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LATEINAMERIKA/1664: Ecuador - »Menschliche Mobilität« statt Migration? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung

Migration in (Latein-)Amerika
»Menschliche Mobilität« statt Migration?
Vielschichtige Herausforderungen eines neuen Konzepts für die Politik in Ecuador

von Daniela Célleri, Januar 2017


Ecuador und die vielen Dimensionen von »Migration«

Ecuador ist angesichts der politischen Öffnung beim Thema »Migration und Staatsbürgerschaft« durch die sogenannte Regierung der Bürgerrevolution (Gobierno de la Revolución Ciudadana) des Präsidenten Rafael Correa ein interessanter Fall, den es sich genauer anzuschauen lohnt - auch weil diese Politik in den vergangenen zehn Jahren international größere Aufmerksamkeit erlangt hat. Der bekannteste Geflüchtete auf ecuadorianischem Staatsgebiet ist der Gründer von Wikileaks: Julian Assange. Er lebt seit über vier Jahren im Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Im Unterschied zu anderen Botschaften, die er um Asyl bat, stellte der ecuadorianische Staat den Schutz von Assange an erste Stelle und verwehrte sich den Auslieferungsersuchen der USA und Schwedens. Doch nicht nur Entscheidungen in der Asylpolitik, auch die neuen Vorstöße in der Einwanderungs- und Migrationspolitik Ecuadors in den letzten Jahren lassen aufhorchen.

Weil die »universelle Staatsbürgerschaft« als ein Prinzip angesehen wird, das auf »uneingeschränkter Mobilität« beruht, gab Präsident Rafael Correa im Jahr 2008 bekannt, dass alle Ausländer_innen, die Ecuador besuchen wollen, kein Visum mehr benötigen. So nahm die Migrationspolitik des Landes durch die Verankerung des Konzepts der menschlichen Mobilität in der Verfassung eine Wendung von nationaler und internationaler Tragweite. Dahinter stand die Absicht, den verschiedenen charakteristischen Phänomenen von Migration in Ecuador Rechnung zu tragen: der Auswanderung und Rückkehr von Migrant_innen, der Einwanderung sowie der Tatsache, dass Ecuador das Land in Südamerika ist, das Angaben des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge die meisten Geflüchteten und Migrant_innen aufnimmt.

Ecuador ist durch die vielen verschiedenen Dimensionen der Migration geprägt, die in den letzten Jahrzehnten wesentlich komplexer geworden sind. In diesem Text wird auf vier Aspekte von »Migration« eingegangen: Auswanderung, Einwanderung, Rückkehr und Flucht. Ziel ist es, die ecuadorianische Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte zu analysieren, um die vielschichtigen Dimensionen zu skizzieren. Das Phänomen birgt viele Herausforderungen, denn das politische Handeln folgt häufig nicht den in der Verfassung festgelegten Prinzipien. Und auch wenn die Absicht vorhanden ist, eine andere Perspektive beim Umgang mit Migration einzunehmen, bestehen noch immer Gesetzeslücken. Sie verhindern, dass staatliche Migrationspolitik so gestaltet wird, wie es mit dem Ansatz der menschlichen Mobilität beabsichtigt war. Diese Problematik wird besonders im Zusammenhang mit dem Gesetzesvorschlag zur menschlichen Mobilität deutlich, dessen Verabschiedung im Parlament noch aussteht.

Obwohl die Schwierigkeiten der ecuadorianischen Migrationspolitik in der Praxis offensichtlich sind, können die Fortschritte dennoch als Grundlage für eine transkontinentale Debatte über innovative Prinzipien, wie die universelle Staatsbürgerschaft, oder um integrierende Konzepte staatlicher Politik, wie das Konzept menschlicher Mobilität, dienen. Eine Lehre kann aus dem Beispiel Ecuador gezogen werden: Staaten können die gesellschaftliche und kulturelle Wahrnehmung von Migrant_innen durch neue Migrationspolitiken verändern oder bestärken. Daher gewinnen Sozialisierungsmechanismen und staatsbürgerliche Teilhabe bei der Umsetzung und Transformation der Migrationspolitik noch zusätzlich an Bedeutung.


