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LATEINAMERIKA/1352: Argentinien - Identifizierung ermordeter Diktaturopfer kommt nur langsam voran (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Juni 2012

Argentinien: Identifizierung ermordeter Diktaturopfer kommt nur langsam voran

von Marcela Valente



Buenos Aires, 8. Juni (IPS) - Seit dem Ende der argentinischen Diktatur sind bald 30 Jahre vergangen, doch die Suche nach den 'Verschwundenen' geht weiter. Immer wieder werden die Überreste von Opfern der Militärherrschaft (1976-1983) gefunden, doch die Identifizierung gestaltet sich schwierig.

"Die Gebeine meines Vaters in Empfang zu nehmen, war eine äußerst schmerzhafte Erfahrung", berichtet Sandra Márquez, die Tochter des ehemaligen Provinzsenators Damián Márquez, der 1977 verschwand.

35 Jahre nach der Entführung des Provinzpolitikers wurden seine Überreste und die weiterer 14 Personen auf dem Gelände der 'Compañía de Arsenales Miguel de Azcuénaga' in der Provinz Tucumán im Nordwesten Argentiniens geborgen. Das ehemalige Waffenlager diente den Diktatoren als geheimes Haft- und Folterzentrum.

Im März gelang den Forschern des Argentinischen Teams für forensische Anthropologie (EAAF) die Identifizierung von Márquez und zwei weiteren Verschwundenen. Diese hatten in einem von fünf Gräbern gelegen, in denen auch Knochenfragmente, Kleidungsreste und Stücke verbrannter Gummireifen gefunden wurden.

"Wir stießen auf 15 komplette Skelette und tausende Knochenteile, die den Rückschluss zulassen, dass man Leichen verbrannt hat", berichtet Cecilia Ayerdi vom EAAF, einer gemeinnützigen Organisation. "Das ist auch ein Grund dafür, warum es so schwierig ist, an Material für einen DNA-Abgleich zu kommen."


Wertvolle Zeugenaussagen

Dass sie zumindest drei der Leichen identifizieren konnten, verdanken die forensischen Anthropologen Vernehmungen im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung über Zwangsentführungen in Tucumán. Die Zeugenaussage des ehemaligen Gendarms Omar Torres sollte sich dabei als besonders aufschlussreich herausstellen.

Torres sagte aus, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie der damalige General und De-Facto-Provinzgouverneur Antonio Domingo Bussi Gefangene in Arsenales erschossen habe. Er sei in der Regel um Mitternacht im Kampfanzug zusammen mit anderen Offizieren in dem Folterzentrum erschienen.

Auf dem Gelände habe man zwei Meter tiefe und vier Meter breite Gräber ausgehoben, berichtete Torres. Die Gefangenen mussten am Rand niederknien. Sie wurden mit Kopfschüssen hingerichtet, ihre Leichen in einem Feuer aus Holz und Gummireifen verbrannt. Torres Schilderungen deckten sich mit den Untersuchungsergebnissen des EEAF.

Nach der Rückkehr der Demokratie wurde Bussi wegen Korruptionsvorwürfen aus der Armee ausgeschlossen und später wegen Entführung, Folter und Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Er profitierte jedoch von den (2005 aufgehobenen) Amnestiegesetzen der 1980er Jahre und sicherte sich von 1995 bis 1999 den Posten des Provinzgouverneurs. Ab 2003 musste er sich jedoch erneut einem Menschenrechtsverfahren stellen. 2008 wurde er zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Auch in anderen Provinzen werden geheime Friedhöfe der Diktatur gefunden, die etwa 30.000 Menschen das Leben kostete. Im Nachbarland Uruguay wurden die Leichen der Argentinier angeschwemmt, die von ihren Mördern über dem Meer oder dem Rio de la Plata abgeworfen worden waren.

Victoria Montenegro war einen Monat alt, als ihre Eltern - zwei Monate vor dem Putsch im März 1976 - verschwanden und sie in die Obhut einer Militärsfamilie gegeben wurde. Erst kürzlich hat sie erfahren, dass die Leiche ihres biologischen Vaters in einem Grab in Uruguay gefunden wurde. Der DNA-Abgleich brachte Gewissheit.

36 Jahre sollte es dauern, bevor Victoria Montenegro erfuhr, wer ihre leiblichen Eltern waren. "Die Wahrheit war traurig und tröstlich zugleich", sagt sie. "Ich freue mich über das Wunder, dass mein Vater wieder aufgetaucht ist, obwohl der terroristische Staat genau das verhindern wollte."

EAAF verfügt über etwa 8.400 DNA-Proben von Angehörigen von etwa 4.500 Verschwundenen. Bislang ließ sich erst die Identität von 515 Vermissten feststellen. Weitere 600 Leichen konnten exhumiert, nicht aber identifiziert werden.


Mehr DNA-Proben nötig

Ayerdi zufolge gibt es Fälle, in denen direkte Verwandte von Verschwundenen nicht überlebt haben. Aus diesem Grund bemüht sich das EAAF um die Genehmigung, auch DNA-Proben Verstorbener nehmen zu dürfen. Zudem sind nicht alle Angehörigen bereit, Blutproben zu geben. "Manche argumentieren, sie hätten genug getrauert. Andere wissen gar nicht, dass es diese Möglichkeit der Suche gibt."

Doch die Berichterstattung über den Montenegro-Fall hat dem EAAF neue Blutproben verschafft. Gelagert werden sie in der 2007 vom EAAF im Rahmen der Lateinamerikanischen Initiative zur Identifizierung verschwundener Menschen eingerichteten Blutbank. "Wir brauchen noch viel mehr Blutproben", sagt Ayerdi. Bis heute konnten 250 Verschwundene gefunden und identifiziert werden - davon die Hälfte in den letzten fünf Jahren.

Immer wieder kommt es zu neuen Leichenfunden wie im Oktober 2011, als 300 Leichen in 120 Gräbern auf dem La-Piedad-Friedhof in Rosario im Nordosten der Provinz Santa Fe geborgen wurden. Erst zwölf konnten Verschwundenen zugeordnet werden.

Wie Sandra Márquez gegenüber IPS erklärte, hatten sie und ihr Bruder nie wirklich daran geglaubt, dass der Leichnam ihres Vaters gefunden wird. Nun sind die Geschwister froh, dass sie dem Ermordeten ein würdiges Begräbnis geben konnten. "Es war schon sehr heftig, seine Knochen in Empfang zu nehmen. Gleichzeitig waren wir so dankbar, das traurige Kapitel endlich schließen zu können. Ich hoffe, dass auch andere Angehörige Verschwundener diese tröstliche Erfahrung machen dürfen. Mein Vater ist nun kein Verschwundener mehr." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://www.eaaf.org/
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=100885
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=108039

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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2012