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LATEINAMERIKA/1528: Brasilien - Politische Schlammschlacht hat begonnen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. Dezember 2015

Brasilien: Politische Schlammschlacht hat begonnen

von Mario Osava


RIO DE JANEIRO (IPS) - Geht sie oder geht sie nicht? Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff will sich gegen das Amtsenthebungsverfahren wehren, das Parlamentspräsident Eduardo Cunha gegen sie angestrengt hat. Die Präsidentin rief die Bevölkerung dazu auf, die Demokratie gegen den geplanten "Staatsstreich" zu verteidigen. Allerdings wurde das Verfahren bereits eingeleitet: Am Montag wurden 65 Mitglieder des Parlaments aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien benannt, die über die Zukunft der Präsidentin entscheiden sollen.

Inhaltlich geht es um finanzpolitische Unregelmäßigkeiten, die die Opposition der Präsidentin vorgeworfen hat. Tatsächlich ist das Amtsenthebungsverfahren Teil eines Machtkampfes zwischen der höchsten Dame des Staates und dem Politiker Cunha, der selbst wegen Korruptionsvorwürfen in der Kritik steht. Die Sympathien der Bevölkerung liegen bei Dilma Rousseff - doch werden sie ausreichen, um ihr den Posten zu sichern?

Initiiert wurde das Amtsenthebungsverfahren von drei Juristen und Politikern: Helio Bicudo, Mitgründer der regierenden Arbeiterpartei (PT), der auch Rousseff angehört, Miguel Reale Junior, Ex-Justizminister sowie Janaína Conceiçao Paschoal. Eingeleitet wurde das Verfahren schließlich am 2. Dezember von Eduardo Cunha, der Mitglied der Brasilianischen Demokratischen Bewegung ist und damit eigentlich politischer Verbündeter von Rousseffs Arbeiterpartei. Doch Cunha gilt als interner Gegner der Regierung, die wegen des Korruptionsskandals um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und leitende Politiker in Turbulenzen geraten ist.

Dabei ist Cunha selbst darin verwickelt. Der Ethikrat des brasilianischen Parlaments ermittelt gegen ihn wegen Vorwürfen, illegal erhaltene Petrobras-Dollar auf Schweizer Bankkonten transferiert zu haben. Weil das Amtsenthebungsverfahren wenige Tage nach Bekanntwerden der Untersuchung eingeleitet wurde, gehen Analysten davon aus, dass sich Cunha und die Regierung zuvor auf ein Stillschweigeabkommen geeinigt hatten, das im Ethikrat nun gebrochen wurde. Im 21 Mitglieder zählenden Ethikrat könnte die Stimme der regierenden PT mit ihren drei Sitzen das Zünglein an der Waage sein. Cunha seinerseits hat es in der Hand, der begründeten Bitte nach einem Amtsenthebungsverfahren der Präsidentin nachzukommen oder sie abzulehnen.

Die drei PT-Politiker im Ethikrat haben bereits erklärt, mit ihrem Abstimmungsverhalten dem Wunsch ihrer Partei und dem Willen der Bevölkerung nachzukommen. Beide sind mehrheitlich gegen Cunha eingestellt, der bereits seit seinem Amtsantritt als Parlamentspräsident im Februar dieses Jahres als kontrovers gilt.


Offene Karten

"Jetzt sind die Karten endlich auf dem Tisch", sagte Fernando Lattman-Weltman, Professor für Politikwissenschaft an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro gegenüber IPS. Ein Amtsenthebungsverfahren sorge außerdem dafür, dass sowohl im Kongress als auch in der Bevölkerung radikale Positionen - entweder für oder gegen die Präsidentin - eingenommen würden.

Wie das Verfahren für die Präsidentin ausgehen werde, sei offen, so Lattman-Weltman. Der Politikwissenschaftler hält es allerdings für wahrscheinlich, dass Rousseff den Kampf gewinnen wird. Für Cunha sei hier in jedem Fall Endstation, ist der Professor sicher. "Jetzt, wo er seine letzte Karte gespielt hat, ist Cunha erledigt. Das Amtsenthebungsverfahren ist pure Erpressung."


Geld auf Schweizer Konten

Cunha steckt wegen des Petrobras-Skandals bereits tief in der Klemme. Ihm wird vorgeworfen, sein Amt missbraucht zu haben, nachdem er im März im Petrobras-Untersuchungsausschuss ausgesagt hatte, keine ausländischen Bankkonten zu führen. Doch der Schweizer Generalstaatsanwalt bewies mehrere Monate später, dass Cunha gelogen hatte, indem er Kopien seiner Kontodaten an die brasilianischen Strafverfolgungsbehörden schickte.

Cunha wird außerdem angeklagt, Bestechungsgelder von Firmen angenommen zu haben, die lukrative Petrobras-Verträge unterzeichnet hatten. Gegen den Sprecher des Unterhauses hatten mehrere Mittäter ausgesagt, die in der Hoffnung auf Strafmilderung mit dem Justizsystem kooperieren.

Der Petrobras-Skandal zieht immer weitere Kreise. Bereits jetzt stehen 170 Politiker und Unternehmer im Verdacht, an der Affäre beteiligt zu sein. Im Jahr 2014 hatte der brasilianische Erdölgigant eingeräumt, durch Korruption 6,2 Milliarden Real (2,1 Milliarden US-Dollar) verloren zu haben. Hinzu kamen Verluste in Höhe von 44,6 Milliarden Real aufgrund überbewerteter Raffinerien und anderer Vermögenswerte.

Zwei Drittel der Einbußen der Vermögenswerte konzentrierten sich auf die beiden größten Petrobras-Projekte: auf die fast fertiggestellte Raffinerie 'Abreu e Lima' im Nordosten und den Petrochemischen Komplex (COMPERJ) in Rio de Janeiro. In beiden Fällen waren die Bauarbeiten während der Amtszeit Lulas begonnen worden. Tausende Arbeiter wurden entlassen.

Das ganze Ausmaß der Verluste ist bisher unbekannt. Doch nicht nur ist das Firmenimage stark angeschlagen. Auch andere Unternehmen und Politiker wurden in die Krise hineingezogen. Das ganze Land wurde destabilisiert.

Die Arbeiterpartei gilt als Hauptakteur im Korruptionsfall um Petrobras. Die Partei, die der ehemalige Präsident Lula da Silva gegründet hatte, soll Umschlagplatz für umgerechnet 1,8 Milliarden US-Dollar gewesen sein, die die Ölfirma an Schmiergeldern gezahlt hat. Zwei Mitglieder der PT, die unter Lula da Silva hohe Ämter besetzt hatten, sind seit dem 3. August im Gefängnis.

Um in Brasilien ein Amtsenthebungsverfahren anstrengen zu können, muss der Präsidentin eine konkrete Straftat nachgewiesen werden, die sie während ihrer Amtsperiode begangen hat. Tatsächlich ist es aber ein politisches Verfahren, das sich vom strafrechtlichen unterscheidet. Verfahrenstechnisch müssten zwei Drittel der Abgeordneten des Unterhauses einem Prozess zustimmen, den der Senat dann führen würde. Dort würde wiederum eine Zweidrittelmehrheit benötigt, um Rousseff schuldig zu sprechen. (Ende/IPS/jk/09.12.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/12/blackmail-politics-is-the-name-of-the-game-in-brazil/

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IPS-Tagesdienst vom 9. Dezember 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2015

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