Die neue Verfassung und das Konzept der menschlichen Mobilität

In der neuen Verfassung Ecuadors aus dem Jahr 2008 wurden in vielen Bereichen innovative und progressive Konzepte verankert. Dazu zählen die universelle Staatsbürgerschaft und die uneingeschränkte Mobilität für alle Menschen auf der Welt. Hierdurch wurden Grundlagen geschaffen für »das baldige Ende des Ausländerstatus, um so die ungleichen Beziehungen, insbesondere zwischen den Ländern des Nordens und des Südens, zu verändern« (Art. 416 der ecuadorianischen Verfassung). Das Konzept der menschlichen Mobilität beinhaltet die Öffnung der internationalen Grenzen - in der Absicht, die Einhaltung der Menschenrechte sowie der zivilen Rechte aller Personen sicherzustellen. Das heißt: Alle Menschen verfügen auf ecuadorianischem Territorium über dieselben Rechte, unabhängig davon, wo sie geboren wurden (siehe auch Art. 9 der ecuadorianischen Verfassung).

Dieser in der ecuadorianischen Verfassung verankerte Bruch mit den früheren Migrationsbestimmungen sowie die Artikulation von Forderungen politischer Organisationen von Migrant_innen sind größtenteils darauf zurückzuführen, dass sich in Ecuador zwischen 1997 und 2007 praktisch alle Formen der Migration intensiviert haben: Auswanderung, Flucht, Einwanderung und sogar Transitmigration. Infolgedessen kennen fast alle Ecuadorianer_innen durch ihre Familie, den Freundeskreis oder die Nachbarschaft eine Person mit Migrationserfahrung. In der Gesellschaft insgesamt hat dies zu einer starken Sensibilisierung gegenüber der Verletzung der Rechte von Migrant_innen geführt und zu dem Wunsch, diese Situation zu verbessern.

Das Konzept der menschlichen Mobilität wird, auch von weltweiten Institutionen wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM), als Querschnittsthema im Prozess der Globalisierung gesehen und gilt als integraler Bestandteil ihres politischen Ansatzes. Die aktuelle Verfassung Ecuadors greift das Thema aus verschiedenen Perspektiven auf und behandelt Aspekte wie Auswanderung, Einwanderung, Flucht, Asyl, Transit sowie Menschenhandel und Schlepperei von Migrant_innen. Das Thema »menschliche Mobilität« fand in sieben von neun Kapiteln der Verfassung Eingang und erhielt einen eigenen Abschnitt in dem Teil über Grundrechte. Die Vorstöße, die dort gemacht wurden, sind enorm - unter anderem: keine Diskriminierung von Personen aufgrund ihres Status als Migrant_innen sowie die Anerkennung der Organisierung und politischen Teilhabe von im Ausland lebenden Ecuadorianer_innen und allen in Ecuador lebenden Ausländer_innen.

Die Verfassung enthält ein Kapitel zur menschlichen Mobilität, in dem die Rechte der im Ausland lebenden Ecuadorianer_innen festgeschrieben werden. Auch die Existenz transnationaler Familien wird explizit anerkannt. Die Rechte der Asylsuchenden, sowohl von Geflüchteten über Ländergrenzen wie auch innerhalb des Landes, werden garantiert. Der Schutz von Personen, die Opfer von Naturkatastrophen, bewaffneten Konflikten und Notlagen sind, wird in Bezug zur Binnenvertreibung gesetzt. Neben anderen wichtigen Fortschritten wird eine entsprechende Beratung zur Verwendung von Rücküberweisungen der im Ausland lebenden Ecuadorianer_innen für nachhaltige Investitionen garantiert. Diese in der Verfassung niedergeschriebenen Ansätze können zu Recht als äußerst innovativ und progressiv bezeichnet werden.


Ecuadorianer_innen im Ausland: Massive Auswanderung führt zu politischer Repräsentation

Als Folge der neoliberalen Politik der 1990er Jahre und entsprechender Strukturanpassungsmaßnahmen durchlebte Ecuador um die Jahrhundertwende eine der schwersten Krisen seiner Geschichte. Die Wirtschaft wurde auf den US-Dollar umgestellt, die Armut im ganzen Land verdoppelte sich, und es kam zu einer massiven Auswanderungswelle.(1) Rund 1,5 Millionen Ecuadorianer_innen verließen das Land und migrierten in Richtung USA oder wählten Zielländer in Europa, wie etwa Spanien. Die Rücküberweisungen der vom amtierenden Präsidenten als »Opfer des Neoliberalismus« bezeichneten Auswanderer an ihre ecuadorianischen Familien wurden, nach den Erdöleinnahmen, zur zweitgrößten staatlichen Einnahmequelle.

