sich bei den Opfern um politische Häftlinge handelte. Videla muss dem Urteil zufolge seine Haftstrafe in einer zivilen Vollzugsanstalt absitzen.

Dem Ex-Diktator war bereits vor 25 Jahren erstmals der Prozess gemacht worden. Fünf Jahre lang saß er hinter Gittern, dann kam er wie auch Menéndez und viele andere Militärs 1990 in den Genuss einer Amnestie. 1998 wurde Videla im Zusammenhang mit der Entführung von Säuglingen, die weibliche Häftlinge in Gefangenschaft geboren hatten, erneut festgenommen. 2008 ordneten die Gerichte seine Überstellung ins Militärgefängnis 'Campo de Mayo' in Buenos Aires an.

Videla, der den Putsch gegen die Regierung von Isabel Perón (1973-1976) angeführt hatte, erklärte in seinem Plädoyer: "Das war kein 'schmutziger', sondern ein gerechter Krieg. Wir haben das Land vor 'jungen Idealisten' gerettet, die eine Kultur durchsetzen wollten, die mit unserem traditionell westlichen und christlichen Lebensstil unvereinbar ist."


Prozess gegen "ruhmreiche Soldaten"

Menéndez kam erst nach der Annullierung der Amnestiegesetze und Begnadigungen erneut vor Gericht. Seit 2008 wurde er fünf Mal zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Vor der Verkündung des jüngsten Richterspruchs rechtfertigte auch er seine Handlungen als Akt der politischen Notwendigkeit. "Wir Argentinier erlebten einen Angriff marxistischer Aufständischer, die auf Geheiß der Sowjetunion und Kubas versuchten, unser Land zu übernehmen", sagte er.

Argentiniens Generälen sei in kürzester Zeit gelungen, was Kolumbien in seinem Jahrzehnte langen bewaffneten Konflikt bis heute nicht geglückt sei: der Sieg über die linke Guerilla, so Menéndez. Er kritisierte Argentinien als das erste Land der Welt, "das seinen ruhmreichen Soldaten den Prozess macht".

Außer Videla und Menéndez wurden am 22. Dezember zudem 15 Angehörige von Armee und Polizei zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Zudem wurden sieben Sicherheitskräfte - inklusive einer Polizistin - zu sechs bis 14 Jahren Jahren Gefängnis verurteilt. Sieben wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

CELS hat in seinem Jahresbericht die Fortschritte und Rückschläge im Kampf gegen die Straffreiheit seit der Annullierung der Amnestiegesetze und Begnadigungen im Jahre 2006 durch die Regierung des in zwischen verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner (2003-2007) dokumentiert.

"In unserem nächsten Bericht werden wir 2010 zum Jahr der Gerichtsverhandlungen erklären", betonte die CELS-Anwältin Lorena Balardini. 2009 seien insgesamt elf Verhandlungen zum Abschluss gebracht worden. 2010 waren es 15. Zehn weitere Verfahren würden sich in den kommenden Monaten entscheiden. Gegen 1.200 der insgesamt 1.600 Personen, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich gemacht werden, laufen strafrechtliche Ermittlungen.

Von den 350 Verfahren im Zusammenhang mit Argentiniens 'Verschwundenen', die bei verschiedenen Gerichten des Landes anhängig sind, konnten 30 zu Ende und zehn fast zu Ende gebracht werden. 300 Verfahren seien jedoch noch nicht in die Anhörungsphase getreten. Die Zahl der Menschen, die während der Diktatur 'verschwanden' - also verschleppt, ermordet und verscharrt wurden - beläuft sich auf 30.000.


Verfahren bündeln

Nach Ansicht der CELS-Anwältin sollten die Fälle nach bestimmten Kriterien geordnet und zusammengefasst werden, um sie möglichst schnell - bevor die häufig betagten Täter und Zeugen sterben - bewältigen zu können.

30 Angeklagte haben das Jahr 2010 nicht überlebt. Dazu zählt auch der ehemalige Admiral Emilio Massera, der als Mitglied der Junta die berüchtigte Mechanik-Schule der Marine (ESMA) in Buenos Aires führte. ESMA war Argentiniens größtes geheimes Folterzentrum, das mehr als 2.000 politische Gefangenen durchliefen. Die meisten von ihnen wurden betäubt und aus Flugzeugen über dem Río de la Plata abgeworfen.

Darüber hinaus sind auch Zeugen und Angehörige der Diktaturopfer im fortgeschrittenen Alter. Adriana Calvo war die erste Überlebende der Diktatur, die 1985 den Mut fand, gegen Videla und andere Militärs auszusagen. Sie verstarb in diesem Monat. (Ende/IPS/kb/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2010