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LATEINAMERIKA/1460: Brasilien - Der lange Kampf um Land und Rechte, Indigene ziehen Bilanz (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. März 2014

Brasilien: Der lange Kampf um Land und Rechte - Indigene ziehen Bilanz

von Karina Böckmann



Berlin, 24. März (IPS) - In Brasilien sehen sich die knapp 900.000 Indigenen derzeit mit einem beispiellosen Angriff von Seiten einflussreicher Parlamentarier auf ihre Landrechte konfrontiert. Vertreter der Tupinikim und Pataxó, zwei von insgesamt 305 Völkern des südamerikanischen Landes, haben in Berlin im Rahmen der 'Nunca Mais'-Brasilientage von März bis Juli die Schwierigkeiten und Gefahren geschildert, die ihren Kampf um ihre Verfassungsrechte begleiten.

Am 31. März 2014 jährt sich der Militärputsch in Brasilien zum 50. Mal. Aus diesem Anlass hat die deutsch-brasilianische Initiative 'Nunca Mais - Nie wieder' in Städten beider Länder Filmabende, Ausstellungen, Workshops und Gesprächsrunden organisiert, um einen Beitrag zur Aufarbeitung der 20-jährigen Diktatur mit ihren Verbrechen zu leisten. Auch die deutsch-brasilianischen Beziehungen damals und heute werden im Rahmen der mehrmonatigen Veranstaltungsreihe thematisiert.

"Unsere größten Feinde sind die Parlamentsabgeordneten, die als Großgrundbesitzer Lobbyisten in eigener Sache sind", betonten Jocelino da Silveira Quiezza und Merong Santos Tapurumã auf einer Veranstaltung über die Situation der Indigenen seit dem Figueiredo-Bericht von 1968. Der lange 'verschwundene' und 2013 zufällig wiederentdeckte Report dokumentiert die systematisch betriebenen Versuche der 1940er bis 1960er Jahre, die Indigenen zu vernichten, um ihrer Territorien habhaft zu werden.

Die 'Ruralisten' streben derzeit eine Verfassungsänderung an, durch die der brasilianischen Indianerbehörde FUNAI das alleinige Mandat, die indigenen Territorien zu demarkieren, entzogen werden soll, um es dem Parlament zu unterstellen. "Was das für uns bedeuten würde, liegt auf der Hand", so der Pataxó da Silveira Quiezza. "Die Umsetzung der in den Verfassungsartikeln 231 und 232 garantierten Abgrenzungen (Demarkierungen) würde erschwert und die Vertreibung der Indigenen zunehmen."

Artikel 231 erkennt die sozialen Organisationsformen der Indigenen, ihre Bräuche, Sprachen, Religionen und Traditionen sowie das Recht auf die Anerkennung der von ihnen traditionell bewohnten Gebiete an und weist der brasilianischen Regierung die Aufgabe zu, die Territorien zu demarkieren. Artikel 231 schreibt fest, dass die Staatsanwaltschaft des Landes die Rechte der Indigenen Gemeinschaften verteidigen muss. Für die immer wieder von Gewalt bedrohten Indigenen ist die Demarkierung die Voraussetzung dafür, auf minimalem Raum ihre physische und kulturelle Existenz zu gewährleisten.


Probleme auch nach der Demarkierung

Nach der Verfassung von 1988 hätten die Demarkierungen der indigenen Gebiete innerhalb von fünf Jahren abgeschlossen sein sollen. Doch 26 Jahre später trifft dies für lediglich 60 Prozent der von den Indigenen beantragten Gebiete zu. Außerdem sind die Schwierigkeiten damit noch längst nicht vorbei. So machen nicht-indigene Siedler oft keine Anstalten, die Gebiete zu räumen, und der Ressourcenhunger der Konzerne, der sich mit dem Umwelt- und Gesellschaftsverständnis der ethnischen Gemeinschaften nicht verträgt, bleibt ein Problem.

Die Tupinikim hatten mehr als 30 Jahre um die Rückgabe ihres Landes im südostbrasilianischem Bundesstaat Espírito Santo gekämpft, auf dem der Zellstoffproduzent 'Aracruz Celulose' (heute: 'Fibria') eine Eukalyptusplantage betrieb. Nach drei gescheiterten Selbstdemarkierungsversuchen, die stets Gewalt, Diskriminierungskampagnen und Einschüchterungsmaßnahmen nach sich zogen, stimmte der damalige Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva 2010 der Demarkierung der mehr als 18.000 Hektar Land per Dekret zu.

"Doch das Land, das wir zurückerhalten haben, ist krank und öde", erläuterte da Silveira Quiezza auf der gemeinsamen Veranstaltung des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika (FDCL) und der Hilfsorganisation Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst am 18. März in Berlin. Weil den Tupinikim die finanziellen Mittel fehlen, um die Stümpfe der Eukalyptusbäume zu entfernen und die Böden zu regenerieren, müssen sie sich häufig den Vorwurf gefallen lassen, das Land nicht zu verdienen.

Da Silveira Quiezza zufolge hat die brasilianische Regierung von Staatspräsidentin Dilma Roussef ihren Teil der Abmachung mit den Indigenen und Aracruz Celulose nicht erfüllt. So hat sie bisher nicht für den Abzug der nicht-indigenen Bauern gesorgt. Die Entschädigungen, die den Siedlern für ihre Installationen in Aussicht gestellt würden, seien oft zu niedrig, um diesen einen Neuanfang zu ermöglichen. "Es ist aber Sache der Regierung, dafür zu sorgen, dass sie in Würde unser Land verlassen können."