Es wuchs nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der Migrant_innen, sondern auch ihre aktive politische Rolle. In Spanien haben ecuadorianische Migrant_innen seit 2003 verschiedene Organisationen gegründet, denen es gelungen ist, einige ihrer Forderungen durchzusetzen, wie etwa das Wahlrecht in ihrem Herkunftsland. Unter der Regierung von Correa haben sich die Emigrant_innen viel stärker in nationalen politischen Angelegenheiten engagiert und so nicht nur das Recht erhalten, in den jeweiligen Konsulaten ihre Stimme abzugeben, sondern auch die Möglichkeit zur Repräsentation in der Nationalversammlung. Ihre politischen Vertreter_innen erlangten erstmals sechs Sitze im Parlament, um so die Ecuadorianer_innen auf den verschiedenen Kontinenten zu vertreten: zwei für die USA und Kanada, zwei für Europa, Asien und Ozeanien sowie zwei für Lateinamerika. Zudem haben die Forderungen der Emigrant_innen zum Konzept der menschlichen Mobilität Eingang in die neue Verfassung von 2008 gefunden. Dieses Konzept wurde ebenfalls in den fünfjährigen staatlichen »Nationalen Plan für ein »Gutes Leben« (Plan Nacional para el Buen Vivir) aufgenommen.

Auf institutioneller Ebene wurde 2007 die nationale Migrationsbehörde (Secretaría Nacional del Migrante) gegründet. Sie ist dem Präsidialamt zugeordnet und soll migrationspolitische Maßnahmen erarbeiten und umsetzen. Im Jahr 2013 wurde die Behörde zum Vizeministerium für Menschliche Mobilität und als solches Teil der administrativen Struktur des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Menschliche Mobilität. Das Thema »Migration« ist damit dem Außenministerium zugeordnet worden, was verdeutlicht, welch große Bedeutung die Regierung diesem Thema beimisst.

Während der letzten Jahre konnten verschiedene Ziele erreicht werden, wie etwa die dezentrale Betreuung von Migrant_innen in den Konsulaten einschließlich des Angebots juristischer Dienstleistungen zu deren Schutz. Nur ein Beispiel ist die Intervention der Regierung Ecuadors mit Rechtsberatung und rechtlichem Beistand für ecuadorianische Migrant_innen in Spanien, die ihre Wohnungen aufgrund der Hypothekenkrise verloren hatten und diese dank der Unterstützung teilweise zurückerhalten konnten. Die Interventionen zugunsten von Familienzusammenführungen und in Fällen von Minderjährigen in Italien, die von ihren Familien getrennt werden sollten, illustrieren ebenso den Einsatz der Politik für die im Ausland ansässigen Ecuadorianer_innen.

Auch wenn die Arbeit, die das Vizeministerium für Menschliche Mobilität für die Exilgemeinden und deren Einbindung geleistet hat, deutlich sichtbar ist und die Regierung die Migrant_innen erstmals als aktive Bürger_innen und gar »Helden des Vaterlandes« bezeichnete, steht die staatliche Politik im Herkunfts- wie auch im Zielland noch vor vielen Herausforderungen. In den Zielländern gilt es, nicht nur die Dienstleistungen in den Konsulaten zu verbessern, sondern auch eine umfassende staatliche Politik für Migrant_innen und ihre transnationalen Familien zu entwickeln. Im Herkunftsland ist vor allem die Rückkehrpolitik entscheidend, denn obwohl diese Politik, wie beispielsweise die Vergabe von Mikrokrediten an zahlreiche zurückgekehrte Migrant_innen, z. T. erfolgreich war, fand sie doch nicht die notwendige Resonanz und wurde wegen fehlender Mittel nicht fortgesetzt. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Forderung der Migrant_innen, damit sie in ihrem Heimatland eine Perspektive erhalten.


