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NAHOST/1062: Flüchtlinge - Reiche Golfstaaten halten Grenzen geschlossen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. September 2015

Flüchtlinge: Reiche Golfstaaten halten Grenzen geschlossen

von Thalif Deen


Bild: © Stephen Ryan/IFRC

Flüchtlinge vor dem Registrierungszentrum auf der griechischen Insel Kos wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt
Bild: © Stephen Ryan/IFRC

NEW YORK (IPS) - Während die west- und zentraleuropäischen Länder von den Flüchtlingswellen vor allem aus Syrien, Libyen, Afghanistan und dem Irak überrollt werden, stellt sich die Frage: Warum halten sich einige reiche Golfstaaten mit Hilfsangeboten für die Vertriebenen zurück?

Laut dem UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Arbeitsmigranten wurden aufgrund des fortgesetzten Bürgerkriegs in Syrien Millionen Menschen zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen. "In Anbetracht der Tatsache, dass einige Nachbarländer und vor allem europäische Staaten den Millionen Menschen Tür und Tor öffnen, sollten insbesondere die Golfstaaten mehr zur Bewältigung der schlimmsten Massenvertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg beitragen", so das wichtigste Gremium der Vereinten Nationen zum Schutz von Migranten.

Der unabhängige Demografieexperte und frühere Leiter der UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen, Joseph Chamie, weist darauf hin, dass einige Nachbarstaaten wie Jordanien, der Libanon und die Türkei Massen an Flüchtlingen aufgenommen haben. UN-Zahlen zufolge handelt es sich um mehr als 3,5 Millionen Menschen. Nachbarstaaten wie Israel und die arabischen Golfstaaten hingegen machten keine Anstalten, dem Beispiel zu folgen. Offenbar befürchteten sie, dass von den Flüchtlingen eine destabilisierende Wirkung ausgehe.


Krise von vielen ignoriert

Die Golfstaaten hätten viele Südasiaten und Nordafrikaner ins Land geholt, die nicht als Migranten, sondern als temporär Beschäftigte betrachtet werden, die heimkehren werden. Auch Israel habe viele Flüchtlinge, allesamt Juden, aufgenommen, erläutert Chamie, der ein Vierteljahrhundert lang für die UN als Bevölkerungs- und Migrationsexperte tätig war. Zu den Golfstaaten, die die Flüchtlingskrise quasi ignorierten, gehörten Saudi-Arabien, Bahrain, Oman, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).

Doch in einer Mitteilung vom 8. September wies die Internationale Organisation für Migration (IOM) darauf hin, dass Kuwait unter Führung des Emirs Scheich Sabah Al-Ahmad Al-Jaber Al-Sabah seit 2013 drei alljährlich tagende Geberkonferenzen mit Vertretern von 78 Regierungen und 38 Hilfsorganisationen ausgerichtet habe. Auf den Treffen seien Milliarden US-Dollar an humanitären Hilfe für Syrer zugesagt worden. Allein im laufenden Jahr waren es 3,8 Milliarden Dollar.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat kürzlich erklärt, dass es Israel als kleinem Land an den demografischen und geografischen Möglichkeiten fehle, um die Massen von Flüchtlingen aufzunehmen. Gleichzeitig betonte er, dass man der Flüchtlingstragödie nicht gleichgültig gegenüberstehe.

"Wir haben ungefähr 1.000 Menschen, die im Zuge der Kämpfe in Syrien verletzt wurden, aufgenommen. Und wir haben ihnen geholfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Wir müssen unsere Grenzen in Anbetracht der illegalen Migration und des Terrorismus sichern", fügte er hinzu.

Das acht Millionen Einwohner zählende Land wurde weitgehend von jüdischen Flüchtlingen gegründet. Doch nun baut Israel an der Grenze zu Jordanien eine 29 Kilometer lange Absperrung. "Wir müssen unsere Grenzen sowohl gegen illegale Einwanderer als auch gegen den Terrorismus abschotten", erklärte Netanjahu nach einer Kabinettssitzung in der ersten Septemberwoche.

Für seine Haltung ist er stark von Isaac Herzog, dem Leiter der größten Oppositionspartei Zionistische Union, kritisiert worden. Herzog erinnerte an die historische Judenverfolgung und die verzweifelte Suche des jüdischen Volkes nach einem sicheren Hafen. "Unsere Leute haben selbst erfahren, was das Schweigen der Welt bedeutet. Doch Sie haben vergessen, was Juden waren: Flüchtlinge, Verfolgte."

Wie Herzog weiter erklärte, sollte der Regierungschef des jüdischen Volkes nicht sein Herz und die Pforten verschließen, wenn Menschen mit Säuglingen auf dem Arm in Todesangst vor ihren Verfolgern flöhen.

In einer Mitteilung vom 7. September erklärte der UN-Ausschuss, dass syrische Migranten auf der Suche nach einem sicheren und halbwegs annehmbaren Leben für ihre Familien buchstäblich ihr Leben riskierten, um Europa zu erreichen. "Hunderte Männer, Frauen und Kinder sind bei dem Versuch, das sichere Ufer zu erreichen, gestorben. Das ist nach Ansicht des Ausschusses mit dem Gewissen unvereinbar."

Wie der Ausschussvorsitzende Francisco Carrion Mena nach dem neuerlichen Tod syrischer Migranten vor der türkischen Küste Anfang September erklärte, "sind wir schockiert und bestürzt über den entsetzlichen Verlust von Menschenleben im Mittelmeer".

Chamie zufolge ist es kein Wunder, dass so viele Menschen emigrierten. Angesichts des derzeitigen Zustands der Welt stelle sich vielmehr die Frage, warum es nicht noch mehr seien.

Jeder Mensch habe das Recht, sein Land zu verlassen, nicht aber das Recht, ein anderes zu betreten, so Chamie. Diese Paradoxie sei ein Dilemma, mit dem sich die zunehmende Zahl von Migranten und Zielländern konfrontiert sähen.

Die Zahl der potenziellen Migranten, denen es frei stehe, die Heimat zu verlassen, sei größer als die Nachfrage nach Migranten in den Empfängerländern. Wenn Menschen nicht berechtigt seien, ein anderes Land zu betreten, würden sie dies illegal tun oder aber die Zeit, die sie legal bleiben dürften, überziehen. Dem Experten zufolge hat die Flüchtlingskrise gezeigt, dass der Flüchtlingsansturm zu keinem Zeitpunkt zu stoppen sei und große demographische, soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Änderungen herbeiführen werde.

"Für Europa stellt sich die zentrale Frage: Können die Migranten und ihre Familien erfolgreich in die europäischen Gesellschaften integriert werden?", fragt Chamie. Die wichtigste Herausforderung auf globaler Ebene sei die Bekämpfung der Ursache der Flüchtlingskrise. In der jüngsten Vergangenheit seien die Empfängerländer herzlich wenig bereit gewesen, die globalen Probleme zu lösen. (Ende/IPS/kb/09.09.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/09/rich-gulf-nations-tight-lipped-on-growing-refugee-crisis/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2015

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