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LATEINAMERIKA/1440: Sozioökonomischer Wandel in Brasilien nach einer Dekade PT-Regierungen (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

»Wie noch nie zuvor«
Sozioökonomischer Wandel in Brasilien nach einer Dekade PT-Regierungen

von Yesko Quiroga
November 2013



• Nach einem Jahrzehnt weisen die von der Arbeiterpartei PT geführten Regierungen bemerkenswerte Erfolge auf. Der sozioökonomische Wandel Brasiliens hat auch eine neue aktive Außenpolitik des Schwellenlandes befördert.

• Die eingeleiteten Trends unterscheiden sich deutlich von der Politik der vorherigen Regierungen: Es gibt Erfolge bei der Armutsbekämpfung, im Ausbau des Sozialstaates, in der Zunahme der Arbeitsplätze, der Mindestlohn- und Lohnpolitik sowie in der Bedeutung der Binnennachfrage für die Entwicklung.

• Die umfangreichen Proteste Mitte 2013 sind Ausdruck der materiellen Grenzen dieser positiven Entwicklung. Die Debatte um Qualität und Umfang sozialer Rechte, die Erweiterung der partizipativen Elemente in der Demokratie sowie die Ausgestaltung des Wachstumsmodells wird die politische Agenda der nächsten Dekade bestimmen.

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Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff (seit 2010) hat mehr als die Hälfte ihrer Amtszeit hinter sich. Zeitgleich ist die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) seit einer Dekade an der Regierung. Allerdings sind die Machtverhältnisse weniger eindeutig, als diese Aussage erscheint. Denn im brasilianischen »Koalitionspräsidentialismus« ist die Regierung immer wieder davon abhängig, wie gut sie wechselnde parlamentarische Koalitionen aus zahlreichen Parteien sowie verschiedene, auch jenseits der Parteiengrenzen agierende Fraktionen zufriedenstellt. Mangelnde Partei(en)kohäsion, erfolgreicher Lobbyismus und die Abhängigkeit der Politik von privaten Spenden mangels öffentlicher Wahlkampffinanzierung erklären, warum Mitglieder der Regierungskoalition mitunter bereit sind, Vorhaben scheitern zu lassen.

Dass die PT über drei Amtszeiten den Präsidenten bzw. die Präsidentin stellen konnte, wurde nur möglich, weil viele der ursprünglichen Pläne struktureller Veränderung aufgegeben und die Partei so über das linke Spektrum hinaus koalitionsfähig wurde. Im Kern wurden, anders als in Bolivien, Ecuador oder Venezuela, die machtpolitischen Strukturen aufrechterhalten. Aber auch innerhalb dieses abgesteckten Rahmens konnten Reformprozesse in Gang gesetzt werden, die Brasilien als erfolgreiches Schwellenland etablierten. Und im Land war die Zustimmung zur Regierungspolitik mit wenigen Ausnahmen ebenfalls sehr hoch.

Brasilien steht für Wachstum und für sozialen Fortschritt. Hieraus leitet das Land auch seine neue Außenpolitik ab, mit der es sowohl einen Anspruch auf Beteiligung in den Strukturen von global governance als auch eine Veränderung dieser Entscheidungsmechanismen anstrebt. In praktisch allen globalen Foren sowie mit diversifizierten Partnerstrukturen verfolgt Brasilien diese Ziele.

Umso überraschender waren die sozialen Proteste, die das Land im Juni 2013 erschütterten und die, zumindest auf den ersten Blick, im Widerspruch zu den gängigen Interpretationen der sozioökonomischen Entwicklung Brasiliens stehen. Um sie zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf die letzten Jahrzehnte hilfreich.



Von Krisen zu Betriebsunfällen

Im Jahr 2002 kam es aus konservativer Sicht zu einem bedauerlichen politischen Betriebsunfall. Nach drei erfolglosen Anläufen wurde mit Luiz Inácio Lula da Silva ein Gewerkschafter und der Mitbegründer der Arbeiterpartei PT zum Präsidenten (2003-2010) gewählt. Hofften die einen auf eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse, gingen die anderen von einem Intermezzo aus, das sich aufgrund des abzusehenden wirtschaftlichen Chaos von selbst erledigen würde.