Geflüchtet aus Kolumbien und Kuba: Ecuador als Aufnahmeland

UNHCR beziffert die Zahl der Geflüchteten in Ecuador im Jahr 2016 auf ca. 60.300. Obwohl dies lediglich 0,38 Prozent der Gesamtbevölkerung Ecuadors (von 15,74 Millionen Menschen) darstellt, nimmt das Land damit im lateinamerikanischen Vergleich die meisten Geflüchteten auf.(2) Eine der wichtigsten Ursachen für die gestiegene Zahl von Geflüchteten und Migrant_innen in Ecuador während der vergangenen zehn Jahre ist die geografische Nähe zu Kolumbien. Im Nachbarland herrschte bis 2016 ein bewaffneter Konflikt mit Guerilla-Organisationen wie der FARC. Ob es gelingt, den Konflikt mit der Umsetzung des Friedensvertrags vom November 2016 zu beenden, muss sich noch zeigen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen führten zur Vertreibung vieler Menschen, die in großer Zahl nach Ecuador kamen, um hier Schutz zu suchen. Das erklärt, weshalb 95,2 Prozent der Geflüchteten in Ecuador aus Kolumbien stammen und nur die verbliebenen 4,8 Prozent aus anderen Ländern kommen. Obwohl es Migration zwischen Ecuador und Kolumbien schon früher gegeben hat, etwa aufgrund des formellen und informellen Handels, war die Zahl der Vertriebenen, vor allem aus den kolumbianischen Grenzregionen mit Ecuador (Departements Valle de Cauca und Putumayo), in den letzten zehn Jahre stark gestiegen.(3)

Artikel 41 der aktuellen Verfassung befasst sich mit dem Schutz von geflüchteten Personen. Dort ist festgelegt, dass für Einwanderer und Asylsuchende nicht nur dieselben Rechte und Pflichten wie für Ecuadorianer_innen gelten (Art. 9 und 11), sondern ihnen zudem ein besonderer Schutz gemäß den internationalen Vereinbarungen gewährt wird. Allerdings liegt die Bearbeitungszeit der Asylanträge, ebenso wie in Deutschland, zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Und selbst wenn ihren Gesuchen stattgegeben wird, ist es für die Geflüchteten schwierig, Arbeit zu finden und Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem zu erlangen. Im Unterschied zu Deutschland erhalten Geflüchtete einen provisorischen Ausweis, volle Bewegungsfreiheit im Land und eine Arbeitserlaubnis, jedoch keine finanzielle Unterstützung vom Staat für Unterkunft und Verpflegung. Daher sind NGOs und andere internationale Institutionen für einen Teil der Asylsuchenden eine wichtige Hilfe.

Nach Angaben des ecuadorianischen Außenministeriums waren bis 2015 insgesamt 233.049 Asylanträge eingegangen, von denen 60.253 positiv entschieden wurden. Etwa 170.000 Menschen warten noch auf einen Entscheid. Der Staat Ecuador gewährt den asylsuchenden Kolumbianer_innen laut Gesetz Schutz, doch ist das bürokratische System in den für die Migrationspolitik zuständigen Behörden komplex und führt zu einer Verzögerung der Bearbeitung. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und Menschliche Mobilität (MREMH) ist die zuständige Institution für Migrationspolitik. Über das untergeordnete Vizeministerium für Menschliche Mobilität und dessen regionale Koordinationsstellen ist es dafür verantwortlich, Verfahren, Mechanismen und Bedingungen zu schaffen, damit Migrant_innen in Ecuador den Status von Geflüchteten erhalten können. Allerdings wird das Verfahren in jeder Regionalstelle je nach den lokalen Gegebenheiten unterschiedlich gehandhabt. Die staatliche und zivilgesellschaftliche Unterstützung beschränkt sich neben der punktuellen humanitären Hilfe häufig auf die Abwicklung des Asylverfahrens und die Ausstellung der Dokumente zur Bestätigung des Aufenthaltsstatus als Geflüchtete. Dadurch bleiben die Geflüchteten jedoch weiter auf sich gestellt, was ihren Zugang zu Arbeit, Gesundheit und Bildung betrifft, selbst wenn sie die entsprechenden Dokumente erhalten.