Die Guaraní, mit denen Merong Santos Tapurumã in einem Lager in Erebango im Norden des südlichen Bundesstaates Rio Grande do Sul zusammenlebt, warten seit zehn Jahren auf die Abgrenzung eines 4.230 Hektar großen Gebietes im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul. "Für uns, die von Gensojafeldern umzingelt sind, ist der Kampf noch nicht vorbei und der Ausgang ungewiss", meinte er. Monokulturen, Agrargifte und verseuchtes Wasser sind zur Realität der 21 Familien mit etwa 80 Mitgliedern geworden.

Seinen Diskurs hatte der 26-Jährige auf der Veranstaltung in Berlin mit dem Gesang an eine indigene Gottheit über die einstige Schönheit indigener Dörfer begonnen. "Wir singen, um uns zu erinnern", erklärte er. Denn in dem Lager, in dem er mit Frau und Kind und den anderen Familien ausharre, sei nichts mehr schön.


Geraubtes Land, krankes Land

"Wir kämpfen um ein Areal, von dem wir wissen, dass es krank und ausgelaugt ist", sagte Santos Tapurumã und sprach von der Hoffnung, irgendwann einmal zumindest zehn Prozent des Lebens der Vorfahren führen zu können. "Auch deshalb tun wir alles, was unseren Vorfahren unter weißer Herrschaft verboten war. Wir tragen unseren Kopfschmuck, beharren auf unserer Identität, unseren Ausdrucksformen, unserer Sprache."

Gleichzeitig seien die Indigenen gefordert, ihrer Romantisierung entgegenzuwirken. "Auch wir können Mobiltelefone bedienen und wollen an die Universität", meinten Santos Tapurumã und da Silveira Quiezza und betonten, dass die autochthonen Völker aufgrund einer konsequenten Stereotypisierung um ihr Recht auf Entwicklung gebracht worden seien.

Der Regierung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff warfen sie vor, mit dem Bild der erfolgreichen Wirtschaftsmacht von Problemen wie Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung der indigenen Völker abzulenken. Anstatt Unmengen an Staatsgeldern in die nächste Fußballweltmeisterschaft zu pumpen, hätte sie zunächst "das eigene Haus" in Ordnung bringen sollen. "Wir, die Beraubten, gehen immer leer aus", sagten sie. Und Entschädigungszahlungen für diejenigen, die ihr Land besetzt hielten, würden nicht gezahlt.

Wie Santos Tapurumã erklärte, sind die Guaraní im Lager von Erebango im Norden von Rio Grande do Sul eine kleine Gemeinschaft, "die leicht umgebracht werden kann". Doch weichen werde man nicht - trotz aller Drohungen und Schmähkampagnen durch Parlamentarier und Großgrundbesitzer.

Im vergangenen November hatte der Abgeordnete Alceu Moreira auf einer öffentlichen Sitzung die Bauern des Landes dazu aufgerufen, Indigene und Schwarze, die im Kampf um ihr Recht auf Demarkierung Teile ihrer traditionellen Territorien besetzten, gewaltsam zu vertreiben.

Und Luis Carlos Heinze, Vorsitzender des parlamentarischen Agrarausschusses, erklärte auf dem gleichen Treffen, dass "die Regierung im Bett mit den Schwarzen, Indianern, Schwulen, Lesben, all den Verlierern liegt", und von diesen kontrolliert werde. Seine diskriminierenden Äußerungen brachten ihm am 21. März, dem Welttag gegen Rassismus, die Auszeichnung 'Rassist des Jahres' ein.


Rassismus gestern und heute

Die Radikalität und verbalen Attacken, mit denen Ruralisten zum Widerstand gegen die Landrückgaberechte der Indigenen aufrufen, wecken Erinnerungen an die Verbrechen, die Farmer und Mitarbeiter der ehemaligen Indianerschutzbehörde SPI gegen die Indigenen Brasiliens in den 1940er bis 1960er Jahren begangen hatten, um deren Territorien ungehindert landwirtschaftlich erschließen zu können.

Publik machte die Menschenrechtsverletzungen der ehemalige Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia. Er hatte Ende der 1960er Jahre eine Strecke von 16.000 Kilometern zurückgelegt, um sich in 130 SPI-Stationen über die Lage der Indigenen Brasiliens zu informieren. In seinem Bericht, dem sogenannten Figueiredo-Report, ist von Massenmord, Folter, sexuellem Missbrauch, Versklavung, Demütigung und Landraub die Rede. Auch verteilten SPI-Angestellte mit Strychnin vergifteten Zucker und mit Pocken verseuchte Kleidung. Manche Volksgruppen wurden vollständig ausradiert, andere stark dezimiert.

Dazu meinte Stephen Corry, Direktor von Survival International, in einer Stellungnahme im April letzten Jahres: "Der Figueiredo-Bericht gibt einen grausigen Lesestoff ab. In einer Hinsicht hat sich (seit damals) wenig geändert: Kommt es zu Morden an Indigenen, herrscht absolute Straflosigkeit."

Bewaffnete Männer töteten regelmäßig Angehörige indigener Völker in dem Wissen, dass das Risiko, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, gering sei. Tatsächlich sei nicht einer der Mörder der Guaraní- und Makuxi-Anführer je hinter Gitter gekommen, so Corry. "Es fällt somit schwer, nicht anzunehmen, dass Rassismus und Gier die Ursache für das Scheitern Brasiliens sind, das Leben seiner indigenen Bürger zu schützen." (Ende/IPS/kb/2014)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2014