Nicht zu unterschätzen waren zum damaligen Zeitpunkt die Krisenerfahrungen des Landes: Nachdem es 1985 nach über 20 Jahren Diktatur zur Demokratie zurückgekehrt war, hatte es allein bis Mitte der 1990er Jahre zwei hyperinflationäre Prozesse durchgemacht; die Auswirkungen der Schuldenkrise konnten erst Ende der 1990er Jahre unter Kontrolle gebracht werden. Mit der 1994 unter dem Wirtschaftsminister und späteren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) durchgeführten Währungsreform konnten die wirtschaftlichen Rahmendaten langsam stabilisiert werden.

Bereits zuvor hatte sich Brasilien dem globalen wirtschaftspolitischen Credo neoliberaler Prägung angeschlossen: Durch Deregulierung, Austerität oder Privatisierung von Staatsunternehmen wurde die Rolle des Staates reduziert. Dass dies nie so weit ging wie etwa in Chile oder in Argentinien, war nicht zuletzt den Gewerkschaften, den sozialen Bewegungen sowie der PT und anderen linken Parteien geschuldet. Diese stemmten sich gegen die Pläne, sogenannte strategische Branchen, wie etwa die Staatsbanken oder die Erdölgesellschaft Petrobras, zu privatisieren. Auch die erst wenige Jahre zuvor durch eine fortschrittliche Verfassung geschaffenen sozialstaatlichen Institutionen, wie das universelle Gesundheits- und das umlagenfinanzierte Rentensystem, konnten erfolgreich verteidigt werden.

Die Notwendigkeit makroökonomischer Stabilisierung stand außer Zweifel. Zwischen 1993 und 1995 stellte sich auch ein starkes Wirtschaftswachstum ein. Ein wichtiger Grund hierfür war die Normalisierung des Konsums. Eine Trendwende ergab sich jedoch nicht: Während der gesamten 1980er und 1990er Jahre stagnierte das Pro-Kopf-Wachstum des Landes. Zudem zeigten sich die sozioökonomischen Grenzen wirtschaftspolitischer Vorgaben, die einseitig auf das vermeintlich wohlstandsförderliche Schaffen freier Märkte und auf eine exportorientierte Entwicklung setzten.

Noch heute wird um die Frage des originären Anteils der PT-Regierungen am sichtbaren Entwicklungsfortschritt gestritten. Während die einen die Darstellung der Erfolge mit einem inflationären »wie noch nie zuvor« begleiten und damit die Nerven selbst wohlmeinender Menschen mitunter strapazieren, sehen die anderen einen kausalen Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Stabilisierung unter der Regierung Cardoso. Dahinter steckt nicht nur eine interne Debatte über die Interpretation brasilianischer Entwicklung, sondern eine weiterhin global virulente Auseinandersetzung um die Fragen, wie viel Staat und wie viel Markt notwendig ist, welche Politik den Wohlstand vieler (und nicht nur weniger) fördert und welcher Typus von Volkswirtschaft sich am erfolgreichsten im globalisierten Wettbewerb behaupten kann.



Wachstum für wen?

»Wachstum und Umverteilung« ist der Slogan der Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Und tatsächlich verweist er auf politische Entscheidungen, die sich von denen der vorherigen Regierungen deutlich unterscheiden. Nicht, dass es unter der Regierung Cardoso keinerlei sozialen Fortschritt gegeben hätte: Die Kinder- und Müttersterblichkeit sowie die Analphabetismusrate sanken deutlich, auch die Lebenserwartung stieg stetig. Jedoch stagnierte während seiner gesamten Regierungszeit die Armut auf hohem Niveau. Die absolute Zahl der Armen stieg auf 56 Millionen Menschen. Die Einkommen der breiten Masse veränderten sich kaum. Um die 35 Prozent aller Familien verharrten bei einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem halben Mindestlohn, der zwischen 1992 und 2002 zudem an Kaufkraft verloren hatte.

Brasilien gehörte bereits zuvor zu den ungerechtesten Ländern der Welt, und auch unter den Regierungen von Cardoso kam es zu keinen relevanten Veränderungen bei der Einkommensverteilung. Im Jahr 2003 übernahm die neue Regierung ein makroökonomisch leidlich stabilisiertes Land mit desaströsen Sozialindikatoren.