In der Vergangenheit war Ecuador eher ein touristisches Ziel als ein klassisches Einwanderungsland. Doch das hat sich geändert, da Ecuador seit 2008 die Visapflicht abgeschafft hat. Diese wurden jedoch für kubanische und venezolanische Migrant_innen 2013 wieder eingeführt. Sie müssen derzeit hohe Gebühren für Visa zahlen und auch die Arbeitssuche wird ihnen erschwert. Zudem kam es 2016 zur Abschiebung einer Gruppe von Kubaner_innen, die von den Behörden mit der Begründung gerechtfertigt wurde, den Menschenhandel unterbinden und verhindern zu wollen. Ecuador fungiere aufgrund der US-amerikanischen Politik gegenüber kubanischen Migrant_innen als Transitland. Die Abschiebung machte deutlich, welche Inkohärenz bei politischen Entscheidungen zwischen dem Innen- und dem Außenministerium herrscht und welche Widersprüche zwischen einer sicherheitspolitischen Perspektive und einer Politik der Garantie der Menschenrechte bestehen: Weil ein Ausführungsgesetz fehlt, das die Prinzipien der Verfassung umsetzt, kommt das Sicherheitsgesetz von 1971 zur Anwendung, sodass nicht nur die Menschenrechte der sich in Abschiebung befindenden Personen verletzt wurden, sondern auch die Beamt_innen, die mit diesen Fällen betraut waren, aufgerieben wurden, weil den Zuständigen das adäquate Vorgehen unbekannt war.


Gesellschaftliche Integration von Ausländer_innen in Ecuador

Ecuador hat hinsichtlich der Integration und dem Schutz von Ausländer_innen künftig viele Aufgaben zu bewältigen - vor allem wenn man sich die Heterogenität der Gruppen hinsichtlich Herkunft/ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Geschlecht und Alter vor Augen führt. Für viele Lateinamerikaner_innen ist Ecuador mittlerweile als Arbeitsort attraktiv geworden, da die Entlohnung in US-Dollar erfolgt, was sich durch die Wechselkurse beim Umtausch als günstig erweist. Aufgrund der Bildungsreformen an den ecuadorianischen Universitäten sind auch europäische, US-amerikanische und südamerikanische Akademiker_innen nach Ecuador gegangen, denn dort wurden nun beispielsweise mehr promovierte Wissenschaftler_innen benötigt und deren Einstellung von staatlichen Programmen gefördert. Das Land ist auch als Ziel für die sogenannte residential migration attraktiv, bei der Personen im Rentenalter sich für ihren Lebensabend in einem anderen Land dauerhaft niederlassen.(4) So bieten etwa die Städte der ecuadorianischen Sierra wie Cuenca und Cotacachi Hunderten US-amerikanischen Rentner_innen eine bessere Lebensqualität, da ihre Renten dort mehr Kaufkraft haben. Doch die Rentner_innen aus den USA werden in Ecuador weiterhin als »Ausländer_innen« angesehen, sei es wegen ihrer wesentlich höheren Kaufkraft oder aufgrund ihres Alters. Sie fühlen sich zudem selbst nicht notwendigerweise als Teil der ecuadorianischen Gesellschaft und unterstützen den Staat auch nicht durch Beiträge in die Sozialversicherung. Andere Gruppen dagegen, wie Kolumbianer_innen, Kubaner_innen, Haitianer_innen usw., die zum Teil mit ihren Unternehmen einen wirtschaftlichen Beitrag leisten und integriert sind, haben mit Diskriminierung und sozialer Exklusion zu kämpfen.

Die Einrichtung der Abteilung zum Schutz der ausländischen Bevölkerung (UICE) im Jahr 2015 hat eine bessere Betreuung ermöglicht und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen wie Konsulaten, Botschaften und NGOs erleichtert, um so die Einhaltung von Rechten und den Schutz der ausländischen Bevölkerung zu verbessern. Dennoch fehlen Strategien und entsprechende Projekte, die eine Integration und Inklusion der ausländischen Bevölkerung und Einwanderer ermöglichen. Die dafür zuständigen Stellen können der großen Nachfrage nicht gerecht werden. Häufig sind den Betroffenen nicht einmal die UICE und die von ihr angebotenen Leistungen und Hilfestellungen bekannt. Deshalb wäre es notwendig, Kampagnen durchzuführen und diese Angebote zu verbreiten. Außerdem sollten weitergehende Dienstleistungen durch andere, lokale Institutionen, wie die Autonomen Dezentralisierten Regierungen (Gobiernos Autónomos Descentralizados), zur Verfügung gestellt werden. Dies würde eine bessere Einschätzung der Bedingungen, unter denen die verschiedenen Ausländer_innen im Land leben und eine verbesserte Betreuung und Schutz erlauben.