Armut und Armutsbekämpfung

Ein grundlegendes Versprechen Lulas war die Ausrottung der Unterernährung im Land. Über 72 Millionen Menschen hatten 2003 keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmitteln, 14 Millionen Menschen hungerten. Mit der Strategie Fome Zero - Null Hunger -, die verschiedene Ansätze umfasst (z. B. Zugang zu Lebensmitteln, Stärkung der familiären Kleinproduktion, Schulspeisungen), und dem beispielhaften Sozialhilfeprogramm Bolsa Familia wurden schnell Fortschritte im Kampf gegen Hunger und extreme Armut erzielt, die internationale Anerkennung erhielten. Kritik am Programm wurde rasch widerlegt. Ein politischer Konsens ist für diese sogenannten fokalisierten Transferprogramme relativ leicht zu finden, da sie unabhängig von Richtungsentscheidungen für oder gegen ein Sozialstaatsmodell umgesetzt werden können. Denn Bolsa Familia ist nicht nur erfolgreich, sondern mit 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auch billig.

Heute erhalten 13,8 Millionen Familien, fast 50 Millionen Menschen, Transferleistungen, die an die Höhe des Familieneinkommens gekoppelt sind. Monatliche finanzielle Leistungen heben v. a. die Empfängerinnen über die als extreme Armut definierte Schwelle von 23 Euro und sind an regelmäßigen Schulbesuch, Gesundheitsuntersuchungen und Alphabetisierung geknüpft. Das auf 25 Jahre angelegte UN-Millenniumsziel, extreme Armut zu halbieren, wurde so in nur sechs Jahren erreicht. Bis 2012 war die absolute Armut auf 3,6 Prozent gesunken. Auch die Zahl der Armen, deren Einkommen bei unter 46 Euro liegt, hat sich von 41 auf 15,7 Millionen Menschen verringert (8,5 Prozent).

Hier liegt der erste Unterschied zu den vorherigen Regierungen: Armutsreduzierung wurde als zentrale staatliche Aufgabe begriffen und mit unterschiedlichen Mitteln in Angriff genommen.


Arbeitsmarkt und Einkommen: Wie der Mindestlohn das Wachstum steigert

Bolsa Familia wird häufig als grundlegend für die Verringerung sozialer Ungleichheit und die soziale Mobilität angeführt. Genau diese Erfolge erklären sich aber in erster Linie durch das Wachstum der Arbeitseinkommen und den Ausbau des Sozialstaates, da das Programm zwar die extreme Armut bekämpft, aufgrund seiner geringen Zuschüsse jedoch nicht in der Lage ist, Armut zu beseitigen.

Der zweite Unterschied zu früheren Regierungen liegt in der Lohnpolitik. Die wirtschaftsliberale Konzeption verstand den bereits 1940 eingeführten Mindestlohn vor allem als Kostenfaktor für Unternehmen und Staat, dessen Erhöhung, so der Duktus, formelle Beschäftigung reduziere. Nur eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts und die Senkung der Arbeitskosten würden zu mehr Wachstum und zu mehr Arbeitsplätzen führen. Das genaue Gegenteil trat ein.

Der Mindestlohn ist seit 2002 real um 71 Prozent gestiegen. Mit einer einfachen, gesetzlich (bis 2015) festgelegten Formel wird das Argument der aus Sicht der Wirtschaft willkürlichen politischen Erhöhungen entkräftet: Der jährliche Zuwachs entspricht der Summe der Inflationsrate des Vorjahres und des Wirtschaftswachstums des vorletzten Jahres. Der Mindestlohn beträgt heute etwa 225 Euro monatlich und wirkt sich direkt auf das Einkommen von 45,5 Millionen Menschen aus. 21 Millionen davon beziehen eine Rente aus dem staatlichen Umlagesystem.

Doch auch die Gewerkschaften konnten in fast allen Branchen reale Zuwächse erwirken. Das durchschnittliche Einkommen der Beschäftigten ist seit 2004 real um 37 Prozent gestiegen und liegt heute bei etwa 500 Euro monatlich. Im Gegensatz zu den Jahren 1992 bis 2002 wuchs das Familieneinkommen der Ärmsten zudem deutlich schneller als das der Reichsten. Millionen von Menschen erhielten so Zugang zum Konsummarkt. Die wachsende Nachfrage regte die Produktion an, parallel nahm die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt zu. Seit 2003 wurden 19 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen. Über 60 Prozent der Beschäftigten zahlen inzwischen Sozialversicherungsbeiträge; zehn Jahre zuvor waren dies nur 45 Prozent. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2002 halbiert. Der Arbeitsmarkt wurde zum Motor sozialer Mobilität.



Wachstum und Binnenmarkt

Das BIP pro Kopf ist seit 2003 und trotz des Einbruchs seit 2011 bis heute real um 28 Prozent gestiegen. Das Wachstum unter der ersten Regierung Lula war besonders auf die Nachfragesteigerung durch Lohnerhöhungen sowie auf die Ausweitung der Kreditvergabe zurückzuführen. Seit der zweiten Amtszeit stiegen zudem die öffentlichen und privaten Investitionen. Hinzu kamen günstige externe Rahmenbedingungen. Nachfrage und Preise für Rohstoffe wuchsen stetig. Seit 2002 haben sich die Exporte vervierfacht, die Importe sogar verfünffacht. Jedoch war der Außenhandel, der etwa 20 Prozent des BIP beträgt, für das Wachstum weit weniger relevant als die Binnennachfrage.

Trotz der insgesamt positiven Resultate liegen die zentralen Herausforderungen für die weitere Entwicklung im Bereich der Wirtschaftspolitik. In der Geld- und Währungspolitik wurde die Linie der Vorgängerregierungen fortgesetzt. Die Inflation wird mit hohen Zinsen im Zaum gehalten. Diese sind für Investoren attraktiv und, neben den steigenden Exporteinnahmen und Direktinvestitionen, verantwortlich für die kontinuierliche Aufwertung des Reales. Die Bekämpfung der Finanz- und Bankenkrise in Europa und den USA bezeichnete die brasilianische Präsidentin als »Tsunami an Liquidität« und als »Währungskrieg«. Auch wenn Brasilien dank Arbeitsmarktpolitik und antizyklischer Ausgabenpolitik die Krise 2008/09 rasch meisterte, sind die Folgen der Aufwertung für die verarbeitende Industrie deutlich. Der starke Real erhöhte zwar die heimische Kaufkraft durch billige Importe, verursachte aber gleichzeitig einen deutlichen Wettbewerbsverlust, der durch die hohen Außenzölle nicht ausgeglichen werden konnte. In vielen Branchen kam es zu einem Rückgang an Investitionen und zu Deindustrialisierungstendenzen.

Die niedrigen Wachstumsraten seit 2011 und 2012 sind nicht zuletzt Resultat dieser Entwicklung. Die deutliche Abwertung zur Mitte dieses Jahres ist nach Interventionen der Zentralbank bereits wieder zur Hälfte ausgeglichen. Jedoch ist Brasilien von einer traditionellen Wirtschaftskrise weit entfernt, denn nach wie vor werden Arbeitsplätze geschaffen und auch die Einkommen steigen.

Die politische Strategie, vor allem das Wachstum der Inlandsnachfrage gefördert und mit Exportwachstum verknüpft zu haben, stellt den dritten Unterschied zu den vorherigen Regierungen dar.



Soziale Mobilität - eine »neue Mittelschicht«?

Der vierte Unterschied besteht darin, erstmals in den letzten 50 Jahren einen Prozess deutlichen sozialen Aufstiegs und der Umverteilung in Gang gesetzt zu haben. Der Gini-Index hat sich in einer Dekade um 15 Prozent auf etwa 0,5 verbessert. Und nicht nur bei der Verteilung der Einkommen hat sich etwas getan: Zum Ende der Regierung Cardoso war die Lohnquote auf 46 Prozent gesunken, im Jahr 2009 lag sie wieder bei über 51 Prozent.

Die Stiftung Getulio Vargas hat bereits das Entstehen einer neuen Mittelschicht ausgemacht. Dieser Argumentation folgt auch der Regierungsdiskurs. Tatsächlich ist diese, anhand von Familieneinkommen definierte, sogenannte C-Schicht seit 2003 um 40 Millionen auf über 100 Millionen Menschen und damit auf mehr als die Hälfte der Bevölkerung gewachsen. Die Datenlage ist relativ klar, allerdings ist zu fragen, ob es sich dabei tatsächlich um eine Mittelschicht handelt. 46 Prozent der Beschäftigten verdienen nur zwischen einem und drei Mindestlöhnen. Bei zwei arbeitenden Familienmitgliedern bewirkt das Familieneinkommen bereits, der C-Schicht zugerechnet zu werden. 51 Prozent haben dabei nicht die achtjährige Grundschule abgeschlossen, immerhin zehn Prozent sind Analphabet_innen. Fast zwei Drittel der überwiegend weiblichen Hausangestellten gehören zur C-Schicht; sie allein stellen neun Prozent dieser Bevölkerungsgruppe dar.