Das neue Ausführungsgesetz der »menschlichen Mobilität«

Nach Inkrafttreten der Verfassung von 2008 und der Veränderung des Visaregimes bestand die wichtigste Initiative zur Umsetzung der Verfassungsprinzipien in Ausführungsgesetze darin, einen Gesetzesentwurf für menschliche Mobilität (LOMHU) zu erarbeiten. Im Juli 2015 wurde der Entwurf der Nationalversammlung vorgestellt. Ziel des LOMHU ist es, Gesetze zu Migration, Ausländerrecht, Einbürgerung und Reisebestimmungen, die seit Ende der 1970er Jahre gelten und noch vom Fokus der Sicherheitspolitik aus der Zeit der Militärdiktatur bestimmt waren, zu ersetzen. Zudem sollen mit diesem Gesetz Themen aufgegriffen werden, die bislang nicht von der öffentlichen Politik erfasst wurden, wie etwa die Anerkennung verschiedener Formen von Mobilität, die es im Land gibt, der internationale Schutz, dessen Gewährung bisher grundsätzlich durch Rechtsverordnungen erfolgte, oder die Aufnahme von Menschenhandel und Schlepperei als Migrationsdelikte. Obgleich der Entwurf vor mehr als einem Jahr vorgestellt wurde, ist die erste Debatte des Projekts LOMHU im Plenum der Nationalversammlung noch nicht erfolgt. Auch wenn es zu einigen wichtigen Themen im Rahmen von Empfehlungen von und für Abgeordnete Korrekturen gab, wurde das Datum für die Debatte mehrmals verschoben.

Zu den Aspekten, die einer tiefer gehenden Bearbeitung hinsichtlich der staatlichen Politik bedürfen, gehört, dass -aus migrationspolitischer Perspektive - eine deutliche Unterscheidung zwischen Menschenhandel und der Schlepperei von Migrant_innen getroffen werden müsste. Diese Unterscheidung wird im LOMHU bisher nicht vorgenommen. Dabei ist ein Verständnis dieser Delikte jenseits des strafrechtlichen Aspektes wichtig, das auch Maßnahmen zur Prävention, zum Schutz und zur Wiederherstellung der Rechte der Opfer einschließt. Bezüglich der Einwanderungspolitik ist die Beschränkung für Arbeitsvisa ein weiteres Anliegen. Die Anerkennung von Berufsabschlüssen erlaubte es zahlreichen qualifizierten Kolumbianer_innen, Kubaner_innen und Venezolaner_innen, in Ecuador zu leben und unter anderem als öffentliche Bedienstete sowie als Wissenschaftler_innen Stellen zu besetzen.

Zudem hat es Empfehlungen bezüglich einer objektiven Auffassung der verschiedenen Formen von Gefährdung gegeben, die allgemein ins LOMHU eingeflossen sind - mit dem Ziel, die besonderen Bedürfnisse von Gruppen, die als gefährdet gelten (wie etwa Menschen mit Behinderung, Jungen, Mädchen und Jugendliche, Personen im Rentenalter), sichtbar zu machen und Konzepte für punktuelle und zielgerichtete Maßnahmen zu entwickeln. Weiteres Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen allen Formen der menschlichen Mobilität in Ecuador zu finden und hierfür die Achtung der Menschenrechte zugrunde zu legen. Dies betrifft, wie beim Thema »Einwanderung« bereits angemerkt, auch Aspekte, die nicht notwendigerweise mit nationalen oder regionalen Interessen übereinstimmen.