Vieles spricht also dafür, dass es sich in erster Linie um eine neue Arbeiter_innen und Angestelltenschicht handelt, die, der statistischen Armut entkommen, weiterhin in prekären Verhältnissen lebt. Unsicherheit, unzureichender Wohnraum, insgesamt niedrige Löhne deuten darauf hin. Hinzu kommt die fehlende Arbeitsplatzsicherheit. Fast zwei Drittel der Arbeitsverträge werden im ersten Jahr gekündigt (2009). Bei dem Begriff der neuen Mittelschicht geht es insofern mehr um ein politisches Konzept als um einen soziologischen Tatbestand. In Europa gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Wenn dieses Kriterium an die brasilianische Einkommensstatistik angelegt wird, müsste weiterhin ein Drittel der Brasilianer_innen als arm bezeichnet werden, im Nordosten wären es sogar 53 Prozent. Eine gerechte Einkommensverteilung ist noch in weiter Ferne. Der vom Gewerkschaftsinstitut DIEESE errechnete minimale Warenkorb für vier Personen lag 2012 bei etwa vier Mindestlöhnen; 68 Prozent der Beschäftigten hatten ein geringeres Einkommen als zwei Mindestlöhne.


Proteste trotz Erfolgen? Proteste wegen der Erfolge!

In diesen Kontext ordnen sich die massenhaften Proteste vom Juni 2013 ein, die alle überraschten - denn noch kurz zuvor hatte die Regierung Rousseff in den Umfragen besser abgeschnitten als jede andere vor ihr, einschließlich Lulas. In Brasilien ging es nicht um soziale Auswirkungen der Finanzkrise, und erst recht ging es nicht darum, einen »tropischen« Frühling gegen eine autoritäre Regierung einzuläuten. Der Protest auf der Straße war gleichzeitig Resultat des demokratischen und sozialen Fortschritts der letzten Dekade wie auch Ausdruck seiner materiellen Grenzen.

Die »C-Schicht« und besonders eine neue Generation, die in der Demokratie groß geworden ist, erwartet jetzt mehr als ein Leben ohne extreme Armut. Die von den drei PT-Regierungen in Gang gesetzte sozioökonomische Dynamik hat einen Wertewandel bewirkt: Eine heterogene neue Schicht von Arbeiter_innen, Angestellten und Studierenden - letztere oft die erste studierende Generation in ihrer Familie - sieht durch niedrige Löhne, unsichere Arbeitsplätze, hohe Lebenshaltungskosten sowie mangelnde Qualität im Bildungs- und Gesundheitsbereich ihren sozialen Aufstieg bedroht. In den Metropolen ist sie mit einem unzureichenden, teuren Nahverkehrssystem konfrontiert, mit zu wenig Wohnraum sowie der allgemeinen Unsicherheit.

Trotz aller erreichten Fortschritte wird dem politischen System bei diesen Problemen nur eine geringe Lösungskompetenz zugeschrieben. In der nächsten Dekade wird es daher verstärkt um die Forderungen nach Qualität und Umfang sozialer Rechte gehen. Eine zweite Welle der Debatte um soziale Gerechtigkeit und der Erweiterung partizipativer Elemente in der Demokratie steht an. Unausweichlich stellt sich damit auch die Frage, auf welcher materiellen Basis der soziale Aufstieg und der Ausbau der Dienstleistungen vorangebracht werden sollen. Überbewertung und hohe Zinsen bedrohen das Wachstumsmodell. Für eine Verdoppelung des BIP pro Kopf in 15 Jahren müssten jährliche Wachstumsraten von über fünf Prozent erreicht werden. Ohne Produktivitätssteigerungen und deutlich höhere Investitionen wird das kaum möglich sein.

Gleichzeitig leistet sich das Land seit zwei Dekaden einen umfangreichen Transfer gesellschaftlichen Reichtums in den Finanzsektor. 42 Prozent des Bundeshaushaltes fließen trotz einer nur durchschnittlichen Verschuldungsquote in den Schuldendienst. Ein guter Teil der hohen Preise für Gebrauchsgüter erklärt sich durch die darin enthaltenen extrem hohen Finanzierungskosten, die auch dann anfallen, wenn die Konsument_innen gar keinen Kredit in Anspruch nehmen. Für einen weiteren Entwicklungssprung wird Brasilien, zumindest in diesem Bereich, mehr Regulierung brauchen, nicht weniger.



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Yesko Quiroga ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2013