Abgesehen von der Problematik schwieriger Passagen im Entwurf wächst - angesichts des Fehlens politischer Maßnahmen im Sinne der erklärten Absicht und ohne die Verabschiedung des Gesetzes - die Skepsis. Denn wie schon erwähnt, gilt im Land bis heute das Ausländergesetz aus dem Jahr 1971, und es wird utopischen Vorstellungen Raum gegeben, die sich nicht in konkrete staatliche Politik werden umsetzen lassen. Die Intention der aktuellen Regierung bezüglich der Migrationspolitik und der geltenden Verfassungsgrundlagen war innovativ, was die Ideale der universellen Staatsbürgerschaft und die menschliche Mobilität betraf. In der Praxis existieren jedoch zahlreiche mit den diversen wirtschaftlichen und politischen Interessen verbundene Herausforderungen; diese sind ohne die Verabschiedung von Gesetzen, mit denen die staatliche Politik auf Basis der geltenden Verfassung auch umgesetzt wird, noch schwerer zu bewältigen. Daher kommt den Debatten auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene eine zentrale Rolle zu.

Das Konzept der menschlichen Mobilität ermöglicht die Integration aller Formen von Migration in jedem Land und erfordert eine mehrdimensionale staatliche Politik. Wenn jedoch nationale oder internationale Interessen auf dem Spiel stehen, ist es schwer, das Gleichgewicht zu halten. Auch wenn deutlich geworden ist, welche Schwierigkeiten sich bei der Umsetzung dieses Konzepts in die politische Praxis ergeben: Es ist bemerkenswert, dass das Konzept doch Teil der Verfassungsgrundlage eines so kleinen Landes wie Ecuador - mit seinen sehr aktuellen Transformationsprozessen beim Thema »Migration« - geworden ist.


Anmerkungen

(1) Ramírez Gallegos, Franklin und Jacques Paul Ramírez (2005): La estampida migratoria. Crisis, redes transnacionales y repertorios de acción migratoria. Quito: Centro de Investigaciones Ciudad.

(2) ACNUR (2016): UNHCR in Ecuador.
www.acnur.org/fileadmin/Documentos/RefugiadosAmericas/Ecuador/2016/ACNUR_Ecuador_2016_General_ES_Abril.pdf?view=1 (aufgerufen am 14.12.2016).

(3) Larreátegui, Paulina (2008): La protección humanitaria frente a la ambigüedad del sistema de refugio en Ecuador. In: Fredy Rivera Vélez (Hrsg.): Seguridad multidimensional en América Latina. Quito, Flacso: 81-98.
www.flacsoandes.edu.ec/agora/la-proteccion-humanitaria-frente-la-ambiguedad-del-sistemade-refugio-en-ecuador (aufgerufen am 14.12.2016).

(4) Hayes, Matthew (2013): Una nueva migración económica: el arbitraje geográfico de los jubilados estadounidenses hacia los países andinos. Andina Migrante 15: 2-13.


Über die Autorin

Daniela Célleri forscht und lehrt am Instituto de Altos Estudios Nacionales und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim »Kompetenznetz Lateinamerika - Ethnicity, Citizenship, Belonging« an der Leibniz-Universität Hannover. Zudem ist sie Ko-Vorsitzende der Sektion Internationale Migration der Latin American Studies Association sowie Mitglied der Gruppe für Internationale Migration und Globalisierung der FLACSO Ecuador. Ihre Forschungsgebiete und ihr wissenschaftliches Interesse gelten den Themen »Internationale Migrationsbewegungen«, »soziale Ungleichheit und Ethnizität sowie die Herausbildung des Nationalstaats in Ecuador« und Theorien der Entwicklung in Lateinamerika.


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Über die Publikationsreihe »Migration in (Latein-)Amerika«

Kaum eine andere Region ist historisch und zugleich aktuell so sehr von Migration geprägt wie Amerika. Während im 18. und 19. Jahrhundert die Länder beider amerikanischen Kontinente vor allem für Einwanderer_innen aus Europa hohe Attraktivität besaßen, ist in der Gegenwart die Migrationsbewegung aus Lateinamerika und der Karibik nach Nordamerika dominierend. Die vorliegende Publikationsreihe der FES beleuchtet unterschiedliche Aspekte von Migration in (Latein-)Amerika, zeigt Parallelen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte in Deutschland und Europa auf und zielt darauf ab, Anregungen für die Gestaltung von menschenwürdiger Migration zu geben.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2017

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